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# taz.de -- Freundschaft mit einem Gefängnisinsassen: Ein Platz in Freiheit
> Alexander saß jahrelang im Gefängnis. Unsere Autorin schrieb ihm Briefe
> dorthin. Jetzt kämpft er damit, sich wieder in der Freiheit
> zurechtzufinden.
Es passiert noch immer, dass Alexander in bestimmten Situationen
zusammenfährt. Neulich zum Beispiel, als er auf Geschäftsreise war und
abends in seinem Hotelzimmer lag. Draußen im Gang näherte sich jemand
seiner Zimmertür und hantierte dabei mit einem Schlüsselbund.
Einschlusszeit.
Gleich würde seine Zelle abgeschlossen und erst am nächsten Morgen wieder
geöffnet werden. So, wie es viele Jahre lang gewesen war. Jeden Abend und
jeden Morgen um dieselbe Zeit.
Aber die Person im Hotelflur ging vorbei, und mit ihr der Moment der
Anspannung.
Mehr als sein halbes Leben hat Alexander in JVAs verbracht: Von 53
Lebensjahren war er 28 im Gefängnis. Alexander heißt eigentlich anders –
genauso wie alle anderen, die in diesem Text vorkommen –, doch um
Diskriminierung zu vermeiden, bleibt er hier anonym. Es werden auch keine
Ortsnamen genannt. Denn seine Erfahrungen mit einem Outing als
Ex-Strafgefangener, der er seit vier Jahren ist, waren bislang nicht
ermutigend.
Mit seiner kriminellen Vergangenheit hat Alexander so weit als möglich
abgeschlossen. Weil er den Blick lieber nach vorn richtet, wird in diesem
Text nur wenig auf seine Biografie und seine Taten eingegangen. Alexander
hofft stattdessen, dass er mit seiner Geschichte dazu beitragen kann,
Vorurteile abzubauen. Denn nicht jeder, der einmal im Gefängnis war, geht
dorthin zurück.
Er will sich dazu äußern, wie es jemandem geht, der im Gefängnis sitzt und
nach langer Zeit der Inhaftierung wieder rauskommt. Und der alles dafür
tut, einen Platz inmitten unserer Gesellschaft zu finden.
Aber gibt es den für Menschen mit seiner Vergangenheit überhaupt?
Alexander und ich kennen uns seit 21 Jahren. Er ist acht Jahre jünger als
ich. Beim Durchblättern der taz stieß ich auf eine Anzeige der
Humanistischen Union (HU), die für Briefkontakte zu Strafgefangenen warb.
Eine Gelegenheit für Menschen in Freiheit, ihre Vorurteile abzubauen, hieß
es. Und Inhaftierte behielten den Bezug nach „draußen“. Ich wurde
neugierig. Einen Blick in das Leben eines Gefängnisinsassen werfen und im
Gegenzug aus meinem Alltag berichten? Das kam mir wie ein guter Deal vor.
Frau Ehrlich, die den Briefverkehr koordinierte, schlug mir vor, einem
lebenslangen Inhaftierten zu schreiben. Der würde nicht so schnell
rauskommen und dann vor meiner Tür stehen, überlegte ich. Aber die
Vorstellung, Kontakt zu jemandem zu haben, der wahrscheinlich ein
Gewalttäter war, fand ich etwas unheimlich. Schließlich wollte ich weder
mich noch meinen Partner und unsere Kinder gefährden.
„Die [1][Rückfallquote] bei Gewalttätern ist viel geringer als bei
Betrügern und Dieben“, klärte mich Frau Ehrlich auf. Diese Information
sollte mich beruhigen. Lieber hätte ich eine weibliche Gefangene als
Brieffreundin gehabt, aber laut Frau Ehrlich ist bei ihnen der Bedarf
geringer. Frauen pflegen im Gefängnis ihre sozialen Beziehungen in der
Regel besser als Männer, bei denen die Kontakte bröckeln, je länger sie in
Haft sind. Und der größte Anteil von Langzeitinhaftierten besteht nun
einmal aus Männern.
