# taz.de -- Häftlinge fordern Anrecht auf Telefonate: Dünner Draht in die Au�… | |
> Gefangene sind auf Telefonate angewiesen, um den Kontakt zu ihren | |
> Familien nicht zu verlieren. Bayern erlaubt das nur in „dringenden | |
> Fällen“. | |
Bild: Eine verschlossene Türöffnung an der Tür einer Zelle in der Justizvoll… | |
München taz | Eigentlich hat Adam Kowalski [Name geändert; d. R.] viel | |
Zeit. Sein Leben verläuft gemächlich, die nächsten Jahre sind durchgeplant. | |
Er sitzt [1][im Gefängnis], mindestens bis zum Sommer 2028. | |
Alle zwei Monate aber wird Kowalski hektisch, er muss sich beeilen. Ein:e | |
Vollzugsbeamt:in nimmt ihn mit in ein Telefonzimmer der | |
Justizvollzugsanstalt Straubing. Der ehemalige Büroraum ist karg | |
eingerichtet, an der Wand hängt ein Waschbecken, in der Mitte steht ein | |
Tisch. | |
Auf dem Tastentelefon wählt der Beamte die Nummer von Kowalskis Mutter, | |
aktiviert den Lautsprecher und setzt sich neben ihn. Ab jetzt hat Kowalski | |
20 Minuten Zeit. 20 Minuten, um sich seiner Mutter nahe zu fühlen. 20 | |
Minuten, um seine Abwesenheit in ihrem Leben ansatzweise zu kompensieren. | |
Sein:e Aufpasser:in sitzt neben ihm und hört jedes Wort mit. | |
20 Minuten alle zwei Monate. So lange durften Gefangene der JVA Straubing, | |
die keinen Besuch erhalten, vor Corona mit Verwandten telefonieren. Der | |
Grund für die strikte Telefonpraxis: Artikel 35 des Bayerischen | |
Strafvollzugsgesetzes. Er legt fest, dass Gefangene nur in „dringenden | |
Fällen“ telefonieren dürfen. Gerichte interpretieren das so: Telefoniert | |
werden darf nur, wenn Familienmitglieder sterben oder wenn ohne ein | |
Telefonat wichtige Fristen verpasst würden. | |
## In andern Ländern sind Telefone im Flur standard | |
Laut Gesetz stünden Kowalski also gar keine regelmäßigen Telefonate zu. | |
Doch für Gefangene wie ihn, die nur sehr selten Besuch erhalten, macht die | |
Anstalt eine Ausnahme. 20 Minuten alle zwei Monate darf er mit seiner | |
Mutter telefonieren. | |
Sobald seine Mutter den Hörer abnimmt, ist Kowalski fokussiert. Er will die | |
Leerstelle füllen, die er in seiner Familie hinterlassen hat. Er erkundigt | |
sich nach ihrem Gesundheitszustand, fragt nach seinem Bruder und dessen | |
Kindern, schickt Grüße an seine Neffen und alte Freunde. Er will alles | |
wissen. Doch die Zeit vergeht schnell. Kowalski muss auflegen. | |
Bayern ist das einzige Bundesland, in dem die Telefonate derart strikt | |
gehandhabt werden. Um das zu ändern, haben Kowalski und weitere Gefangene | |
der JVA Straubing die Petition [2][„Isolation ist keine Option!“] | |
initiiert. Sie fordern eine Streichung der Formulierung „in dringenden | |
Fällen“ aus Artikel 35 des Bayerischen Strafvollzugsgesetzes. | |
Sie wollen erreichen, dass Gefangene in bayrischen Gefängnissen | |
selbstbestimmt und regelmäßig mit Verwandten kommunizieren können. In | |
anderen Bundesländern ist das längst gängige Praxis. In Nordrhein-Westfalen | |
etwa gibt es in vielen Anstalten Flurtelefone. So können Gefangene | |
telefonieren, ohne jedes Mal einen Antrag stellen zu müssen. | |
## 5 Stunden Telefonat in dreieinhalb Jahren | |
Über 1.100 Gefangene aus den Anstalten Straubing, Landsberg und Bayreuth | |
haben die Petition bereits unterschrieben. Auf change.org hat sie über | |
25.000 weitere Unterstützer. | |
Die restriktive Telefonpraxis isoliert Kowalski besonders. Im Gegensatz zu | |
anderen Gefangenen erhält er nur sehr selten Besuch. Seine Familie wohnt | |
mehrere hundert Kilometer entfernt, verfügt nur über begrenzte finanzielle | |
Mittel. Um eine Stunde bei ihm zu sein, müsste seine Mutter acht Stunden | |
Zug fahren. So kommt es, dass Kowalski seine Mutter in dreieinhalb Jahren | |
nur insgesamt 8 Stunden gesehen hat. Telefoniert haben sie im selben | |
Zeitraum insgesamt 320 Minuten. Das sind etwas über 5 Stunden Telefonzeit, | |
aufgeteilt auf dreieinhalb Jahre. | |
Wie strikt die JVA Straubing bei Telefonaten ist, zeigt sich auch während | |
dieser Recherche. Da die Anstalt Telefonate von Gefangenen mit | |
Journalist*innen ablehnt, wurde dieser Artikel über mehrfache | |
Briefwechsel recherchiert. | |
Kowalski schreibt, dass ihn der mangelnde Kontakt zu seiner Familie stark | |
belaste. Durch Briefe kriege er mit, wie ihr Leben weiterlaufe, wie sich | |
