Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Urteil zu Gefangenenvergütung: Was Häftlinge verdienen
> Ist es angemessen, für einen Stundenlohn von 1,78 Euro arbeiten zu
> müssen? Am Dienstag entscheidet Karlsruhe über eine Klage von Häftlingen.
Bild: Schreinerei in der Justizvollzugsanstalt Sehnde bei Hannover
Straubing taz | Der Besuchsraum in der Justizvollzugsanstalt Straubing ist
gelb gestrichen. Ein heller Tisch, zwei Stühle. Das Aprilwetter draußen ist
nicht zu sehen: Der Raum liegt im Keller, er hat kein Fenster, dafür aber
zwei Türen. Durch die eine kommt der Besuch durch die andere,
gegenüberliegende, der Gefangene: Peter R., Glatze, hellgraues Sweatshirt
und Jeans, trägt eine schwarz umrandete Lesebrille. Er legt einen dicken
Ordner auf den Tisch. Darin ist der gesamte Schriftverkehr zu seinem
Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht: Anwaltsschreiben,
Stellungnahmen.
Am 20. Juni will das Bundesverfassungsgericht sein Urteil zur
Gefangenenentlohnung verkünden. R., dessen Namen wir seinem Wunsch
entsprechend abkürzen, ist seit 26 Jahren Strafgefangener in der JVA
Straubing. 2015 hatte er gegen die niedrige Entlohnung beim Arbeitseinsatz
in den Gefängnissen geklagt. Das Bundesverfassungsgericht nahm seine Klage
an, [1][verhandelte aber erst im April 2022 zum Thema]. Noch einmal mehr
als ein Jahr später ist nun das Urteil fällig. R. hat schon einige
Rechtsstreitigkeiten vor das Bundesverfassungsgericht gebracht, mehrere
auch gewonnen. Noch nie habe das Gericht so lange für eine Entscheidung
gebraucht, beklagt er.
Der lange Zeitraum zwischen Annahme der Klage und der Urteilsverkündung am
Dienstag hat aber wohl auch damit zu tun, dass ein möglicher Erfolg der
Klage – neben R. hat noch ein Strafgefangener aus NRW geklagt – sehr
weitreichende Auswirkungen haben würde: Es müssten die Löhne aller rund
42.000 Strafgefangener in Deutschland angehoben werden.
R., heute 62 Jahre alt, wird 1997 nach einem Gewaltverbrechen zu
lebenslanger Haft verurteilt und landet im Gefängnis in Straubing. Ob er
arbeiten will oder nicht, wird er nicht gefragt. Im Gefängnis ist Arbeit
Pflicht. Das Grundgesetz erlaubt Zwangsarbeit für Gefangene (siehe
Infokasten).
## Viele Aufgaben sind körperlich anstrengend
Jobs gibt es viele: Die Gefangenen waschen, putzen und schrubben die Böden.
Oder sie arbeiten in einem gefängniseigenen Betrieb: Schreinerei,
Schlosserei, Polsterei. Auch externe Unternehmen lassen im Gefängnis
arbeiten. Innerhalb der Mauern stehen große Fabrikhallen, die Häftlinge
müssen nur wenige Schritte gehen. Die meisten Aufgaben sind einfach, viele
körperlich anstrengend. Schrauben sortieren, lange und schwere Seekabel
auseinandernehmen, um sie zu recyclen. Herausfordernder sind Jobs, bei
denen Einzelteile für Maschinen hergestellt werden. Da heißt es fräsen,
schweißen – Präzisionsarbeit.
Dafür bekommen die Gefangenen durchschnittlich 14,21 Euro pro Tag. Gering
qualifizierte Arbeiten werden in Bayern mit 1,33 Euro pro Stunde vergütet.
Die bestbezahlten Jobs, beispielsweise in der Schreinerei, bringen 2,22
Euro pro Stunde ein. Die Sätze sind in den Strafvollzugsgesetzen der
Bundesländer festgeschrieben. Sie sind auf neun Prozent des
Durchschnittsverdiensts der regulären Beschäftigten außerhalb der
Gefängnismauern festgelegt. Man spricht vom sogenannten Ecklohn (siehe
Infokasten).