Frau Ehrlichs Argumente überzeugten mich. Sie ließ mir drei Briefe
zukommen, von denen ich mir einen aussuchen sollte. Die Männer hatten sie
aus verschiedenen JVAs ins Blaue hineingeschrieben, ohne zu wissen, wen sie
erreichen. Der Schreibstil des dritten Briefes war knapp und persönlich.
Seine Straftat erwähnte Alexander nicht. Er experimentiere mit
elektronischer Musik und spare gerade auf einen neuen Synthesizer, erzählte
er. Die Musik helfe ihm, seine Empfindungen auszudrücken. Das konnte ich
nachvollziehen und so fiel meine Wahl auf ihn.
„Kein Geld, keine Besuche und keine Partnerschaft“, beugte ich gleich
Missverständnissen vor. „Eigentlich suche ich eine Frau, die auf mich
wartet, wenn ich mal rauskomme“, antwortete Alexander. Aber er gab sich mit
meinem spärlichen Angebot zufrieden. Vermutlich hatte sich außer mir
niemand gemeldet.
Die Humanistische Union vermittelt schon lange keine Briefkontakte mehr.
Heute ist [2][Jail Mail] eine wichtige Plattform, die seit Oktober 2021
einen kostenfreien Vermittlungsdienst anbietet. Wie auch Frau Ehrlich
damals, rät Jail Mail beiden Seiten, als Erstes die gegenseitigen
Erwartungen abzuklären.
Was hatte Alexander getan, um in der JVA zu landen? Obwohl mich das
beschäftigte, fand ich, es stünde mir nicht zu, in den dunkelsten Ecken
seines Lebens zu stöbern, schließlich kannten wir uns nicht. Er saß schon
seit zwölf Jahren im Gefängnis, und hatte noch einige Jahre vor sich. Ein
hohes Strafmaß. Vermutlich hatte er jemanden getötet.
Alexanders Briefe waren manchmal wie Tagebucheinträge. „Was hat in meinem
Leben wirklich Substanz?“, fragte er eher sich als mich einmal. „Worauf
kann ich aufbauen, wenn ich einmal draußen bin?“
Ich begann, mich auf seine Briefe zu freuen. Manche Bemerkungen brachten
mich zum Schmunzeln: „Ob ich gern lese? Wenn ich mir die
Bedienungsanleitung zu meinem Synthesizer vornehme, kann ich schon mal drei
Stunden dranbleiben“, schrieb er.
Als ich ihm einmal von einer Auseinandersetzung mit meinen Kindern
berichtete, merkte ich, dass er sich in Erziehungsprobleme einfühlen
konnte. Das ermutigte mich, ihm jetzt öfter von meinem stressigen Alltag
als Mutter zu schreiben. „Nur nicht die Beziehung zu den Kindern
verlieren“, riet er.
Dieses Kunststück war seinen Eltern nicht gelungen. Er hatte schon früh
gelernt, Konflikte mit Gewalt zu lösen. Die Verhältnisse, in denen er
aufgewachsen war, waren chaotisch und lieblos gewesen. Schon mit sieben
Jahren hatte Alexander seinen Vater bei Einbrüchen begleitet. Nach der
Scheidung der Eltern waren seine Geschwister und er ins Heim gekommen. Er
hörte nur unregelmäßig von ihnen. Den Kontakt zu seinem Vater hatte er
längst abgebrochen.
Das Vertrauen zwischen uns wuchs. Er habe oft Albträume, berichtete
Alexander, und wache in Schweiß gebadet auf. Nachts verfolgten ihn
schreckliche Bilder, die sich ihm durch seine Taten eingeprägt hatten. Was
er getan hatte, wusste ich auch nach ein paar Monaten noch nicht.
Es gab zwei Menschen im Knast, denen Alexander vertraute. Und er liebte
seine Arbeit. Er erwähnte oft seinen Seelsorger, einen älteren Diakon. Und
dann gab es noch den Meister in der Tischlerei, der Alexander ermutigt
hatte, die Schreinerausbildung zu machen. Der ihm beistand, bis er den
Abschluss in der Tasche hatte. Zwei Menschen, die an ihn glaubten. Die
Arbeit in der Tischlerei war kurzweilig, sie strukturierte seinen Alltag
und er bekam für seine guten Leistungen soziale Anerkennung. Aber er
verdiente mit einem Tageslohn von zirka 12,50 Euro fast nichts. Denn
inhaftierte, arbeitende Personen gelten nicht als Arbeitnehmer:innen,
sodass sie keinen Anspruch auf den Mindestlohn haben. Die Arbeit wird als
Maßnahme der [3][Resozialisierung] verstanden.
