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# taz.de -- Urteil zu Gefangenenvergütung: Ohne Geld keine Verantwortung
> Gefangene arbeiten für Minilöhne. Karlsruhe erklärt das für zwei Länder
> als verfassungswidrig. Diese müssen nun „widerspruchsfreie“ Regelungen
> vorlegen.
Bild: Auch in der JVA muss Arbeit anständig entlohnt werden – Arbeitshandsch…
Karlsruhe taz | Wenn von Strafgefangenen erwartet wird, dass sie Schäden
wiedergutmachen und Unterhalt für ihre Angehörigen bezahlen, darf man sie
nicht [1][mit Mickerlöhnen von rund 2 Euro] pro Stunde abspeisen. Das
Bundesverfassungsgericht hat deshalb die Strafvollzugsgesetze von Bayern
und Nordrhein-Westfalen für verfassungswidrig erklärt. Die Länder haben bis
Mitte 2025 Zeit, neue, „widerspruchsfreie“ Regelungen zu beschließen. Das
Karlsruher Urteil dürfte auch für alle anderen Bundesländer relevant sein.
Geklagt hatten zwei Gefangene aus Straubing (Bayern) und Werl
(Nordrhein-Westfalen). Ihre Verfassungsbeschwerden hatten nun Erfolg. Es
ist aber noch völlig offen, ob sie und andere Gefangene ab 2025 mehr Geld
bekommen. Karlsruhe hat den Ländern keinen konkreten Stundenlohn
vorgegeben, sondern nur eine besser durchdachte Gesetzgebung.
Derzeit bekommen Gefangene für ihre Arbeit nur 9 Prozent des
Durchschnittslohns aller Rentenversicherten. Je nach Qualifikation sind das
zwischen 1,37 Euro und 2,30 Euro pro Stunde. Dies ergibt einen
Tagesverdienst von nur 9,87 Euro bis 16.44 Euro. Zudem erhalten arbeitende
Gefangene noch zwischen 6 und 8 freie Tage pro Jahr, die in der Regel die
Haftzeit am Ende verkürzen. In den meisten Bundesländern besteht für
Häftlinge Arbeitspflicht, meist ist aber zu wenig Arbeit für alle
Arbeitswilligen da.
## Weiter Spielraum des Gesetzgebers
Bis 2001 betrug der Haftlohn sogar nur 5 Prozent des normalen
Durchschnittslohns. Die damalige Erhöhung ging auf eine Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts von 1998 zurück. Damals postulierte das Gericht,
dass sich aus dem Grundgesetz ein „Resozialisierungsgebot“ ergebe.
Strafgefangene haben den Anspruch, auf ein straffreies Leben vorbereitet zu
werden. Die klagenden Häftlinge machten nun geltend, dass auch die
aktuellen Minimallöhne gegen dieses Resozialisierungsgebot verstießen.
Die Länder hielten die Löhne dagegen für angemessen. Schließlich hätten
Strafgefangene nur eine Produktivität von 15 bis 20 Prozent normaler
Arbeitnehmer:innen, so Bayern. Grund seien schlechte Ausbildung, hohe
Fluktuation und häufige Sprachprobleme. NRW rechnete vor, dass das
Arbeitswesen hinter Gittern doppelt soviel Kosten verursache wie damit
Einnahmen erzielt werden.
Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts unter Vizepräsidentin Doris
König bekräftigte nun das Resozialisierungsgebot und verpflichtete die
Länder, alle wesentlichen Fragen gesetzlich zu regeln. Dabei müsse
insbesondere die Bedeutung der Arbeit [2][und ihrer Vergütung festgelegt]
werden. Wenn die Arbeit hinter Gittern, wie bisher in allen Ländern, eine
wichtige Rolle bei der Resozialisierung spielen soll, dann müssen die
Landtage folgende Vorgaben beachten: Geleistete Arbeit muss „angemessene
Anerkennung“ finden.
Arbeit ohne greifbaren Gegenwert degradiere die Gefangenen zu „Objekten
staatlicher Gewalt“. Die (geringe) Entlohnung solle von den Gefangenen
nicht als Teil der Strafe empfunden werden. Diesen soll der Wert
regelmäßiger Arbeit für ein künftiges eigenverantwortliches und straffreies
Leben in Gestalt eines für sie greifbaren Vorteils vor Augen geführt
werden.
In diesem Rahmen habe der Gesetzgeber aber einen weiten Spielraum. So kann
er etwa die geringere Produktivität von Gefangenenarbeit berücksichtigen.
Die Anerkennung der Arbeit könne in Geld, aber auch in Haftverkürzung oder
Hafterleichterungen erfolgen. Zudem kann der Gesetzgeber die Häftlinge an
den Haftkosten beteiligen und Entgelte für ärztliche Behandlungen
verlangen. Auch können die Länder vorsehen, dass mit den Löhnen
Wiedergutmachung geleistet und Unterhalt bezahlt wird. Ebenso kann die
Rückzahlung von Schulden und Gerichtskosten von den Gefangenen verlangt
werden.
## Zeit bis Juni 2025
Am Ende müssen jedoch Häftlinge, die arbeiten, besser dastehen als
Häftlinge, die nicht arbeiten, so Karlsruhe. Auch müssen die Erwartungen an
die Gefangenen, insbesondere zur Wiedergutmachung von Schäden, realisierbar
sein und nicht wegen der geringen Entlohnung völlig unrealistisch
erscheinen. An diesen Vorgaben scheiterten die Strafvollzugsgesetze von
Bayern und NRW. Die Länder erwarteten zunehmend, dass die Häftlinge
Verantwortung für ihre Opfer und ihre Angehörigen übernehmen – während der
Haftlohn unverändert bei 9 Prozent des Durchschnittslohns verblieb, Es
„erschließt sich nicht“, so die Richter:innen, „wie diese Anforderungen …
den Gefangenen erfüllt werden sollen, ohne dass ihnen mehr Lohn für die von
ihnen geleistete Arbeit zur Verfügung stünde“. Die Vorstellungen der Länder
seien „widersprüchlich und realitätsfern“.
Bayern und NRW haben nun bis 30. Juni 2025 Zeit für eine Neuregelung. Bis
dahin gelten die alten Löhne fort. Die Neuregelung muss auch keine
Rückwirkung haben, so Karlsruhe. Formal gilt das Urteil nur für die zwei
Länder. Doch die anderen Länder tun gut daran, [3][die Karlsruher Vorgaben]
ebenfalls umzusetzen, sonst werden sie beim nächsten Fall verurteilt.
Wenn Gefangene mit den Ergebnissen der jeweiligen Landesneurelung
unzufrieden sind, können sie zwar wieder das Bundesverfassungsgericht
anrufen. Aber Richterin König machte deutlich, dass Karlsruhe die Konzepte
der Länder dann nur auf „Vertretbarkeit“ prüfen werde, weil diese einen
großen Gestaltungsspielraum haben.
20 Jun 2023
## LINKS
[1] /Urteil-zu-Gefangenenverguetung/!5938770
[2] /Ausbeutung-in-Gefaengnissen/!5200840
[3] /Gehalt-fuer-Arbeit-im-Gefaengnis/!5847333
## AUTOREN
Christian Rath
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Gefängnis
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