Tariflohn, Mindestlohn, Branchenmindestlohn – das gilt für Gefangene nicht.
[2][Arbeit in Haft gilt nicht als Arbeit im klassischen Sinne]. Regelmäßig
führen Politik und Gericht an, Arbeit sei ein Mittel der Resozialisierung.
Gesetzlich festgeschrieben ist das aber nirgends; geregelt ist nur die Höhe
der Vergütung.
R.s erster Job ist bei einer Fremdfirma namens MTU. Die Gefangenen stellen
Teile her, die für Turbinen gebraucht werden. Anlernen musste man R. kaum.
Nach der Schule hatte er Kfz-Mechaniker gelernt. Schweißen und montieren,
das kann er. R. stellt Laufscheiben her, 80 Zentimeter Durchmesser, mit den
Händen zeigt er den ungefähren Umfang. Die Halle, so erinnert sich R., ist
etwa 50 mal 20 Meter groß. Darin stehen rund 20 Maschinen, an denen bis zu
130 Männer arbeiteten.
1998, R. war gerade mal ein Jahr im Gefängnis, wurde der Grundstein für
seine spätere Klage gelegt: Das Bundesverfassungsgericht urteilte damals
schon einmal zur Gefangenenentlohnung. Die betrug seit 1977 fünf Prozent
des sogenannten Ecklohns. Das Gericht entschied, dass die Arbeitspflicht
grundsätzlich mit dem Grundgesetz vereinbar sei. Allerdings erfordere das
sogenannte Resozialisierungsgebot eine „angemessene Anerkennung“ von
Gefangenenarbeit. Die fünf Prozent reichten dafür nicht.
## Die Sätze sind trotz Erhöhung zu gering
Der Bund – der damals noch die Gesetzgebungskompetenz für den Bereich
Justiz innehatte – war damit gerichtlich angehalten, die Löhne zu erhöhen.
Eine konkrete Zahl nannte das Bundesverfassungsgericht aber nicht. Der Bund
legte also fest, dass ab 2001 neun Prozent des Ecklohns gezahlt werden
müssen. Außerdem führte er Freistellungstage ein, die Gefangene entweder
als Hafturlaub nehmen oder um die sie früher entlassen werden können.
Gegen diese Neuregelung legt ein Strafgefangener noch 2001 Beschwerde ein;
er hält die Sätze weiterhin für zu gering. Doch das
Bundesverfassungsgericht weist die Klage zurück. Die Neuregelung sei „nicht
unangemessen“ und „derzeit noch vertretbar“. R. nimmt den Vorgang wahr. U…
er merkt sich die Formulierung.
Im gleichen Jahr wechselt R. zum ersten Mal den Job. „Ich mochte den Lärm
und den Schmutz und die irre Lautstärke nicht mehr. [3][Selbst mit
Gehörschutz war das schwer auszuhalten]“, erzählt R. im Besuchsraum der JVA
Straubing. Er rollt das „R“ in schönstem Bayrisch, zieht die „A“s zu �…
bemüht sich, deutlich zu sprechen.
Durch „Vitamin B“ – seinen Vorgänger kannte er vom gemeinsamen
Schachspielen – wechselt R. in einen ganz anderen Bereich. Er wird
Schulschreiber, als solcher verfasst er in Absprache mit der JVA-Leitung
Aushänge und wird Redakteur einer Schachzeitung. Nach drei Jahren wieder
ein Wechsel: Nun fräst er für den gefängniseigenen Betrieb EDV-Möbel Holz
für Tische, Stühle und Schränke, die in Gerichten und Gefängnissen
aufgestellt werden. Auch hier bleibt er drei Jahre. Mittlerweile ist es
2007, R. sitzt seit zehn Jahren ein. Von da an arbeitet er nur noch
sporadisch.