bei ihnen alles verändere. Wenn er ihre Stimme hören könne, versuche er so | |
viel wie möglich an Information und Austausch in diese Gespräche zu packen. | |
Aber durch den enormen Zeitdruck bleibe bei den Gesprächen „die | |
Vertrautheit und Menschlichkeit auf der Strecke“. Durch die mit im Raum | |
sitzende Beamtin:in werde es unmöglich, ein intimes Gespräch zu führen. | |
## Fluchtgefahr durch Telefonate? | |
Kowalskis Beziehung ist bereits vor Jahren zerbrochen. Briefe und einmal im | |
Monat Besuch haben nicht gereicht. Wenn er seiner Partnerin an einem | |
schweren Tag nicht einmal mit seiner Stimme zur Seite stehen könne, sei es | |
„die logische Konsequenz“, dass sie sich einen Partner suche, „der | |
verfügbarer ist“, schreibt Kowalski. | |
Das Paradoxe an der Situation: Damit Kowalski 2028 entlassen werden kann, | |
braucht er ein stabiles soziales Umfeld. Je stärker sein „sozialer | |
Empfangsraum“, desto niedriger sein Rückfallrisiko und desto größer seine | |
Chancen auf vorzeitige Entlassung. Durch die Telefonregelung fällt es ihm | |
aber immer schwerer, den Kontakt zu seiner Familie zu halten. Wenn er | |
weiterhin so isoliert werde, sei er sich nicht sicher, welche Beziehungen | |
ihm in sieben Jahren noch bleiben, so Kowalski. | |
Verteidiger der strikten Telefonregeln führen dagegen Sicherheitsbedenken | |
an, wie der bayrische Staatsminister für Justiz jüngst im Landtag betonte. | |
Es bestehe die Gefahr, dass Gefangene über Telefonate aus dem Gefängnis | |
heraus ihre Flucht planten oder Opfer bedrohten. Es fehlten personelle | |
Ressourcen, um zusätzliche Telefonate der Gefangenen zu überwachen. | |
Beide Argumente will Kowalski nicht gelten lassen. Der Blick in andere | |
Bundesländer zeige deutlich, dass großzügigere Telefonregeln nicht zu | |
Straftaten führen. Und die Personalprobleme ließen sich lösen, wenn für die | |
Überwachung der Telefonate eine technische Lösung gefunden würde und sich | |
nicht bei jedem Telefonat ein:e Beamt:in mit zu ihm ans Telefon setzen | |
müsste. | |
Derzeit ist die Lage in der JVA Straubing besser als vor der Pandemie. 40 | |
Minuten Telefonzeit im Monat, bis zu sechs Stunden Videotelefonie und eine | |
Stunde Besuch sind möglich. Doch sobald die Pandemie vorbei ist und | |
Gefangene wieder mehr Besuch empfangen können, sollen wieder die vorherigen | |
Regeln gelten. Die gegenwärtige Gesetzeslage erlaube keine Beibehaltung der | |
erweiterten Telefonzeiten, schreibt der Anstaltsleiter. | |
Für Kowalski ist damit klar: Er muss weitermachen. Ende letzten Jahres hat | |
er die Petition an den Landtagsabgeordneten Toni Schuberl (Grüne) | |
übergeben. Der will jetzt für eine Gesetzesänderung kämpfen. Sollte die | |
Initiative irgendwann Erfolg haben, will Adam Kowalski als Erstes seine | |
Mutter anrufen. Einfach nur, um ihr zu sagen, dass er morgen wieder anrufen | |
wird. | |
21 May 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Gefaengnisse-in-der-Coronakrise/!5720560 | |
[2] https://www.change.org/p/justizministerium-des-freistaats-bayern-isolation-… | |
## AUTOREN | |
Mitsuo Iwamoto | |
## TAGS | |
Gefängnis | |
Telefon | |
Häftlinge | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
JVA | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
deutsche Justiz | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Urteil zu Gefangenenvergütung: Was Häftlinge verdienen | |
Ist es angemessen, für einen Stundenlohn von 1,78 Euro arbeiten zu müssen? | |
Am Dienstag entscheidet Karlsruhe über eine Klage von Häftlingen. | |
Corona-Ausbruch im Knast in Hannover: Schutz ist hinter Gittern teuer | |
Im Gefängnis in Hannover gibt es 15 Corona-Fälle. Überteuerte Schutzmasken | |
mussten Gefangene bisher von ihrem kargen Lohn selbst bezahlen. | |
Gefängnis für Jugendliche: Amin ist wieder da | |
Unser Autor arbeitete als Abteilungsleiter in der JVA Adelsheim. Immer | |
wieder begegnete ihm dort Amin. Kann jungen Männern so geholfen werden? | |
Gefängnisse in der Coronakrise: Eingesperrt und isoliert | |
Der Lockdown traf Inhaftierte in deutschen Justizvollzugsanstalten | |
besonders hart. Droht jetzt die erneute Isolation? | |
Corona im Gefängnis: Handys wieder Schmuggelware | |
Die Gefangenen in Hamburger Haftanstalten mussten am Mittwoch wieder ihre | |
Handys abgeben. Für manche bedeutet es den Abbruch der Sozialkontakte. |