„Wie passt das mit dem Resozialisierungsgedanken zusammen, dass wir durch
Arbeit Anerkennung bekommen sollen, es aber keinen gerechten Lohnausgleich
gibt?“, fragte Alexander. Die Antwort darauf kannte ich auch nicht.
Das Bundesverfassungsgericht hat 1977 das Recht zur Resozialisierung
formuliert. Zur inneren Ausgestaltung des Vollzugs soll vor allem gehören,
dass die Häftlinge vom ersten Tag der Inhaftierung an auf den Tag der
Entlassung vorbereitet werden, um dann ein Leben in Freiheit ohne
Straftaten führen zu können. „Nur schöne Worte“, war Alexanders Kommenta…
Er hatte sich zu einer weiteren Ausbildung angemeldet, dieses Mal im
EDV-Bereich. „Aber die Abschlussprüfung kann nicht durchgeführt werden,
weil wir im Gefängnis nicht ins Internet dürfen“, sagt er. Was nützte ihm
eine unvollständige Ausbildung?
Auch die [4][Bundeszentrale für politische Bildung] kommt zum Schluss, dass
die Arbeits- und Ausbildungsangebote im Vollzug häufig nicht den
Beschäftigungsbedingungen in Freiheit entsprechen. Die geringe Entlohnung,
die neun Prozent des durchschnittlichen Arbeitsentgelts entspricht,
vermittle weder eine positive Einstellung zur Arbeit, noch könne eine
Grundlage für anstehende Schuldentilgungen geschaffen werden. Denn für die
meisten Gefangenen bedeute die Schuldenlast das größte Hindernis für ein
späteres straffreies Leben. Ein neues Urteil des
[5][Bundesverfassungsgerichts] zur angemessenen Anerkennung von
Haft-Arbeit könnte die Situation künftig verbessern. Alexander hat von
dieser möglichen Verbesserung nichts mehr.
Nicht alle meine Freund:innen fanden es gut, dass ich mich mit einem
Schwerverbrecher anfreundete. Aber die meisten konnten verstehen, warum ich
Alexander schrieb. Bei anderen ahnte ich, wie ihnen bei der Frage, was er
denn getan hatte, ein Schauer über den Rücken lief. Und dann die
Enttäuschung, weil ich es nicht wusste. „Bringe ihn bloß nie mit zu uns
nach Hause“, warnte mich ein Freund, der um seine Sicherheit fürchtete. „Du
solltest dich lieber um die Opfer als um den Täter kümmern. Die hätten es
mehr verdient“, belehrte mich eine Freundin.
Diese Aussagen verunsicherten mich. Ich dachte, mein Freundeskreis wäre
tolerant. Doch wenn einige von ihnen Alexander schon keine Chance geben
wollten, mochte ich mir gar nicht vorstellen, wie es bei anderen aussah.
Aber auch meine Toleranz hatte Grenzen. Was, wenn Alexander ein
Rechtsradikaler, ein Vergewaltiger, Frauen- oder Kindermörder war?
Hoffentlich nicht, dachte ich, denn das war so ungefähr das Schlimmste, was
ich mir vorstellen konnte. Mit der Brieffreundschaft wäre es dann wohl
vorbei. Aber war es logisch, ein Gewaltverbrechen einem anderen
vorzuziehen? Wäre Alexander vertrauenswürdiger, wenn er einen Mann
umgebracht hatte, und nicht eine Frau oder ein Kind?
Gegen meine eigene Regel beschloss ich nach einem Jahr, Alexander im
Gefängnis zu besuchen. Ich wollte der Person, die hinter den Briefen
steckte, persönlich begegnen. Und sehen, in welcher Umgebung Alexander
lebte. Außerdem wollte ich endlich wissen, was er getan hatte. „Ich erzähle
es dir, wenn du da bist“, hatte er versprochen.
