# taz.de -- Mutter unter Mordverdacht: Sieben Monate ohne Baby im Knast | |
> Im Mordprozess gegen eine Frau in Hamburg entlastet eine Kollegin die | |
> Angeklagte. Das Alibi war dem Gericht bekannt. Warum ist sie noch in | |
> Haft? | |
Bild: Spielplatz der Haftanstalt Hamburg-Billwerder | |
Die Anklage gegen Gabriela Martinez* sinkt mit jedem Verhandlungstag ein | |
bisschen mehr in sich zusammen. Martinez sitzt seit sieben Monaten in | |
Untersuchungshaft in Hamburg-Billwerder, die Staatsanwaltschaft wirft ihr | |
Mord vor. Seit Mitte Juni versucht das Landgericht herauszufinden, [1][ob | |
sich zweifelsfrei beweisen lässt, dass die 38-jährige Martinez den | |
69-jährigen Ignacio Lopez* am 12. Mai 2022 ermordet hat]. Doch es sieht | |
schlecht aus für die Theorie der Staatsanwaltschaft. | |
Die Anklagebehörde geht davon aus, dass Martinez Lopez aus Gründen der | |
Habgier ermordet hat, als sie im neunten Monat schwanger war. Lopez starb | |
durch rohe Gewalt in seiner eigenen Wohnung. Nachbarn, die vor Gericht als | |
Zeugen aussagten, berichteten von einem lauten Knall am Vormittag des 12. | |
Juli – gesehen hat den oder die Täter*innen aber niemand. Die | |
Ermittler*innen fanden keine Spuren einer Tatwaffe in Lopez’ Wohnung – | |
dafür unter anderem die DNA von Martinez. Die Rechtsmediziner stellten bei | |
dem Toten mehrere Rippenbrüche und gequetschte Atemwege fest – er starb | |
durch Ersticken. | |
[2][Mit dem Fund ihrer DNA] wurde Martinez von einer Zeugin zur | |
Hauptverdächtigen. Zuvor hatte sie freiwillig gegenüber der Polizei | |
ausgesagt und eine Speichelprobe abgegeben. Fünf Tage vor Lopez’ Tod sei | |
sie in seiner Wohnung gewesen, um sich als Haushaltshilfe zu bewerben, und | |
seine Hemden zu bügeln, hatte sie der Polizei gesagt. Die | |
Ermittler*innen waren die Kontakte in Lopez’ Handy durchgegangen und so | |
auf Martinez gestoßen. | |
Nach der Auswertung der DNA spürten die Ermittler*innen Martinez auf, | |
um sie festzunehmen – und fanden sie und ihren neugeborenen Sohn in einer | |
Schutzwohnung. Martinez hatte zu diesem Zeitpunkt keinen legalen Aufenthalt | |
und fürchtete eine Abschiebung. Ihr Heimatland Kolumbien hatte sie | |
verlassen, um in Deutschland Geld zu verdienen und ihren beiden größeren | |
Kindern eine Ausbildung zu finanzieren. Die Polizist*innen drangen in | |
die Schutzwohnung ein und brachten Martinez in Untersuchungshaft. Ihr Sohn | |
kam zu einer Pflegemutter. Diese reichte ihn weiter in ein Heim, kurz | |
darauf kam er in ein anderes Heim. | |
## Chatverlauf vom Tag des Mordes | |
Martinez Verteidigerinnen beantragten immer und immer wieder, das Baby zur | |
Mutter zu holen. Doch das Jugendamt sprach sich wiederholt dagegen aus, | |
auch die Haftanstalt führte vor allem organisatorische Gründe dagegen an. | |
Nur durch die beharrliche Arbeit ihrer Anwältinnen darf Martinez* ihr Baby | |
mittlerweile immerhin dreimal pro Woche sehen – statt einmal. | |
„Am 12. Mai habe ich zusammen mit Gabriela Martinez in einem Hotel | |
geputzt“, sagt Maria Silva* vor dem Landericht aus. Am achten | |
