# taz.de -- Urteil zu Gefangenenvergütung: Was Häftlinge verdienen | |
> Ist es angemessen, für einen Stundenlohn von 1,78 Euro arbeiten zu | |
> müssen? Am Dienstag entscheidet Karlsruhe über eine Klage von Häftlingen. | |
Bild: Schreinerei in der Justizvollzugsanstalt Sehnde bei Hannover | |
Straubing taz | Der Besuchsraum in der Justizvollzugsanstalt Straubing ist | |
gelb gestrichen. Ein heller Tisch, zwei Stühle. Das Aprilwetter draußen ist | |
nicht zu sehen: Der Raum liegt im Keller, er hat kein Fenster, dafür aber | |
zwei Türen. Durch die eine kommt der Besuch durch die andere, | |
gegenüberliegende, der Gefangene: Peter R., Glatze, hellgraues Sweatshirt | |
und Jeans, trägt eine schwarz umrandete Lesebrille. Er legt einen dicken | |
Ordner auf den Tisch. Darin ist der gesamte Schriftverkehr zu seinem | |
Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht: Anwaltsschreiben, | |
Stellungnahmen. | |
Am 20. Juni will das Bundesverfassungsgericht sein Urteil zur | |
Gefangenenentlohnung verkünden. R., dessen Namen wir seinem Wunsch | |
entsprechend abkürzen, ist seit 26 Jahren Strafgefangener in der JVA | |
Straubing. 2015 hatte er gegen die niedrige Entlohnung beim Arbeitseinsatz | |
in den Gefängnissen geklagt. Das Bundesverfassungsgericht nahm seine Klage | |
an, [1][verhandelte aber erst im April 2022 zum Thema]. Noch einmal mehr | |
als ein Jahr später ist nun das Urteil fällig. R. hat schon einige | |
Rechtsstreitigkeiten vor das Bundesverfassungsgericht gebracht, mehrere | |
auch gewonnen. Noch nie habe das Gericht so lange für eine Entscheidung | |
gebraucht, beklagt er. | |
Der lange Zeitraum zwischen Annahme der Klage und der Urteilsverkündung am | |
Dienstag hat aber wohl auch damit zu tun, dass ein möglicher Erfolg der | |
Klage – neben R. hat noch ein Strafgefangener aus NRW geklagt – sehr | |
weitreichende Auswirkungen haben würde: Es müssten die Löhne aller rund | |
42.000 Strafgefangener in Deutschland angehoben werden. | |
R., heute 62 Jahre alt, wird 1997 nach einem Gewaltverbrechen zu | |
lebenslanger Haft verurteilt und landet im Gefängnis in Straubing. Ob er | |
arbeiten will oder nicht, wird er nicht gefragt. Im Gefängnis ist Arbeit | |
Pflicht. Das Grundgesetz erlaubt Zwangsarbeit für Gefangene (siehe | |
Infokasten). | |
## Viele Aufgaben sind körperlich anstrengend | |
Jobs gibt es viele: Die Gefangenen waschen, putzen und schrubben die Böden. | |
Oder sie arbeiten in einem gefängniseigenen Betrieb: Schreinerei, | |
Schlosserei, Polsterei. Auch externe Unternehmen lassen im Gefängnis | |
arbeiten. Innerhalb der Mauern stehen große Fabrikhallen, die Häftlinge | |
müssen nur wenige Schritte gehen. Die meisten Aufgaben sind einfach, viele | |
körperlich anstrengend. Schrauben sortieren, lange und schwere Seekabel | |
auseinandernehmen, um sie zu recyclen. Herausfordernder sind Jobs, bei | |
denen Einzelteile für Maschinen hergestellt werden. Da heißt es fräsen, | |
schweißen – Präzisionsarbeit. | |
Dafür bekommen die Gefangenen durchschnittlich 14,21 Euro pro Tag. Gering | |
qualifizierte Arbeiten werden in Bayern mit 1,33 Euro pro Stunde vergütet. | |
Die bestbezahlten Jobs, beispielsweise in der Schreinerei, bringen 2,22 | |
Euro pro Stunde ein. Die Sätze sind in den Strafvollzugsgesetzen der | |
Bundesländer festgeschrieben. Sie sind auf neun Prozent des | |
Durchschnittsverdiensts der regulären Beschäftigten außerhalb der | |