## Mal einen Joghurt oder Apfel kaufen
Trotz der Arbeitspflicht geht das. In der JVA Straubing gibt es rund 800
Inhaftierte, aber nur 570 Arbeitsplätze. Wer sich also nicht aktiv um
Arbeit bemüht, wird nicht unbedingt herangezogen. Dennoch wollen die
meisten Gefangenen arbeiten. In Straubing, genauso wie in den vier
Bundesländern Sachsen, Brandenburg, Rheinland-Pfalz und Saarland, in denen
Arbeit seit 2013 keine Pflicht mehr ist. Warum? Um sich zu beschäftigen,
mal aus der Zelle rauszukommen, auch wenn es nur die wenigen Schritte zur
Fabrikhalle sind.
Und weil es für die meisten die einzige Möglichkeit ist, an Geld zu kommen.
So können sie im Knastladen Tabak, Süßigkeiten oder mal einen Joghurt oder
Apfel kaufen. Beim Anstaltskaufmann, [4][in fast allen JVAen in Deutschland
ist das die Firma Massak aus Bamberg], können die Insassen Brot, Margarine
und Käse kaufen. Doch das ist teuer, und durch die Energiekrise und
Inflation nach dem russischen Angriffskrieg haben die Preise eher nochmal
angezogen.
Wichtiger ist aber ein anderes Thema. „So gut wie alle Gefangenen haben
Schulden“, sagt R. Die meisten basieren auf den Kosten der
Gerichtsprozesse, aus denen sie als Beschuldigte hervorgegangen sind: zum
Beispiel für Anwaltskosten und Entschädigungszahlungen für Opfer. R. selbst
kam mit knapp über hunderttausend D-Mark Miese in den Knast.
2013, R. ist seit 16 Jahren im Gefängnis, wird R. schließlich mal wieder
einer Arbeit zugewiesen, dieses Mal in der Wäscherei. Vom Lohn einer
Arbeitsstunde kann er sich gerade mal eine Packung Salami beim
Anstaltskaufmann leisten. Im Hinterkopf hat er noch den Satz des
Bundesverfassungsgerichts von 2001 zur Erhöhung der Gefangenenentlohnung:
„Die Entscheidung des Gesetzgebers erweist sich als derzeit noch
vertretbar.“ Im gleichen Schriftsatz nannte das Gericht die Erhöhung von
fünf auf neun Prozent als „noch verfassungsgemäß“. Noch.
Und jetzt, 15 Jahre später? Für R. ist das Wörtchen „noch“ eine Einladun…
Er hat mittlerweile mehrere Verfahren gewonnen, zu ganz unterschiedlichen
Themen, auch vor dem Bundesverfassungsgericht und dem Europäischen
Gerichtshof für Menschenrechte. Der Freistaat Bayern musste R. zuletzt
12.000 Euro Entschädigung wegen unzulässiger Durchsuchungen zahlen.
## Die wenigsten Anträge führen zum Erfolg
Durch den Fall hat er gelernt, dass die Anstalt, dass der Gesetzgeber,
Unrecht haben können und dass er gewinnen kann. Er sagt sich: „Wenn der
Lohn vor 15 Jahren ‚noch verfassungsgemäß‘ war und seitdem nicht erhöht
wurde, dann ist er heute sicher nicht mehr verfassungsgemäß.“ Und, so
erinnert er sich bei dem Treffen im Besuchsraum der JVA Straubing: „Dann
habe ich einen 109er geschrieben.“
Gefangene können, wenn sie ein Gespräch mit dem Abteilungsleiter, dem
Gefängnisseelsorger oder der Ärztin bekommen möchten, wenn sie Papier haben
wollen, neue Seife brauchen oder an einem Gruppenangebot teilnehmen
möchten, einen sogenannten Vormelder schreiben: eine Art Antrag an die
Anstaltsleitung. Wenn sie mit dem Ergebnis unzufrieden sind, dann können
sie einen „Antrag auf gerichtliche Entscheidung“ stellen, einen sogenannten
109er. Das bezieht sich auf Paragraf 109 im Strafvollzugsgesetz. Damit
können Gefangene beantragen, dass ein Gericht die Anstaltsleitung zu einem
bestimmten Verhalten verpflichtet. Die wenigsten Gefangenen machen davon
Gebrauch. Und die wenigsten Anträge führen zum Erfolg.
