| # taz.de -- Mutter in U-Haft: Ohne ihr Baby | |
| > In einem Hamburger Gefängnis wird einer Mutter das Recht verwehrt, ihr | |
| > Neugeborenes bei sich zu haben. Nur weil es der JVA zu aufwendig ist? | |
| Hamburg taz | Ihren einjährigen Sohn Juan sieht Gabriela Martinez (Namen | |
| geändert) nur ein Mal pro Woche. Jeden Donnerstag wird der Säugling für ein | |
| paar Stunden zu seiner Mutter in die Justizvollzugsanstalt | |
| Hamburg-Billwerder gebracht. Seinen ersten Geburtstag musste das Baby im | |
| Heim verbringen. | |
| Martinez ist des Mordes angeklagt. Die Staatsanwaltschaft glaubt, dass sie | |
| den 69-jährigen Ignacio Lopez (Name geändert) mit bloßen Händen in seiner | |
| Wohnung ermordet hat, während sie im neunten Monat schwanger war. Das Motiv | |
| soll Habgier gewesen sein. Zwar hatte Lopez nicht viel Geld, aber in seiner | |
| Wohnung hätten die Schränke offen gestanden, alles sei durchwühlt gewesen, | |
| als sein Neffe ihn tot aufgefunden habe, sagte der Neffe vor Gericht aus. | |
| Gabriela Martinez wird gefesselt in den Gerichtssaal geführt, erst drinnen | |
| schließt ein Security-Mitarbeiter ihr die Handschellen auf. Ihre | |
| Anwältinnen Fenna Busmann und Katrin Hawickhorst stellen sich mit ihren | |
| weiten schwarzen Roben vor Martinez, als die Pressefotografen den Saal | |
| betreten. Klick, klick, klick, dann sind die Fotografen wieder draußen. | |
| „Dieses Verfahren hätte niemals eröffnet werden dürfen“, sagt Anwältin | |
| Fenna Busmann an das Gericht gewandt. „Aber es kann, es muss schnell wieder | |
| beendet werden.“ | |
| Über Kopfhörer bekommt Martinez das Gesprochene von einer Dolmetscherin | |
| übersetzt, die 38-jährige Kolumbianerin spricht kein Deutsch. In | |
| schwarz-blau-roter Trainingsjacke sitzt sie auf ihrer Bank, die Haare zu | |
| Cornrows geflochten. Ihre Haut ist dunkel, ihr Gesichtsausdruck ernst. | |
| Busmann sagt an den Richter gewandt: „Erlösen Sie diese Frau aus der | |
| albtraumhaften Situation, in die sie und ihr Sohn aufgrund eines falsch | |
| interpretierten DNA-Gutachtens geraten sind.“ | |
| Die Polizei hat am Tatort DNA-Spuren von Gabriela Martinez gefunden. Sie | |
| konnten ihr zugeordnet werden, weil Martinez eine freiwillige Speichelprobe | |
| abgegeben hatte. Die Ermittler*innen waren die Handykontakte des | |
| Ermordeten durchgegangen und hatten die Personen als Zeug*innen vernommen | |
| und um Speichelproben gebeten. Nicht alle willigten ein, aber Martinez | |
| stimmte zu. | |
| ## Ein halbes Leben | |
| Im Dezember, sieben Monate nach der Tat, wurde sie festgenommen und in | |
| Untersuchungshaft gebracht. Juan war zu diesem Zeitpunkt sechs Monate alt, | |
| er kam zu einer Pflegemutter. Das Amtsgericht entzog Martinez das | |
| Sorgerecht und das Aufenthaltsbestimmungsrecht, eine Mitarbeiterin des | |
| Jugendamts ist seitdem seine Vormündin. Mittlerweile wurde Juan zwei Mal | |
| weitergereicht – von der Pflegemutter in ein Heim und einige Wochen später | |
| in ein anderes Heim. Fast die Hälfte seines bisherigen Lebens musste der | |
| Säugling schon ohne feste Bezugsperson auskommen. | |
| „Das Kind ist sehr unruhig, schlägt beim Schlafen gegen die Gitterstäbe des | |
| Bettes“, gab die Sachbearbeiterin vom Jugendamt Ende Februar dem | |
| Familiengericht zu Protokoll. „Manchmal wirkt der Junge wie weggetreten, | |
| gar nicht richtig wach. Insgesamt wirkt er traumatisiert.“ | |
| Als Martinez im Dezember in Untersuchungshaft gekommen war, hatte sie | |
| umgehend die Zusammenführung mit ihrem Baby beantragt. Die Leiterin der JVA | |
| sprach sich dagegen aus, ebenso die Vormündin vom Jugendamt. Die | |
| Haftrichterin entschied daraufhin, dass Mutter und Kind getrennt bleiben | |