Gefängnismauern festgelegt. Man spricht vom sogenannten Ecklohn (siehe | |
Infokasten). | |
Tariflohn, Mindestlohn, Branchenmindestlohn – das gilt für Gefangene nicht. | |
[2][Arbeit in Haft gilt nicht als Arbeit im klassischen Sinne]. Regelmäßig | |
führen Politik und Gericht an, Arbeit sei ein Mittel der Resozialisierung. | |
Gesetzlich festgeschrieben ist das aber nirgends; geregelt ist nur die Höhe | |
der Vergütung. | |
R.s erster Job ist bei einer Fremdfirma namens MTU. Die Gefangenen stellen | |
Teile her, die für Turbinen gebraucht werden. Anlernen musste man R. kaum. | |
Nach der Schule hatte er Kfz-Mechaniker gelernt. Schweißen und montieren, | |
das kann er. R. stellt Laufscheiben her, 80 Zentimeter Durchmesser, mit den | |
Händen zeigt er den ungefähren Umfang. Die Halle, so erinnert sich R., ist | |
etwa 50 mal 20 Meter groß. Darin stehen rund 20 Maschinen, an denen bis zu | |
130 Männer arbeiteten. | |
1998, R. war gerade mal ein Jahr im Gefängnis, wurde der Grundstein für | |
seine spätere Klage gelegt: Das Bundesverfassungsgericht urteilte damals | |
schon einmal zur Gefangenenentlohnung. Die betrug seit 1977 fünf Prozent | |
des sogenannten Ecklohns. Das Gericht entschied, dass die Arbeitspflicht | |
grundsätzlich mit dem Grundgesetz vereinbar sei. Allerdings erfordere das | |
sogenannte Resozialisierungsgebot eine „angemessene Anerkennung“ von | |
Gefangenenarbeit. Die fünf Prozent reichten dafür nicht. | |
## Die Sätze sind trotz Erhöhung zu gering | |
Der Bund – der damals noch die Gesetzgebungskompetenz für den Bereich | |
Justiz innehatte – war damit gerichtlich angehalten, die Löhne zu erhöhen. | |
Eine konkrete Zahl nannte das Bundesverfassungsgericht aber nicht. Der Bund | |
legte also fest, dass ab 2001 neun Prozent des Ecklohns gezahlt werden | |
müssen. Außerdem führte er Freistellungstage ein, die Gefangene entweder | |
als Hafturlaub nehmen oder um die sie früher entlassen werden können. | |
Gegen diese Neuregelung legt ein Strafgefangener noch 2001 Beschwerde ein; | |
er hält die Sätze weiterhin für zu gering. Doch das | |
Bundesverfassungsgericht weist die Klage zurück. Die Neuregelung sei „nicht | |
unangemessen“ und „derzeit noch vertretbar“. R. nimmt den Vorgang wahr. U… | |
er merkt sich die Formulierung. | |
Im gleichen Jahr wechselt R. zum ersten Mal den Job. „Ich mochte den Lärm | |
und den Schmutz und die irre Lautstärke nicht mehr. [3][Selbst mit | |
Gehörschutz war das schwer auszuhalten]“, erzählt R. im Besuchsraum der JVA | |
Straubing. Er rollt das „R“ in schönstem Bayrisch, zieht die „A“s zu �… | |
bemüht sich, deutlich zu sprechen. | |
Durch „Vitamin B“ – seinen Vorgänger kannte er vom gemeinsamen | |
Schachspielen – wechselt R. in einen ganz anderen Bereich. Er wird | |
Schulschreiber, als solcher verfasst er in Absprache mit der JVA-Leitung | |
Aushänge und wird Redakteur einer Schachzeitung. Nach drei Jahren wieder | |
ein Wechsel: Nun fräst er für den gefängniseigenen Betrieb EDV-Möbel Holz | |
für Tische, Stühle und Schränke, die in Gerichten und Gefängnissen | |
aufgestellt werden. Auch hier bleibt er drei Jahre. Mittlerweile ist es | |
2007, R. sitzt seit zehn Jahren ein. Von da an arbeitet er nur noch | |
sporadisch. | |
## Mal einen Joghurt oder Apfel kaufen | |
Trotz der Arbeitspflicht geht das. In der JVA Straubing gibt es rund 800 | |