Der Besucherraum in der JVA war mit Tischen und Stühlen aus den siebziger
Jahren möbliert, Getränke und Snacks gab es an der Theke. Ich wartete
darauf, dass sich die Tür zum Innersten der JVA öffnete. Und dann stand
Alexander vor mir, ein schiefes Grinsen im Gesicht, auf dem Kopf eine
verkehrt herum aufgesetzte Baseballcap.
Mit Schwung ließ er sich auf den freien Stuhl mir gegenüber fallen. Er fing
an zu reden und hörte nicht mehr auf, bis die Besuchszeit um war. Ich
erfuhr, dass er als 21-Jähriger im Abstand eines halben Jahres zwei Männer
ausgeraubt und ermordet hatte. Aus Habgier. „Ich war einfach nur kalt“,
sagte Alexander, und es gab einen kurzen Moment, in dem ich dachte: Er
sieht harmlos aus, ist es aber nicht. Und im nächsten: Kann jemand, der
solche Taten begangen hat, jemals mit sich ins Reine kommen? Später schrieb
er: „Du bist die erste Person, der ich das alles erzählt habe. Und die
einfach nur zugehört hat.“
Alexander war des Mordes in zwei Fällen für schuldig befunden worden. Im
deutschen Strafgesetzbuch wird Mord durch bestimmte Merkmale von anderen
Tötungsdelikten wie Totschlag abgegrenzt. Diese sind neben Habgier unter
anderem Heimtücke oder Grausamkeit.
Wenn von einem Gutachten bestätigt wird, dass von dem Betroffenen keine
erneute Gefahr ausgeht, kann der Strafgefangene frühestens nach 15 Jahren
entlassen werden. Aber in Alexanders Fall wurde eine „besondere Schwere der
Schuld“ festgestellt, so dass sich die Haftdauer verlängern würde.
Mit der Zeit begann Alexander, andere Gefangene zu meiden, um den täglichen
Streitereien zu entgehen, erfuhr ich von ihm. Auch auf Drogen- und
Alkoholexzesse würde er verzichten. Dass es diese im Gefängnis gab, war
also keine Erfindung von Filmregisseuren.
Der Nebeneffekt seines Rückzugs war, dass Gefühle, die bis dahin
unterdrückt worden waren, an die Oberfläche kamen. Am schlimmsten seien die
Schuldgefühle, schrieb er. Er fragte sich, ob er den Angehörigen seiner
Opfer einen Brief schreiben sollte. Sein Seelsorger riet davon ab. Die
Gefahr, an deren Trauma zu rühren, sei zu hoch, sagte er.
Aber wohin mit den Fragen, der Unruhe, den schwierigen Gefühlen, für die
Alexander keinen Namen hatte? Es gab keine fortlaufende Therapie, und die
Psychologin war häufig krank. Wenigstens gab es das Musikmachen, um sein
inneres Chaos zu beruhigen. Was hatte Alexander zu einem Mörder gemacht?
Würde er das jemals selbst verstehen?
Bei der Verurteilung war Alexander als psychisch gesund eingestuft worden.
Deshalb wurde er in eine Justizvollzugsanstalt und nicht in den
Maßregelvollzug eingewiesen, wo die Unterbringung von psychisch kranken
oder suchtkranken Strafgefangenen stattfindet. Aber im Gegensatz zum
Maßregelvollzug gibt es in einer regulären JVA nicht zwangsläufig
therapeutische Angebote. Die hatte er aber dringend nötig.
Laut den Zürcher Forensiker:innen Friederike Höfer und Steffen Lau
könnte jede:r einen Mord begehen, da jede:r über emotionale Impulse
verfügt, die destruktiv sind. Extrem schlechte Bedingungen beim Aufwachsen
können Menschen anfällig für das Begehen von Straftaten machen – auch wenn
keine schwere psychische Erkrankung vorliegt. Aber es ist wichtig zu
wissen, wie das Verhalten zustande gekommen ist, um es nachhaltig ändern zu
können.