| sollten. „Frau Martinez befindet sich wegen des dringenden Tatverdachts des | |
| Mordes in Untersuchungshaft“, schreibt die Richterin in ihrem Beschluss, | |
| den die taz einsehen konnte. „Es könnte sein, dass die Angeklagte zu einer | |
| lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt wird.“ Die Mutter-Kind-Plätze | |
| hingegen seien nur für vorübergehende Aufenthalte geeignet. „Von einer | |
| sicheren nur kurz- oder mittelfristigen Unterbringung des Kindes in der JVA | |
| kann zum jetzigen Zeitpunkt keine Rede sein“, so die Richterin in dem | |
| Beschluss. | |
| Wie lange ein Kind bei seiner inhaftierten Mutter leben darf, ist je nach | |
| Bundesland unterschiedlich. Auch das Höchstalter für das Kind, um gemeinsam | |
| mit der Mutter in Haft unterzukommen, variiert. Außerdem gibt es nicht in | |
| jedem Bundesland Plätze für Mütter mit Kindern, deutschlandweit sind es nur | |
| knapp 100 Zellen in elf Gefängnissen. Nach Schätzungen des „Netzwerk Kinder | |
| von Inhaftierten“ sind bundesweit rund 100.000 Kinder von der Inhaftierung | |
| eines Elternteils betroffen. Offizielle Zahlen gibt es dazu nicht. | |
| ## „Keine Jugendhilfe“ | |
| In der Hamburger Justizvollzugsanstalt, in der Gabriela Martinez inhaftiert | |
| ist, gibt es vier Plätze für Mütter mit Kindern, derzeit ist keiner davon | |
| belegt. An die vier Haftzellen schließt jeweils ein Kinderzimmer an, in dem | |
| ein Kinderbett und Wickeltisch, ein Tisch, Stuhl und ein separates | |
| Badezimmer mit Babybadewanne bereitstehen. Hygieneartikel und alle anderen | |
| benötigten Dinge können von der Mutter für den Zeitraum der Unterbringung | |
| ausgeliehen werden, so schreibt es die Richterin, die über Martinez’ | |
| Antrag, ihr Baby zu sich zu holen, entscheidet. „Die Mutter-Kind-Station | |
| ist keine Einrichtung der Jugendhilfe“, stellt die Richterin klar. Es gebe | |
| kein pädagogisches Fachpersonal, keine Kinderärzte, die den Säugling | |
| betreuen und bei der Erziehung helfen könnten. Und wer solle babysitten, | |
| wenn Martinez vor Gericht müsse? Wer solle das Baby zu Impfungen und zum | |
| Arzt bringen? Und wie solle der Junge abends einschlafen, wenn die Mutter | |
| ihn nicht umherschieben oder -tragen könne, weil die Zellen ab 18 Uhr | |
| geschlossen sind? | |
| „Natürlich lässt sich das organisieren“, sagt Martinez’ Anwältin Busma… | |
| „Man muss es nur wollen.“ Seit Monaten bombardiert sie das Gericht mit | |
| Anträgen, immer wieder fordert sie, das Baby zur Mutter zu holen, und | |
| solange das nicht passiert, wenigstens die Besuchszeiten zu erhöhen. | |
| Busmann hat dem Gericht Kontakte und Telefonnummern gegeben: Ein Neffe der | |
| Angeklagten könnte das Baby kurzfristig betreuen oder zum Arzt bringen. Die | |
| Richterin hielt dagegen, Martinez spreche nur Spanisch – im Falle eines | |
| Notfalls könnte sie den JVA-Mitarbeiter*innen nicht mitteilen, was dem Kind | |
| fehle. Busmann verwies auf digitale Übersetzungsprogramme sowie die | |
| Handynummer der Familienrechtsanwältin Ilka Quirling, die Martinez vor dem | |
| Familiengericht vertritt und dolmetschen kann. So geht es seit Monaten hin | |
| und her. „Für die Angeklagte ist die Situation kaum auszuhalten“, schreibt | |
| Busmann dem Gericht. | |
| Ist es der JVA zu umständlich, den Säugling einer Frau aufzunehmen, die | |
| kein Deutsch spricht? Säuglinge haben oft Bauchschmerzen oder Fieber, | |
| müssen zu Vorsorgeuntersuchungen, können sich nicht mitteilen. Kann es | |
| sein, dass man in Hamburg-Billwerder nicht genug Motivation oder nicht | |
| genug Personal hat, auf die besondere Lage von Mutter und Kind einzugehen? | |