Inhaftierte, aber nur 570 Arbeitsplätze. Wer sich also nicht aktiv um | |
Arbeit bemüht, wird nicht unbedingt herangezogen. Dennoch wollen die | |
meisten Gefangenen arbeiten. In Straubing, genauso wie in den vier | |
Bundesländern Sachsen, Brandenburg, Rheinland-Pfalz und Saarland, in denen | |
Arbeit seit 2013 keine Pflicht mehr ist. Warum? Um sich zu beschäftigen, | |
mal aus der Zelle rauszukommen, auch wenn es nur die wenigen Schritte zur | |
Fabrikhalle sind. | |
Und weil es für die meisten die einzige Möglichkeit ist, an Geld zu kommen. | |
So können sie im Knastladen Tabak, Süßigkeiten oder mal einen Joghurt oder | |
Apfel kaufen. Beim Anstaltskaufmann, [4][in fast allen JVAen in Deutschland | |
ist das die Firma Massak aus Bamberg], können die Insassen Brot, Margarine | |
und Käse kaufen. Doch das ist teuer, und durch die Energiekrise und | |
Inflation nach dem russischen Angriffskrieg haben die Preise eher nochmal | |
angezogen. | |
Wichtiger ist aber ein anderes Thema. „So gut wie alle Gefangenen haben | |
Schulden“, sagt R. Die meisten basieren auf den Kosten der | |
Gerichtsprozesse, aus denen sie als Beschuldigte hervorgegangen sind: zum | |
Beispiel für Anwaltskosten und Entschädigungszahlungen für Opfer. R. selbst | |
kam mit knapp über hunderttausend D-Mark Miese in den Knast. | |
2013, R. ist seit 16 Jahren im Gefängnis, wird R. schließlich mal wieder | |
einer Arbeit zugewiesen, dieses Mal in der Wäscherei. Vom Lohn einer | |
Arbeitsstunde kann er sich gerade mal eine Packung Salami beim | |
Anstaltskaufmann leisten. Im Hinterkopf hat er noch den Satz des | |
Bundesverfassungsgerichts von 2001 zur Erhöhung der Gefangenenentlohnung: | |
„Die Entscheidung des Gesetzgebers erweist sich als derzeit noch | |
vertretbar.“ Im gleichen Schriftsatz nannte das Gericht die Erhöhung von | |
fünf auf neun Prozent als „noch verfassungsgemäß“. Noch. | |
Und jetzt, 15 Jahre später? Für R. ist das Wörtchen „noch“ eine Einladun… | |
Er hat mittlerweile mehrere Verfahren gewonnen, zu ganz unterschiedlichen | |
Themen, auch vor dem Bundesverfassungsgericht und dem Europäischen | |
Gerichtshof für Menschenrechte. Der Freistaat Bayern musste R. zuletzt | |
12.000 Euro Entschädigung wegen unzulässiger Durchsuchungen zahlen. | |
## Die wenigsten Anträge führen zum Erfolg | |
Durch den Fall hat er gelernt, dass die Anstalt, dass der Gesetzgeber, | |
Unrecht haben können und dass er gewinnen kann. Er sagt sich: „Wenn der | |
Lohn vor 15 Jahren ‚noch verfassungsgemäß‘ war und seitdem nicht erhöht | |
wurde, dann ist er heute sicher nicht mehr verfassungsgemäß.“ Und, so | |
erinnert er sich bei dem Treffen im Besuchsraum der JVA Straubing: „Dann | |
habe ich einen 109er geschrieben.“ | |
Gefangene können, wenn sie ein Gespräch mit dem Abteilungsleiter, dem | |
Gefängnisseelsorger oder der Ärztin bekommen möchten, wenn sie Papier haben | |
wollen, neue Seife brauchen oder an einem Gruppenangebot teilnehmen | |
möchten, einen sogenannten Vormelder schreiben: eine Art Antrag an die | |
Anstaltsleitung. Wenn sie mit dem Ergebnis unzufrieden sind, dann können | |
sie einen „Antrag auf gerichtliche Entscheidung“ stellen, einen sogenannten | |
109er. Das bezieht sich auf Paragraf 109 im Strafvollzugsgesetz. Damit | |
können Gefangene beantragen, dass ein Gericht die Anstaltsleitung zu einem | |
bestimmten Verhalten verpflichtet. Die wenigsten Gefangenen machen davon | |