Die meisten Straftäter unterscheiden sich letztlich nur in wenigen
Teilbereichen von anderen Menschen, erklärt die forensische Psychiaterin
[6][Nahlah Saimeh]. Wie der Täter schon in der frühen Kindheit
zwischenmenschliche Beziehungen erlebt habe, spiele für die Entwicklung der
Persönlichkeit und für das spätere Verbrechen meistens eine Rolle. Dass
viele Delinquenten oft selbst Opfer einer lieblosen und grausamen Kindheit
waren, befreie sie aber nicht von der Verantwortung für ihre Tat. Die
Kindheit kann nicht korrigiert werden, schreibt sie. Nur das eigene
Verhalten lässt sich in der Zukunft beeinflussen.
Schon beim zweiten Besuch begrüßten mich die Strafvollzugsbeamten wie eine
alte Bekannte. Es wurde mir zur Routine, Alexander einmal im Jahr zu
besuchen. Auch mein Mann kam einmal mit, und selbst unsere Kinder.
Schließlich sollten auch sie die Person kennenlernen, die ihnen zum
Geburtstag schöne Karten malte. Außerdem fand ich, dass es ihrer Bildung
nicht schaden konnte, ein Gefängnis von innen zu sehen. „Es ist gut zu
wissen, dass es da draußen Menschen gibt, denen ich etwas bedeute“, schrieb
Alexander nach einem solchen Besuch. „Ehrlich gesagt, fühle ich mich ein
bisschen wie ein Teil eurer Familie.“
Manchmal gab es in seinem Leben kleine Lichtblicke wie ein anstehendes
Konzert. „Nächste Woche geht es auf Tour!“, verkündete Alexander eines
Tages. Er hatte mit Knast-Kollegen eine kleine Gefängnisband aufgebaut. Zum
ersten Mal würden sie in einer anderen JVA auftreten. Zur Aufführung eines
Theaterprojektes im Gefängnis, bei dem er die Musik machte, reiste ich zur
Premiere an und schrieb darüber für die Zeitung. Und einmal vertonte er
eine meiner Kurzgeschichten.
Doch oft war da viel Frust.
„So geht es nicht weiter“, schrieb er 2009. „Ich bewerbe mich um eine
Sozialtherapie in einem anderen Gefängnis, damit ich mehr therapeutische
Unterstützung bekomme.“
In sozialtherapeutischen Anstalten („Sothas“) sollen Straftäter lernen zu
verstehen, wie es zu ihrer Tat gekommen ist und was sie tun können, um
einen Rückfall zu vermeiden. Sie sind personell und räumlich besser
ausgestattet als der normale Strafvollzug, um gezielt Rückfallprävention zu
betreiben und Resozialisierungschancen zu erhöhen. Die zentrale Aufgabe von
Sothas ist der Schutz der Öffentlichkeit vor weiteren schweren Straftaten.
Im [7][Strafvollzugsgesetz] ist seit 1977 die Unterbringung von Gewalt- und
Sexualstraftätern, deren Strafmaß mindestens zwei Jahre beträgt, in solchen
Einrichtungen verankert.
In der Regel, so erklärte mir Alexander, wird ein Wechsel in eine
sozialtherapeutische Anstalt gegen Ende der Haft empfohlen, wenn die
Entlassung bevorsteht. Somit kann ein nahtloser Übergang in die Freiheit
stattfinden.
Bei einer erfolgreichen Behandlung würde außerdem die Aussicht auf eine
vorzeitige Haftentlassung steigen, hoffte Alexander. Die Aussicht darauf
löste inzwischen keine Besorgnis mehr bei mir aus. Wir waren nun seit etwa
acht Jahren befreundet. Mittlerweile freute ich mich darauf, ihm
irgendwann einmal unser Zuhause zu zeigen.
Doch bis heute quält mich eine Frage: Soll ich meine Freund:innen über
seine Vergangenheit aufklären, wenn er uns einmal besuchen käme? Ihnen die
Wahl geben zu entscheiden, ob sie ihn, einen ehemaligen Gewalttäter,
überhaupt kennenlernen wollen? Aber wäre das nicht ein Eingriff in seine
Persönlichkeitsrechte? Den kriminellen Teil seiner Vergangenheit zu
verbergen, erscheint mir bis heute nicht richtig. Ist doch aber seine
Privatsache. Oder nicht?