| Wenn das so wäre, wäre es laut Busmann rechtswidrig. | |
| „Vollzugsorganisatorische Belange“ dürften nicht dazu führen, dass eine | |
| Entfremdung von Mutter und Kind in Kauf genommen werde, argumentiert sie. | |
| Im Klartext heißt das: Es kann nicht sein, dass der Säugling nicht bei | |
| seiner Mutter sein darf, weil es für die JVA zu nervig zu organisieren ist. | |
| Auch den letzten Antrag von Busmann auf Zusammenführung von Mutter und Kind | |
| lehnte das Gericht ab. Das Jugendamt hat sich dagegen ausgesprochen, ebenso | |
| die JVA: Der Umgang mit den anderen Inhaftierten sei eventuell nicht gut | |
| für das Kind. Es könne Neid und Missgunst unter den Frauen auslösen, wenn | |
| Martinez ihren Sohn bei sich habe, andere jedoch nicht. | |
| ## Ein Menschenrecht | |
| Die Hamburger Justizsenatorin [1][Anna Gallina] war früher, in ihrer Zeit | |
| als Abgeordnete und familienpolitische Sprecherin der Hamburger Grünen, für | |
| ihr Engagement für die „Frühen Hilfen“ bekannt. Als Frühe Hilfen gelten | |
| Angebote der Kinder- und Jugendhilfe und des Gesundheitswesens, die schon | |
| in der Schwangerschaft und den ersten Lebensjahren Eltern und Kinder | |
| unterstützen. Müsste Gallina sich als Justizsenatorin nicht dafür | |
| einsetzen, dass die JVAs ausgestattet und qualifiziert sind, Eltern und | |
| Kinder in solchen Fällen bestmöglich zu unterstützen? Auf wiederholte | |
| Anfragen der taz weicht die Justizbehörde aus, antwortet mit | |
| Allgemeinplätzen, möchte zu dem Fall nichts sagen und schon gar nicht | |
| zitiert werden. | |
| „Die UN-Kinderrechtskonvention gibt jedem Kind das Recht auf direkten | |
| Kontakt zu beiden Eltern“, sagt Judith Feige vom Deutschen Institut für | |
| Menschenrechte. „Daran ändert auch eine Haftstrafe nichts.“ Natürlich mü… | |
| man in jedem Einzelfall prüfen, ob es besser für das Kind sei, bei der | |
| Mutter in Haft oder ohne die Mutter in Freiheit zu leben. In jedem Fall | |
| dürfe aber bei der Abwägung nicht die Strafe im Vordergrund stehen und | |
| schon gar nicht der organisatorische Aufwand für die Justizvollzugsanstalt. | |
| „Im Fokus steht das Kind mit seinen Bedürfnissen“, sagt Feige. | |
| Auch der Europarat setzt sich für die Rechte von Kindern inhaftierter | |
| Eltern ein. 2018 empfahl er den Staaten: „Die Behörden haben sich zu | |
| bemühen, den staatlichen Einrichtungen genügend Ressourcen zur Verfügung zu | |
| stellen, um Kinder inhaftierter Eltern zu unterstützen.“ Mitarbeiter*innen, | |
| die Kontakt zu den betroffenen Kindern und Eltern hätten, seien angemessen | |
| zu schulen. Zur Frage, ob Haft überhaupt sein muss, steht in den | |
| Empfehlungen: Wenn eine Haftstrafe im Raum steht, aber es sich um die | |
| Hauptbetreuungsperson eines Kindes handelt, seien die Interessen des Kindes | |
| zu berücksichtigen und Alternativen zur Haft anzuwenden. | |
| Gabriela Martinez verbüßt keine Haftstrafe, sondern befindet sich lediglich | |
| in Untersuchungshaft. Bis ein Gericht sie rechtskräftig verurteilt, gilt | |
| sie als unschuldig. Doch dass Martinez verurteilt wird, ist nicht besonders | |
| wahrscheinlich. Sie kann erklären, wie ihre DNA in die Wohnung gelangt ist, | |
| und vor allem: Sie hat für den Tatzeitpunkt ein Alibi. | |
| Gegenüber der Polizei gab Martinez an, fünf Tage vor Lopez’ Tod in dessen | |
| Wohnung gewesen zu sein. Sie habe sich auf ein Stellengesuch gemeldet, das | |
| er in sozialen Netzwerken gepostet hatte. Martinez habe sich als | |
| Haushaltshilfe beworben, sei zum Probearbeiten gekommen und habe seine | |
| Kleidung gebügelt. Der Neffe des Verstorbenen sagte vor Gericht aus, er | |
| habe seinen Onkel niemals in ungebügelter Kleidung gesehen. | |