Einen 109er können Gefangene nur zu einem Vorgang schreiben, von dem sie
selbst betroffen sind. R. wurde nach 2007 noch zweimal eine Tätigkeit
zugewiesen, jeweils für kurze Zeit. „Das war im Grunde genommen gut, denn
nur durch die Zuweisung einer Beschäftigung war ich betroffen, und nur als
Betroffener – weil ich gearbeitet habe – konnte ich Verfassungsbeschwerde
einlegen“, sagt R. „Andernfalls hätte es diese Beschwerde nie gegeben.“
R. schreibt am 18. Juni 2013 also einen 109er und beschwert sich damit vor
dem zuständigen Landgericht Regensburg über die Entlohnung in der JVA
Straubing. Das Gericht weist die Klage ab; R. wendet sich ans
Oberlandesgericht in Nürnberg. Auch das lehnt die Klage ab. Die Entlohnung
sei rechtmäßig. Für R. verstößt sie gegen das Grundgesetz. Wie soll der
Gefängnisaufenthalt der Resozialisierung dienen, wenn man so wenig
verdient, dass man auch bei Entlassung noch in Schulden ertrinkt? Er wendet
sich ans Bundesverfassungsgericht.
Auch das lehnt R.s Klage ab – ohne Begründung. R. hält es für Willkür. Zw…
Jahre später wird er noch einmal einer Arbeit zugewiesen. Er schreibt
wieder einen 109er wegen der niedrigen Entlohnung. Sein Antrag geht den
bereits bekannten Weg. Doch jetzt ist der Ausgang ein anderer.
Am 11. November 2016 erhält R. Antwort vom damaligen Chef des
Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, sie liegt der taz vor. Der
schreibt: „Ihre Verfassungsbeschwerde habe ich dem Bayerischen
Staatsministerium der Justiz, dem Bayerischen Landtag, allen
Länderregierungen, dem Bundestag, dem Bundesrat und der Bundesregierung
(dem Bundeskanzleramt, dem Bundesministerium des Inneren und dem
Bundesministerium der Justiz und Verbraucherschutz) sowie dem
Bundesarbeits- und Bundessozialgericht zugeleitet und Gelegenheit zur
Stellungnahme bis zum 31. März 2017 gegeben.“ Voßkuhle listet noch weitere
Institutionen auf, die sich äußern sollen: [5][Gewerkschaften],
Arbeitgeberverbände, Rentenversicherung, Anstaltsleitungen und
Gefangenenhilfsorganisationen.
## Erstmal passiert lange gar nichts
„Die Klage wurde spektakulär angenommen“, sagt R. im Straubinger
Besuchsraum. „Ich war selbst ein wenig überrascht. Da kriegt also irgendein
Knacki vom Verfassungsgericht dieses Schreiben mit dieser grandiosen
Aufzählung – das fand ich schon beeindruckend, so ein Schriftstück zu
bekommen.“ R. spricht schnell und aufgeregt, ganz so, als erlebe er alles
noch einmal. Er blättert in seinem Ordner und sucht die Stellungnahmen
heraus, die nach und nach eingetrudelt sind.
Nachdem er die erhalten hat, passiert erst einmal lange nichts. Erst 2022
setzt das Bundesverfassungsgericht eine Verhandlung zum Thema an. Es
bezieht sich neben der Beschwerde von R. auf die zweier weiterer
Gefangener, einer aus Nordrhein-Westfalen, der andere aus Sachsen-Anhalt.
Letzterer zieht seine Beschwerde noch vor Beginn der Verhandlung zurück.
Mehr als ein Dutzend Sachverständige werden geladen, darunter
Anstaltsleiter*innen, Kriminolog*innen, Vertreter*innen der
Justizministerien der Länder, in denen die Kläger inhaftiert sind, sowie
der Sprecher der Gefangenengewerkschaft GG/BO.