Wie ich es auch drehe und wende, ich finde keine eindeutige Antwort. „So,
wie du es machst, ist es für mich in Ordnung“, ist Alexanders Meinung dazu.
„Es würde dir also nichts ausmachen, wenn lauter für dich fremde Leute
wüssten, dass du im Knast warst?“ „Stimmt ja schließlich“, sagt er. „…
lieber wäre es mir, als der gesehen zu werden, der ich heute bin. Und nicht
als der, der ich einmal war.“
2011 zog Alexander in eine Haftanstalt mit sozialtherapeutischer Abteilung
um. Es sollte trotzdem noch weitere acht Jahre bis zu seiner Entlassung
dauern. Nach einem Jahr intensiver Sozialtherapie berichtete er, dass er
sich oft überfordert fühlte: „So, als müsste ich Lesen, Schreiben, Rechnen,
alles auf einmal lernen. Und das sind nur meine Gefühle. Jetzt nehme ich
auch noch die der anderen wahr.“
Als ich ihn in der neuen Einrichtung besuchte, standen zwei Kisten mit
elektronischen Geräten bereit. „Nimm alles mit“, sagte Alexander. Obwohl er
sich die Geräte mühsam von seinem kleinen Verdienst zusammengespart hatte,
wollte er sie nun unserem mittlerweile volljährigen Sohn vermachen. Seine
Gedanken kreisten nur noch um die Therapien. Und wie das Leben draußen
einmal für ihn sein würde. Die ersten Jahre im Gefängnis betrachtete er als
verloren: „Weil ich lange einfach so weitermachte wie draußen.“
In der Sozialtherapie erkannte Alexander, dass er nie gelernt hatte,
liebevolle Bindungen aufzubauen. Er hatte sich immer weiter von der
Gesellschaft entfremdet, bis ihm andere Menschen egal waren. Rührte daher
die Kaltblütigkeit, die ihn zwei Morde ausführen ließ? „Ich bin selbst für
meine Taten verantwortlich“, sagt er. „Auch wenn ich eine Scheißkindheit
und Scheißjugend hatte: Ich war volljährig. Ich wusste, was ich tat.“
Manchmal sprachen wir über die Liebe. Besonders schlimm sei für ihn das
Gefühl von Einsamkeit. „Manchmal sehne ich mich nach einer Beziehung. Das
Alleinsein ist auf Dauer etwas ganz Schreckliches.“ Aber ob ihn überhaupt
jemand mit seiner Vergangenheit wolle? „Da wird sich doch jede denken: Ne,
auf so einen Typ lasse ich mich lieber nicht ein. Viel zu gefährlich.“
Im offenen Vollzug, in den er die letzten drei Jahre vor der Entlassung
kam, gab es neue Freiheiten. Eine davon war das Schreiben von E-Mails.
Beim Öffnen seiner neuesten Nachricht bemerkte ich ungewöhnlich viele
Ausrufezeichen. „Die tollste aller Frauen heißt Saskia!“, stand da, und in
meiner Herzgegend bemerkte ich einen winzig kleinen Stich. „Sie trägt
knallbunte Kleider und strotzt vor Lebensfreude!“
Zunächst verheimlichte er Saskia seine kriminelle Vergangenheit. Aber als
er merkte, dass die Sache ernst wurde, gestand er ihr, dass er im offenen
Strafvollzug lebte. Und im Knast schlief, wenn er nicht bei ihr war.
Saskia sagte nichts dazu. Sie zog sich ins Schlafzimmer zurück und drehte
die Musik so weit auf, wie es nur ging. Aber es habe dann doch nicht lange
gedauert, bis sie sich wieder blicken ließ, berichtete mir Alexander.
„Erzähl mir alles“, verlangte sie. Alexander ließ nichts aus. Und Saskia
entschied sich für die Beziehung.
Drei Jahre später entschied das für eine Entlassung notwendige
Prognosegutachten, dass von Alexander keine Gefahr mehr ausging.
Seit vier Jahren lebt er nun in Freiheit. Er und Saskia wohnen in einem
ruhigen Viertel am Stadtrand. Die Fenster ihrer Wohnung sind mit
Lichterketten geschmückt, die im Dunkeln funkeln. Ich besuche die beiden,
weil ich wissen will, ob Alexander mittlerweile in seinem neuen Leben
angekommen ist.