| Am Tag des Todes von Ignacio Lopez, so gab es eine Kollegin von Martinez | |
| gegenüber der Polizei an, habe Martinez in einem Hotel geputzt. Der 12. Mai | |
| 2022 sei Martinez’ zweiter Arbeitstag für eine Reinigungsfirma gewesen. Die | |
| Kollegin hat den Ermittler*innen ein Stundenprotokoll vorgelegt, in dem | |
| die Angeklagte an dem betreffenden Tag mit fünf Stunden gelistet ist. Den | |
| Ermittler*innen liegen außerdem Chats zwischen den beiden Frauen vor. | |
| Ab neun Uhr morgens geht es etwa so hin und her: Martinez: „Ich bin schon | |
| im Hotel“, Kollegin: „Ich bin noch auf dem Weg“, Martinez: „Okay, ich w… | |
| hier.“ Kollegin: „Komm in den 4. Stock“, Martinez: „Zimmer 402 ist fert… | |
| Wenn das Stundenprotokoll stimmt, hat Gabriela Martinez am 12. Mai 2022 bis | |
| etwa 14 Uhr gearbeitet. Könnte sie Lopez auch nach ihrer Schicht umgebracht | |
| haben? Sein Neffe fand ihn erst am Abend. Trotzdem ist das Szenario | |
| unwahrscheinlich. Um 11.18 Uhr ging ein Notruf vom Handy des Ermordeten bei | |
| der Polizei ein. Er sagt „Hilfe, Hilfe“. Dann endet das Gespräch. | |
| Warum hält das Gericht Gabriela Martinez trotz allem für dringend | |
| tatverdächtig? Sieben Monate nach ihrer Festnahme sitzt Martinez noch immer | |
| in U-Haft. Hielte das Gericht eine Verurteilung für unwahrscheinlich, | |
| müsste es die U-Haft aufheben. Mit der drohenden lebenslangen Haft | |
| argumentiert das Gericht auch gegen die Zusammenführung von Mutter und | |
| Sohn: Im Falle einer Verurteilung müsste das Kind der Mutter wieder | |
| weggenommen werden – ein weiterer Beziehungsabbruch jedoch sei unbedingt zu | |
| vermeiden. Bis auf Weiteres bleibt Juan im Heim. | |
| So lange plätschert die Gerichtsverhandlung vor sich hin: Bislang haben | |
| Nachbarn und Angehörige des Toten als Zeugen ausgesagt, außerdem ein | |
| Rechtsmediziner, Polizist*innen und Rettungssanitäter*innen. Es ist der | |
| normale Vorgang eines Strafgerichts. Die Kammer versucht zu klären „Was ist | |
| passiert? Wann passierte es? Wer hat was gesehen und gehört?“ Die Kollegin, | |
| die Martinez’ Alibi bestätigen kann, soll erst Mitte/Ende Juli als Zeugin | |
| erscheinen. Ein von der Verteidigung eingereichtes Gutachten, das | |
| bestätigen soll, dass die von Martinez aufgefundenen DNA-Spuren bereits | |
| fünf Tage vor dem Mord in Lopez’ Wohnung gelangt sein könnten, kam in der | |
| Verhandlung noch nicht zur Sprache – der Richter hat es noch nicht als | |
| Thema vorgesehen. | |
| Vielleicht wird man niemals herausfinden können, wer Ignacio Lopez getötet | |
| hat. Die Ermittler*innen fanden in der Wohnung neben Martinez’ DNA noch | |
| die seiner vorherigen Haushälterin und die von Unbekannten. | |
| Am Ende des sechsten Termins tut sich etwas. Der Richter hat angekündigt, | |
| als Nächstes den DNA-Gutachter zu hören. Danach soll auch die Kollegin von | |
| Martinez aussagen, die das Alibi bestätigen kann. Außerdem stellt das | |
| Gericht in Aussicht, die Besuchszeiten für den Sohn von Martinez im | |
| Gefängnis zu erhöhen. Ein Kinderpsychologe empfiehlt, dass das Baby drei | |
| Mal pro Woche zu seiner Mutter gebracht werde, damit es sich nicht von ihr | |
| entfremde. Das Jugendamt hält dagegen, drei Mal sei zu aufwendig. Dann | |
| lenkt es ein. Das Gericht ordnet drei Besuche pro Woche an. | |
| Hinweis: In einer früheren Version hieß es: „Es werde wohl auf zwei Besuche | |
| pro Woche hinauslaufen, sagten die Richter. Drei Mal sei zu aufwendig.“ | |
| Korrekt ist, dass es dem Jugendamt zu aufwendig vorkam, nicht dem Gericht. | |
| 5 Jul 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Katharina Schipkowski | |
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