# taz.de -- Freundschaft mit einem Gefängnisinsassen: Ein Platz in Freiheit | |
> Alexander saß jahrelang im Gefängnis. Unsere Autorin schrieb ihm Briefe | |
> dorthin. Jetzt kämpft er damit, sich wieder in der Freiheit | |
> zurechtzufinden. | |
Es passiert noch immer, dass Alexander in bestimmten Situationen | |
zusammenfährt. Neulich zum Beispiel, als er auf Geschäftsreise war und | |
abends in seinem Hotelzimmer lag. Draußen im Gang näherte sich jemand | |
seiner Zimmertür und hantierte dabei mit einem Schlüsselbund. | |
Einschlusszeit. | |
Gleich würde seine Zelle abgeschlossen und erst am nächsten Morgen wieder | |
geöffnet werden. So, wie es viele Jahre lang gewesen war. Jeden Abend und | |
jeden Morgen um dieselbe Zeit. | |
Aber die Person im Hotelflur ging vorbei, und mit ihr der Moment der | |
Anspannung. | |
Mehr als sein halbes Leben hat Alexander in JVAs verbracht: Von 53 | |
Lebensjahren war er 28 im Gefängnis. Alexander heißt eigentlich anders – | |
genauso wie alle anderen, die in diesem Text vorkommen –, doch um | |
Diskriminierung zu vermeiden, bleibt er hier anonym. Es werden auch keine | |
Ortsnamen genannt. Denn seine Erfahrungen mit einem Outing als | |
Ex-Strafgefangener, der er seit vier Jahren ist, waren bislang nicht | |
ermutigend. | |
Mit seiner kriminellen Vergangenheit hat Alexander so weit als möglich | |
abgeschlossen. Weil er den Blick lieber nach vorn richtet, wird in diesem | |
Text nur wenig auf seine Biografie und seine Taten eingegangen. Alexander | |
hofft stattdessen, dass er mit seiner Geschichte dazu beitragen kann, | |
Vorurteile abzubauen. Denn nicht jeder, der einmal im Gefängnis war, geht | |
dorthin zurück. | |
Er will sich dazu äußern, wie es jemandem geht, der im Gefängnis sitzt und | |
nach langer Zeit der Inhaftierung wieder rauskommt. Und der alles dafür | |
tut, einen Platz inmitten unserer Gesellschaft zu finden. | |
Aber gibt es den für Menschen mit seiner Vergangenheit überhaupt? | |
Alexander und ich kennen uns seit 21 Jahren. Er ist acht Jahre jünger als | |
ich. Beim Durchblättern der taz stieß ich auf eine Anzeige der | |
Humanistischen Union (HU), die für Briefkontakte zu Strafgefangenen warb. | |
Eine Gelegenheit für Menschen in Freiheit, ihre Vorurteile abzubauen, hieß | |
es. Und Inhaftierte behielten den Bezug nach „draußen“. Ich wurde | |
neugierig. Einen Blick in das Leben eines Gefängnisinsassen werfen und im | |
Gegenzug aus meinem Alltag berichten? Das kam mir wie ein guter Deal vor. | |
Frau Ehrlich, die den Briefverkehr koordinierte, schlug mir vor, einem | |
lebenslangen Inhaftierten zu schreiben. Der würde nicht so schnell | |
rauskommen und dann vor meiner Tür stehen, überlegte ich. Aber die | |
Vorstellung, Kontakt zu jemandem zu haben, der wahrscheinlich ein | |
Gewalttäter war, fand ich etwas unheimlich. Schließlich wollte ich weder | |
mich noch meinen Partner und unsere Kinder gefährden. | |
„Die [1][Rückfallquote] bei Gewalttätern ist viel geringer als bei | |
Betrügern und Dieben“, klärte mich Frau Ehrlich auf. Diese Information | |
sollte mich beruhigen. Lieber hätte ich eine weibliche Gefangene als | |
Brieffreundin gehabt, aber laut Frau Ehrlich ist bei ihnen der Bedarf | |
geringer. Frauen pflegen im Gefängnis ihre sozialen Beziehungen in der | |