Die Kläger sind bei der Verhandlung nicht anwesend. Das Gericht hat sie
nicht offiziell geladen. R. will dennoch nach Karlsruhe fahren, doch die
JVA Straubing lässt ihn nicht gehen. Als seine Prozessbevollmächtigte sitzt
stattdessen die Juristin Christine Graebsch im Gericht. Bis dahin hatte R.
das Verfahren selbst geführt. Im Bundesverfassungsgericht ist eine
rechtliche Vertretung aber vorgeschrieben.
Das Gericht verhandelt am 27. und 28. April 2022. „Allein dadurch, dass
zwei Tage für die Verhandlung angesetzt wurden, wurde sehr deutlich, dass
das Bundesverfassungsgericht das Thema ernst nimmt“, sagt Graebsch der taz
am Telefon. Auch das Medieninteresse ist groß. In der Verhandlung habe sich
gezeigt, dass die acht Richter*innen sich „ernsthaft Gedanken“ gemacht
hätten, ohne sich in die eine oder andere Richtung festzulegen.
Die taz schreibt über die Verhandlung, die Vertreter der Länder Bayern und
NRW hätten „die Mickerlöhne“ verteidigt: Die Produktivität von
Strafgefangenen liege im Schnitt nur bei 15 bis 20 Prozent normaler
Beschäftigter. Ihre Qualifikation sei gering; [6][viele Insassen hätten
Suchtprobleme und psychische Krankheiten]. Zudem hätten die Gefangenen
schließlich keine Ausgaben für Unterkunft und Verpflegung. Aus Bayern hieß
es: „Wir verdienen nichts an der Arbeit der Strafgefangenen. Im Gegenteil.
Die Einnahmen aus der Arbeit im Gefängnis decken nur 7 Prozent der Kosten
des Strafvollzugs.“
Manuel Matzke von der Gefangenengewerkschaft GG/BO, der selbst einmal
inhaftiert war, sagt der taz später am Telefon: „Ich kenne keinen
Gefangenen, der zufrieden ist mit der Bezahlung.“ Er spricht von
„Ausbeutung“. Externe Unternehmen nutzten Gefängnisse als „verlängerte
Werkbank“. Für sie seien Haftanstalten „Billiglohninseln“, sie
beschäftigten dort eine „industrielle Gewerbearmee“, für deren Löhne sie
nicht einmal Sozialabgaben zahlen müssten. Das Recherchenetzwerk Correctiv
veröffentlichte 2021 eine Liste von rund 90 Unternehmen, die in
Gefängnissen produzieren lassen. Correctiv listet Autobauer wie VW auf,
aber auch die Kinderbadespaß-Firma Tinti und die Rügener Insel-Brauerei.
## Ehrliche Arbeit wird nicht ausbezahlt
Arbeit im Gefängnis gilt nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von
1998 nur dann als Resozialisierungsmaßnahme, wenn die Gefangenen dadurch
„angemessene Anerkennung“ finden. Der Gefangene müsse „den Wert
regelmäßiger Arbeit für ein künftiges eigenverantwortetes und straffreies
Leben in Gestalt eines für ihn greifbaren Vorteils“ sehen. Kann er oder sie
das bei einem Stundenlohn von 1,78 Euro sehen?
Für Matzke ist klar: „Die Vergütung zeigt, dass sich ehrliche Arbeit nicht
ausbezahlt.“ Die GG/BO fordert den gesetzlichen Mindestlohn für Gefangene
und die Anerkennung als ganz normale Arbeit. Außerdem will sie ein Ende der
Arbeitspflicht. Die Gefangenen sollen selbst entscheiden können, wie sie
ihre Lebenszeit verbringen wollen. Zu einer erfolgreichen Resozialisierung
gehöre es, Eigenständigkeit zu fördern.