Gebrauch. Und die wenigsten Anträge führen zum Erfolg. | |
Einen 109er können Gefangene nur zu einem Vorgang schreiben, von dem sie | |
selbst betroffen sind. R. wurde nach 2007 noch zweimal eine Tätigkeit | |
zugewiesen, jeweils für kurze Zeit. „Das war im Grunde genommen gut, denn | |
nur durch die Zuweisung einer Beschäftigung war ich betroffen, und nur als | |
Betroffener – weil ich gearbeitet habe – konnte ich Verfassungsbeschwerde | |
einlegen“, sagt R. „Andernfalls hätte es diese Beschwerde nie gegeben.“ | |
R. schreibt am 18. Juni 2013 also einen 109er und beschwert sich damit vor | |
dem zuständigen Landgericht Regensburg über die Entlohnung in der JVA | |
Straubing. Das Gericht weist die Klage ab; R. wendet sich ans | |
Oberlandesgericht in Nürnberg. Auch das lehnt die Klage ab. Die Entlohnung | |
sei rechtmäßig. Für R. verstößt sie gegen das Grundgesetz. Wie soll der | |
Gefängnisaufenthalt der Resozialisierung dienen, wenn man so wenig | |
verdient, dass man auch bei Entlassung noch in Schulden ertrinkt? Er wendet | |
sich ans Bundesverfassungsgericht. | |
Auch das lehnt R.s Klage ab – ohne Begründung. R. hält es für Willkür. Zw… | |
Jahre später wird er noch einmal einer Arbeit zugewiesen. Er schreibt | |
wieder einen 109er wegen der niedrigen Entlohnung. Sein Antrag geht den | |
bereits bekannten Weg. Doch jetzt ist der Ausgang ein anderer. | |
Am 11. November 2016 erhält R. Antwort vom damaligen Chef des | |
Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, sie liegt der taz vor. Der | |
schreibt: „Ihre Verfassungsbeschwerde habe ich dem Bayerischen | |
Staatsministerium der Justiz, dem Bayerischen Landtag, allen | |
Länderregierungen, dem Bundestag, dem Bundesrat und der Bundesregierung | |
(dem Bundeskanzleramt, dem Bundesministerium des Inneren und dem | |
Bundesministerium der Justiz und Verbraucherschutz) sowie dem | |
Bundesarbeits- und Bundessozialgericht zugeleitet und Gelegenheit zur | |
Stellungnahme bis zum 31. März 2017 gegeben.“ Voßkuhle listet noch weitere | |
Institutionen auf, die sich äußern sollen: [5][Gewerkschaften], | |
Arbeitgeberverbände, Rentenversicherung, Anstaltsleitungen und | |
Gefangenenhilfsorganisationen. | |
## Erstmal passiert lange gar nichts | |
„Die Klage wurde spektakulär angenommen“, sagt R. im Straubinger | |
Besuchsraum. „Ich war selbst ein wenig überrascht. Da kriegt also irgendein | |
Knacki vom Verfassungsgericht dieses Schreiben mit dieser grandiosen | |
Aufzählung – das fand ich schon beeindruckend, so ein Schriftstück zu | |
bekommen.“ R. spricht schnell und aufgeregt, ganz so, als erlebe er alles | |
noch einmal. Er blättert in seinem Ordner und sucht die Stellungnahmen | |
heraus, die nach und nach eingetrudelt sind. | |
Nachdem er die erhalten hat, passiert erst einmal lange nichts. Erst 2022 | |
setzt das Bundesverfassungsgericht eine Verhandlung zum Thema an. Es | |
bezieht sich neben der Beschwerde von R. auf die zweier weiterer | |
Gefangener, einer aus Nordrhein-Westfalen, der andere aus Sachsen-Anhalt. | |
Letzterer zieht seine Beschwerde noch vor Beginn der Verhandlung zurück. | |
Mehr als ein Dutzend Sachverständige werden geladen, darunter | |
Anstaltsleiter*innen, Kriminolog*innen, Vertreter*innen der | |
Justizministerien der Länder, in denen die Kläger inhaftiert sind, sowie | |
der Sprecher der Gefangenengewerkschaft GG/BO. | |