Akkurat stehen die Bücher nach Farben geordnet, an den Wänden hängen nur
wenige Bilder: Saskia und Alexander beim Radeln, Wandern und Bootfahren.
Warum ist sonst niemand auf den Fotos? „Zu meiner Familie habe ich kaum
noch Kontakt“, sagt Alexander. Und überhaupt, warum sollte man etwas an die
Wand hängen, das einen an früher erinnert? Die Gegenwart ist doch viel
interessanter.
Bis heute weiß keiner im Umfeld der beiden, dass Alexander ein
Ex-Strafgefangener ist. Auch Saskias Eltern nicht. Aber die stellen
glücklicherweise sowieso kaum Fragen.
Alexander sagt, er weiß doch, wie die Leute reagieren würden. Da gab es mal
einen Arbeitskollegen, der über Knackis herzog, dass es Alexander schlecht
wurde. Solche Leute würden nur Ekel und Hass empfinden, wenn sie wüssten,
dass er mal in Haft war. Das will er sich nicht antun.
Saskia stellt dampfende Teetassen vor uns auf den Tisch, während Alexander
von seinen ersten Schritten ins Arbeitsleben „draußen“ berichtet.
Nur einmal hat er probiert, offen mit seiner Vergangenheit umzugehen.
Sein erster Chef war ein sozial eingestellter Typ, der Alexander eine
Chance geben wollte. Die Arbeit war nichts Kreatives und keine
handwerkliche Herausforderung, aber Alexander konnte davon leben. Ein Hauch
von Normalität stellte sich ein.
Mit einer Kollegin verstand Alexander sich besonders gut. Ihr Bruder
arbeitete in einer JVA, das Thema war ihr nicht fremd. Alexander erzählte
ihr, dass auch er den Knast von innen kennt. Und weshalb er gesessen hatte.
Von da ab wollte sie nicht mehr in einem Raum mit ihm sein. „Als wäre ich
ein Aussätziger“, erinnert sich Alexander. Sein Chef rügte die Kollegin:
„Alexander hat seine Strafe verbüßt. Er hat das Recht, so behandelt zu
werden wie jeder andere.“ Dass sein Chef zu ihm hielt, tat gut. Aber die
Kollegen tuschelten hinter seinem Rücken. Keiner sah ihm mehr richtig in
die Augen. Die Atmosphäre war vergiftet. Alexander kündigte und bewarb sich
bei einer anderen Firma.
Die Frage im Personalfragebogen, ob er vorbestraft sei, verneinte er dieses
Mal. Und bekam den Job.
„Wie ist es, wenn man einen großen Teil seines Lebens aus Angst vor
Ablehnung verheimlicht?“ will ich wissen. „Es fühlt sich nicht gut an. Aber
es ist ein notwendiger Selbstschutz“, antwortet Alexander.
Als Ex-Strafgefangener ist er nur verpflichtet, ehrlich zu sein, wenn das
begangene Delikt für den Arbeitsplatz relevant ist. Und auch nur dann darf
der Arbeitgeber ein polizeiliches Führungszeugnis verlangen. Laut
Arbeitsrecht werde die Resozialisierung sonst behindert, die
Individualrechte sollen geschützt werden. „Doch sollte je herauskommen,
dass ich im Gefängnis war, wäre ich die Stelle wohl trotzdem los“, sagt
Alexander. In dem Fall könnte er sich zwar an das Arbeitsgericht oder an
die Antidiskriminierungsstelle des Bundes wenden, aber mit dem guten
Arbeitsverhältnis wäre es dann vorbei. Das Tuscheln hinter seinem Rücken
begänne von vorn.
Über die Vergangenheit denke er nicht mehr nach, sagt Alexander. Trotzdem
ist sie immer irgendwie präsent. Das merkt er an seinen Träumen.
In einem sitzt er im Knast auf gepackten Koffern und wartet auf seine
Entlassung. Das Gefühl von Ausgeliefertsein und Ohnmacht befällt ihn. Er
ist auf die Gnade anderer angewiesen, vielleicht muss er für immer
drinbleiben. „Das Unterbewusstsein ist noch nicht ganz in der Freiheit
angekommen“, sagt er.