„Dafür muss man aus intrinsischer Motivation heraus arbeiten, nicht
aufgrund von Zwang“, sagt Matzke. Er kritisiert darüber hinaus, dass
Gefangene nach der Entlassung zwar ein Anrecht auf Arbeitslosengeld haben,
sie mit ihrer Arbeit im Gefängnis aber nicht in die Rentenkasse einzahlen
können. So sei [7][Altersarmut vorprogrammiert].
Für Graebsch zeigt das auch, „dass Arbeit im Vollzug mit Resozialisierung
nichts zu tun hat, wenn ich jahrzehntelang arbeite, und ich komme raus und
mir geht es schlechter als vorher“. Also müssten Gefangene Rentenansprüche
sammeln können – und mehr verdienen. „Es gibt kein
Resozialisierungskonzept, das so eine niedrige Entlohnung vorsieht.“
Damit Arbeit tatsächlich als Resozialisierungsmaßnahme funktioniert, müsse
es zudem andere Angebote geben und Gefangene müssten wählen können, was sie
arbeiten. „Es ist nicht egal, was man arbeitet. Im Vollzug gibt es fast nur
Jobs, die überhaupt keinen Nutzen für das Leben danach haben.
Kugelschreiber zusammenstecken bringt überhaupt nichts.“ Dabei würden
Menschen seltener rückfällig, wenn sie einen sinnerfüllten Job ausüben.
Graebsch fordert außerdem, dass es für die Strafgefangenen mehr
Ausbildungs- und Studienmöglichkeiten gibt und die Gelegenheit,
Schulabschlüsse zu machen.
Am Dienstag soll nun das Urteil des Bundesverfassungsgerichts fallen. Die
zwei Verhandlungstage im April 2022 haben keine Hinweise gegeben, wie die
Entscheidung der Richter*innen ausfallen wird. Auch ein Jahr später ist
keine Tendenz erkennbar. „Das ist wie ein Blick in die Glaskugel“, sagt
Manuel Matzke. Dass das Gericht eine Reform fordern wird, hält Matzke
allerdings für sicher. Auch die Juristin Graebsch sagt: „Die
Wahrscheinlichkeit einer irgendwie positiven Entscheidung ist hoch, aber
völlig unklar ist, in welche Richtung diese gehen wird.“
## Haftkosten zahlen, aber dafür höheren Lohn
Möglich wäre, dass das Bundesverfassungsgericht sich am österreichischen
Modell orientiert. Dort bekommen Inhaftierte einen höheren Lohn, müssen
davon aber einen Teil der Haftkosten zahlen. Für Graebsch, die auch
Professorin an der Fachhochschule Dortmund ist, entspricht das dem Prinzip
„rechte Tasche, linke Tasche“. Sie sagt: „Ein winziges bisschen besser ist
es mit Sicherheit, wenn man mehr verdient und dadurch mehr Anerkennung
erhält und individueller entscheiden kann, was man davon bezahlen möchte.“
Aber letzten Endes sei „das alles keine echte Veränderung, wenn nicht am
Ende wesentlich mehr Geld bleibt als jetzt“.
R. hat jedenfalls eine klare Vorstellung davon, wie das Urteil ausfallen
soll. Er will eine „deutliche“ Erhöhung von bisher neun Prozent des
Ecklohns auf 15 Prozent – also etwa zwei Drittel mehr als jetzt. Das wären
statt des bisherigen Durchschnittslohns von rund 14 Euro am Tag künftig
23,30 Euro. Mehr, aber immer noch wenig.
Warum er nicht mehr fordert, 30, 40 oder gar 50 Prozent des Ecklohns? „Das
ist völlig unrealistisch“, sagt R. Allein bei einer Erhöhung von 9 auf 15
Prozent gehe es um mehrere Millionen Euro: „Das sind keine Peanuts.“ R. hat
noch eine zweite Forderung. „Ich habe beantragt, die Gefangenenentlohnung
rückwirkend zum 29. September 2015 zu erhöhen.“ Das wären noch einmal
mehrere Millionen Euro mehr.
Ob die Richter der Forderung nachkommen werden? Wenn nicht, will R.
weiterkämpfen – und vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte
ziehen.