Die Kläger sind bei der Verhandlung nicht anwesend. Das Gericht hat sie | |
nicht offiziell geladen. R. will dennoch nach Karlsruhe fahren, doch die | |
JVA Straubing lässt ihn nicht gehen. Als seine Prozessbevollmächtigte sitzt | |
stattdessen die Juristin Christine Graebsch im Gericht. Bis dahin hatte R. | |
das Verfahren selbst geführt. Im Bundesverfassungsgericht ist eine | |
rechtliche Vertretung aber vorgeschrieben. | |
Das Gericht verhandelt am 27. und 28. April 2022. „Allein dadurch, dass | |
zwei Tage für die Verhandlung angesetzt wurden, wurde sehr deutlich, dass | |
das Bundesverfassungsgericht das Thema ernst nimmt“, sagt Graebsch der taz | |
am Telefon. Auch das Medieninteresse ist groß. In der Verhandlung habe sich | |
gezeigt, dass die acht Richter*innen sich „ernsthaft Gedanken“ gemacht | |
hätten, ohne sich in die eine oder andere Richtung festzulegen. | |
Die taz schreibt über die Verhandlung, die Vertreter der Länder Bayern und | |
NRW hätten „die Mickerlöhne“ verteidigt: Die Produktivität von | |
Strafgefangenen liege im Schnitt nur bei 15 bis 20 Prozent normaler | |
Beschäftigter. Ihre Qualifikation sei gering; [6][viele Insassen hätten | |
Suchtprobleme und psychische Krankheiten]. Zudem hätten die Gefangenen | |
schließlich keine Ausgaben für Unterkunft und Verpflegung. Aus Bayern hieß | |
es: „Wir verdienen nichts an der Arbeit der Strafgefangenen. Im Gegenteil. | |
Die Einnahmen aus der Arbeit im Gefängnis decken nur 7 Prozent der Kosten | |
des Strafvollzugs.“ | |
Manuel Matzke von der Gefangenengewerkschaft GG/BO, der selbst einmal | |
inhaftiert war, sagt der taz später am Telefon: „Ich kenne keinen | |
Gefangenen, der zufrieden ist mit der Bezahlung.“ Er spricht von | |
„Ausbeutung“. Externe Unternehmen nutzten Gefängnisse als „verlängerte | |
Werkbank“. Für sie seien Haftanstalten „Billiglohninseln“, sie | |
beschäftigten dort eine „industrielle Gewerbearmee“, für deren Löhne sie | |
nicht einmal Sozialabgaben zahlen müssten. Das Recherchenetzwerk Correctiv | |
veröffentlichte 2021 eine Liste von rund 90 Unternehmen, die in | |
Gefängnissen produzieren lassen. Correctiv listet Autobauer wie VW auf, | |
aber auch die Kinderbadespaß-Firma Tinti und die Rügener Insel-Brauerei. | |
## Ehrliche Arbeit wird nicht ausbezahlt | |
Arbeit im Gefängnis gilt nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von | |
1998 nur dann als Resozialisierungsmaßnahme, wenn die Gefangenen dadurch | |
„angemessene Anerkennung“ finden. Der Gefangene müsse „den Wert | |
regelmäßiger Arbeit für ein künftiges eigenverantwortetes und straffreies | |
Leben in Gestalt eines für ihn greifbaren Vorteils“ sehen. Kann er oder sie | |
das bei einem Stundenlohn von 1,78 Euro sehen? | |
Für Matzke ist klar: „Die Vergütung zeigt, dass sich ehrliche Arbeit nicht | |
ausbezahlt.“ Die GG/BO fordert den gesetzlichen Mindestlohn für Gefangene | |
und die Anerkennung als ganz normale Arbeit. Außerdem will sie ein Ende der | |
Arbeitspflicht. Die Gefangenen sollen selbst entscheiden können, wie sie | |
ihre Lebenszeit verbringen wollen. Zu einer erfolgreichen Resozialisierung | |
gehöre es, Eigenständigkeit zu fördern. | |
„Dafür muss man aus intrinsischer Motivation heraus arbeiten, nicht | |
aufgrund von Zwang“, sagt Matzke. Er kritisiert darüber hinaus, dass | |
Gefangene nach der Entlassung zwar ein Anrecht auf Arbeitslosengeld haben, | |