Verhandlungstag, dem vorletzten Termin vor der Sommerpause, ist sie als | |
Zeugin geladen. Die Richter*innen wissen schon, bevor sie sie befragen, | |
dass Silva Martinez’ Alibi bestätigen wird. Sie hat das schon gegenüber der | |
Polizei getan, außerdem hat sie den Ermittler*innen Stundenprotokolle | |
für ihren Arbeitgeber vorgelegt und ihr Handy zur Verfügung gestellt. | |
Bei Whatsapp ist ein Chatverlauf mit Martinez am Tag des Mordes | |
dokumentiert. Ab neun Uhr morgens schreiben die beiden Frauen hin und her: | |
„Guten Morgen Señora, ich bin unterwegs zum Hotel“, „Guten Morgen, ich b… | |
schon da, ich warte hier“. Im Laufe des Vormittags tauschen sie sich | |
darüber aus, welche Zimmer noch zu reinigen sind und wie Martinez, die neue | |
Mitarbeiterin, Zugang zu den Räumen erhält. „Komm in den siebten Stock“, | |
„Ich kann die Tür nicht öffnen“, „Ich komme zu dir“, heißt es da etw… | |
In der Verhandlung wollen die Richter*innen ganz genau von der Zeugin | |
wissen: Wie funktioniert das Zugangssystem für Mitarbeiter*innen? War Silva | |
die ganze Zeit mit Martinez zusammen? Wer hat noch mit ihnen gearbeitet? | |
Silva sagt aus, bis 13 Uhr im Hotel gewesen zu sein. Martinez sei dann noch | |
geblieben und habe mit einem anderen Mitarbeiter [3][weitere Zimmer | |
geputzt]. Es ist der gleiche Zeitraum, in dem Ignacio Lopez zu Tode | |
gekommen sein muss: Um 11:18 Uhr setzte er einen Notruf mit seinem Handy | |
ab, der in dem Moment allerdings folgenlos blieb. Er sagte „Hilfe, Hilfe“, | |
dann brach die Verbindung ab. | |
## Antrag auf Haftentlassung | |
Wenn das alles dem Gericht schon aus den Akten bekannt war – warum sitzt | |
Martinez dann noch in Untersuchungshaft? Auch das Hauptindiz gegen sie, die | |
DNA am Tatort, hat erheblich an Gewicht verloren, seit in der vergangenen | |
Woche die DNA-Gutachterin vom Landeskriminalamt ausgesagt hat. Ihr Tenor: | |
Die DNA stammt zwar von der Angeklagten, aber wie sie an den Tatort kam, | |
hat das LKA gar nicht untersucht. | |
Dazu liegt ein zweites, von der Verteidigung beauftragtes Gutachten vor. | |
Dessen Tenor wiederum: Es kann sein, dass die DNA am Tag des Mordes von | |
Ignacio Lopez dorthin gelangte. Aber genau so plausibel ist die Annahme, | |
dass sie sich seit fünf Tagen in der Wohnung befand und durch die | |
Tätigkeiten als Haushaltshilfe dorthin kam. | |
„Die Hauptverhandlung hat bislang nichts ergeben, was unsere Mandantin | |
belastet“, bilanziert Fenna Busmann am Ende des achten Verhandlungstages. | |
Sie fordert: „Unsere Mandantin muss sofort freigelassen werden.“ Einen | |
Antrag auf Haftentlassung reichen sie und ihre Kollegin entsprechend kurz | |
vor Schluss ein. Bis spätestens Freitag will das Gericht darüber | |
entscheiden. | |
*Namen geändert | |
Transparenzhinweis: In der ursprünglichen Version haben wir | |
fälschlicherweise geschrieben, dass die Angeklagte im Kirchenasyl war. Die | |
Angeklagte war zu keiner Zeit im Kirchenasyl. Die Redaktion | |
18 Jul 2023 | |
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## AUTOREN | |
Katharina Schipkowski | |
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