Und die Schuldgefühle? „Die sind immer da.“ Manchmal kommt es vor, dass er
gemütlich auf dem Sofa sitzt. Und dann geht es los. Ein kalter Schauer
schüttelt seinen Körper, als hätte er eine Krankheit. Und noch bevor er
darüber nachdenkt, spürt er ein starkes Gefühl: Scham. „Ich werde nie
wiedergutmachen können, was ich anderen angetan habe“, sagt er. „Keine
Ahnung, ob ich mir jemals selbst verzeihen kann.“
Alexander und Saskia sorgen sich um ihre finanzielle Zukunft. Alexander
durfte als arbeitender Strafgefangener nicht in die Rentenversicherung
einzahlen. „Deshalb fehlen mir 25 bis 30 Jahre Renteneinzahlung. Auf mich
warten Mindestrente und Altersarmut“, sagt er. Im Moment haben beide gute
Jobs, aber wie wird es später einmal sein? Er wird so lange arbeiten
müssen, bis er tot umfällt, sagt er, wenn er Saskia nicht auf der Tasche
liegen will. „Dazu kommt, dass wir Ex-Gefangenen, die für die Entlassung
notwendigen Gutachten selbst bezahlen müssen, das sind ungefähr 10.000 bis
15.000 Euro.“ So stehen viele Strafgefangene nach der Entlassung mit einem
Berg Schulden da. Wenn dann die Rente beginnt, sind sie auf Hilfe und
Zuschüsse angewiesen – obwohl sie unter Umständen, so wie Alexander, die
ganzen Jahre im Gefängnis gearbeitet haben.
Zuletzt hatte die Justizministerkonferenz der Länder im Juni 2018 einen
neuen Anlauf genommen, die in Haft arbeitenden Strafgefangenen in die
gesetzliche [8][Rentenversicherung] aufzunehmen. Wieder, wie schon zehn
Jahre zuvor, wurde dies als sinnvoll erachtet. Aber die Bundesregierung gab
im März 2019 bekannt, dass sie derzeit keine weiteren Schritte vorsieht.
Eine Frage brennt mir auf der Seele. Ich fürchte, Alexander damit zu
kränken. Er könnte denken, dass ich ihm trotz unserer langjährigen
Freundschaft nicht über den Weg traue. „Woher weißt du eigentlich, dass du
nicht rückfällig werden könntest?“ Alexanders Antwort: „Inzwischen kenne
ich meine Schwachpunkte und weiß, welche Situationen ich vermeiden muss.
Und wo ich Unterstützung bekomme, wenn ich sie brauche.“ Mit seinem
Ex-Therapeuten, der für seine Nachsorge zuständig war, steht er noch locker
in Kontakt. Außerdem gibt es noch die Bewährungshelferin. Allerdings nicht
mehr lange, dann sind die fünf Jahre, die sie für ihn zuständig war, um.
Früher hat er sich auf Kosten anderer einfach genommen, was er wollte, sagt
er. Damit sei es vorbei. „Heute sind mir ganz andere Dinge wichtig als
früher: Partnerschaft. Freunde. Ein Job, der mir Spaß macht. Finanzielle
Sicherheit.“
„Bist du eigentlich angekommen in der Freiheit?“, frage ich.
Dieses Mal überlegt Alexander etwas länger. „Vielleicht habe ich schon
meinen Platz gefunden, ohne es zu merken“, sagt er.
11 Dec 2023
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[1] https://www.bmj.de/SharedDocs/Publikationen/DE/Fachpublikationen/2021_Rueck…
[2] https://www.jail-mail.de
[3] https://www.gesetze-im-internet.de/bgb/__611a.html
[4] https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/izpb/kriminalitaet-und-strafrecht-306…
[5] https://www.mdr.de/nachrichten/deutschland/gesellschaft/urteil-bverfg-gefan…
[6] /Forensikerin-ueber-das-Boese/!5658834
[7] https://www.strafgesetzbuch-stgb.de/stvollzg/9.html
[8] https://www.justiz.nrw.de/JM/jumiko/beschluesse/2018/Fruehjahrskonferenz_20…
## AUTOREN
Christine Leutkart
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