sie mit ihrer Arbeit im Gefängnis aber nicht in die Rentenkasse einzahlen | |
können. So sei [7][Altersarmut vorprogrammiert]. | |
Für Graebsch zeigt das auch, „dass Arbeit im Vollzug mit Resozialisierung | |
nichts zu tun hat, wenn ich jahrzehntelang arbeite, und ich komme raus und | |
mir geht es schlechter als vorher“. Also müssten Gefangene Rentenansprüche | |
sammeln können – und mehr verdienen. „Es gibt kein | |
Resozialisierungskonzept, das so eine niedrige Entlohnung vorsieht.“ | |
Damit Arbeit tatsächlich als Resozialisierungsmaßnahme funktioniert, müsse | |
es zudem andere Angebote geben und Gefangene müssten wählen können, was sie | |
arbeiten. „Es ist nicht egal, was man arbeitet. Im Vollzug gibt es fast nur | |
Jobs, die überhaupt keinen Nutzen für das Leben danach haben. | |
Kugelschreiber zusammenstecken bringt überhaupt nichts.“ Dabei würden | |
Menschen seltener rückfällig, wenn sie einen sinnerfüllten Job ausüben. | |
Graebsch fordert außerdem, dass es für die Strafgefangenen mehr | |
Ausbildungs- und Studienmöglichkeiten gibt und die Gelegenheit, | |
Schulabschlüsse zu machen. | |
Am Dienstag soll nun das Urteil des Bundesverfassungsgerichts fallen. Die | |
zwei Verhandlungstage im April 2022 haben keine Hinweise gegeben, wie die | |
Entscheidung der Richter*innen ausfallen wird. Auch ein Jahr später ist | |
keine Tendenz erkennbar. „Das ist wie ein Blick in die Glaskugel“, sagt | |
Manuel Matzke. Dass das Gericht eine Reform fordern wird, hält Matzke | |
allerdings für sicher. Auch die Juristin Graebsch sagt: „Die | |
Wahrscheinlichkeit einer irgendwie positiven Entscheidung ist hoch, aber | |
völlig unklar ist, in welche Richtung diese gehen wird.“ | |
## Haftkosten zahlen, aber dafür höheren Lohn | |
Möglich wäre, dass das Bundesverfassungsgericht sich am österreichischen | |
Modell orientiert. Dort bekommen Inhaftierte einen höheren Lohn, müssen | |
davon aber einen Teil der Haftkosten zahlen. Für Graebsch, die auch | |
Professorin an der Fachhochschule Dortmund ist, entspricht das dem Prinzip | |
„rechte Tasche, linke Tasche“. Sie sagt: „Ein winziges bisschen besser ist | |
es mit Sicherheit, wenn man mehr verdient und dadurch mehr Anerkennung | |
erhält und individueller entscheiden kann, was man davon bezahlen möchte.“ | |
Aber letzten Endes sei „das alles keine echte Veränderung, wenn nicht am | |
Ende wesentlich mehr Geld bleibt als jetzt“. | |
R. hat jedenfalls eine klare Vorstellung davon, wie das Urteil ausfallen | |
soll. Er will eine „deutliche“ Erhöhung von bisher neun Prozent des | |
Ecklohns auf 15 Prozent – also etwa zwei Drittel mehr als jetzt. Das wären | |
statt des bisherigen Durchschnittslohns von rund 14 Euro am Tag künftig | |
23,30 Euro. Mehr, aber immer noch wenig. | |
Warum er nicht mehr fordert, 30, 40 oder gar 50 Prozent des Ecklohns? „Das | |
ist völlig unrealistisch“, sagt R. Allein bei einer Erhöhung von 9 auf 15 | |
Prozent gehe es um mehrere Millionen Euro: „Das sind keine Peanuts.“ R. hat | |
noch eine zweite Forderung. „Ich habe beantragt, die Gefangenenentlohnung | |
rückwirkend zum 29. September 2015 zu erhöhen.“ Das wären noch einmal | |
mehrere Millionen Euro mehr. | |
Ob die Richter der Forderung nachkommen werden? Wenn nicht, will R. | |
weiterkämpfen – und vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte | |
ziehen. | |
19 Jun 2023 | |
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