19 Jun 2023
## LINKS
[1] /Gehalt-fuer-Arbeit-im-Gefaengnis/!5847333
[2] /Gemeinnuetzige-Arbeit-fuer-Haeftlinge/!5578568
[3] /Experte-ueber-Laerm/!5656166
[4] /Teures-Essen-in-Gefaengnissen/!5867768
[5] /Gewerkschaft-der-Gefangenen/!5250607
[6] /Bedingungen-in-deutschen-Haftanstalten/!5787900
[7] /Expertin-ueber-Altersarmut/!5928696
## AUTOREN
Johanna Treblin
## TAGS
Lesestück Recherche und Reportage
IG
Schwerpunkt Armut
Bundesverfassungsgericht
Gefängnis
GNS
JVA
Gefangene
Häftlinge
Inhaftierung
Gefängnis
Gefängnis
Lesestück Recherche und Reportage
Lesestück Recherche und Reportage
Mindestlohn
Schwerpunkt Armut
Gewerkschaft
Gefängnis
DDR
Gefängnis
Gefängnis
## ARTIKEL ZUM THEMA
Gehalt für Arbeit im Berliner Gefängnis: Immer noch ein Mickerlohn
In Berliner Knästen werden die Löhne erhöht – auf 4,25 Euro pro Stunde. Die
Arbeit ist für viele Gefangene verpflichtend.
ARD-Serie „A Better Place“: Stell dir eine Welt ohne Gefängnisse vor
Die ARD-Serie „A Better Place“ wagt ein Experiment: Gefangene werden zu
einem Stichtag in die Freiheit entlassen. Gelingt ihre Wiedereingliederung?
Freundschaft mit einem Gefängnisinsassen: Ein Platz in Freiheit
Alexander saß jahrelang im Gefängnis. Unsere Autorin schrieb ihm Briefe
dorthin. Jetzt kämpft er damit, sich wieder in der Freiheit
zurechtzufinden.
Ausbeutung indischer Landarbeiter: Italiens bittere Kiwis
In ganz Europa sind italienische Kiwis beliebt. Auf den Feldern arbeiten
viele Inder unter unwürdigen Bedingungen, gefangen im ausbeuterischen
System.
Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns: Für ein paar Cent mehr
Der Mindestlohn steigt 2024 nur um 41 Cent – trotz Inflation. Die
Gewerkschaften melden Protest an. Die Linkspartei nennt es „eine
Katastrophe“.
Anpassung des Mindestlohns: Es muss in Richtung 14 Euro gehen
Unter der hohen Inflation leidet vor allem der Niedriglohnsektor, die
soziale Spaltung wächst. Es braucht eine deutliche Anpassung des
Mindestlohns.
Arbeitsberatungsstelle in Berlin: Gute Arbeit hat einen Preis
Im Sozialbereich drohen Kürzungen von 30 Prozent. Das könnte auch die
Beratungsstelle für Migration und Gute Arbeit (Bema) betreffen.
Urteil zu Gefangenenvergütung: Ohne Geld keine Verantwortung
Gefangene arbeiten für Minilöhne. Karlsruhe erklärt das für zwei Länder als
verfassungswidrig. Diese müssen nun „widerspruchsfreie“ Regelungen
vorlegen.
Entschädigung von SED-Opfern: Arm nach Zwangsarbeit im DDR-Knast
Politische Gefangene in der DDR leisteten oft Zwangsarbeit. Aber sie werden
kaum entschädigt, kritisiert die SED-Opferbeauftragte Evelyn Zupke.
Gehalt für Arbeit im Gefängnis: Hinter Gittern wahre Mickerlöhne
Das Bundesverfassungsgericht verhandelt über Entlohnung von
Strafgefangenen. Vielleicht bekommen sie künftig mehr Geld – um mehr
abgeben zu können.
Häftlinge fordern Anrecht auf Telefonate: Dünner Draht in die Außenwelt
Gefangene sind auf Telefonate angewiesen, um den Kontakt zu ihren Familien
nicht zu verlieren. Bayern erlaubt das nur in „dringenden Fällen“.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.