Regel besser als Männer, bei denen die Kontakte bröckeln, je länger sie in | |
Haft sind. Und der größte Anteil von Langzeitinhaftierten besteht nun | |
einmal aus Männern. | |
Frau Ehrlichs Argumente überzeugten mich. Sie ließ mir drei Briefe | |
zukommen, von denen ich mir einen aussuchen sollte. Die Männer hatten sie | |
aus verschiedenen JVAs ins Blaue hineingeschrieben, ohne zu wissen, wen sie | |
erreichen. Der Schreibstil des dritten Briefes war knapp und persönlich. | |
Seine Straftat erwähnte Alexander nicht. Er experimentiere mit | |
elektronischer Musik und spare gerade auf einen neuen Synthesizer, erzählte | |
er. Die Musik helfe ihm, seine Empfindungen auszudrücken. Das konnte ich | |
nachvollziehen und so fiel meine Wahl auf ihn. | |
„Kein Geld, keine Besuche und keine Partnerschaft“, beugte ich gleich | |
Missverständnissen vor. „Eigentlich suche ich eine Frau, die auf mich | |
wartet, wenn ich mal rauskomme“, antwortete Alexander. Aber er gab sich mit | |
meinem spärlichen Angebot zufrieden. Vermutlich hatte sich außer mir | |
niemand gemeldet. | |
Die Humanistische Union vermittelt schon lange keine Briefkontakte mehr. | |
Heute ist [2][Jail Mail] eine wichtige Plattform, die seit Oktober 2021 | |
einen kostenfreien Vermittlungsdienst anbietet. Wie auch Frau Ehrlich | |
damals, rät Jail Mail beiden Seiten, als Erstes die gegenseitigen | |
Erwartungen abzuklären. | |
Was hatte Alexander getan, um in der JVA zu landen? Obwohl mich das | |
beschäftigte, fand ich, es stünde mir nicht zu, in den dunkelsten Ecken | |
seines Lebens zu stöbern, schließlich kannten wir uns nicht. Er saß schon | |
seit zwölf Jahren im Gefängnis, und hatte noch einige Jahre vor sich. Ein | |
hohes Strafmaß. Vermutlich hatte er jemanden getötet. | |
Alexanders Briefe waren manchmal wie Tagebucheinträge. „Was hat in meinem | |
Leben wirklich Substanz?“, fragte er eher sich als mich einmal. „Worauf | |
kann ich aufbauen, wenn ich einmal draußen bin?“ | |
Ich begann, mich auf seine Briefe zu freuen. Manche Bemerkungen brachten | |
mich zum Schmunzeln: „Ob ich gern lese? Wenn ich mir die | |
Bedienungsanleitung zu meinem Synthesizer vornehme, kann ich schon mal drei | |
Stunden dranbleiben“, schrieb er. | |
Als ich ihm einmal von einer Auseinandersetzung mit meinen Kindern | |
berichtete, merkte ich, dass er sich in Erziehungsprobleme einfühlen | |
konnte. Das ermutigte mich, ihm jetzt öfter von meinem stressigen Alltag | |
als Mutter zu schreiben. „Nur nicht die Beziehung zu den Kindern | |
verlieren“, riet er. | |
Dieses Kunststück war seinen Eltern nicht gelungen. Er hatte schon früh | |
gelernt, Konflikte mit Gewalt zu lösen. Die Verhältnisse, in denen er | |
aufgewachsen war, waren chaotisch und lieblos gewesen. Schon mit sieben | |
Jahren hatte Alexander seinen Vater bei Einbrüchen begleitet. Nach der | |
Scheidung der Eltern waren seine Geschwister und er ins Heim gekommen. Er | |
hörte nur unregelmäßig von ihnen. Den Kontakt zu seinem Vater hatte er | |
längst abgebrochen. | |
Das Vertrauen zwischen uns wuchs. Er habe oft Albträume, berichtete | |
Alexander, und wache in Schweiß gebadet auf. Nachts verfolgten ihn | |
schreckliche Bilder, die sich ihm durch seine Taten eingeprägt hatten. Was | |
er getan hatte, wusste ich auch nach ein paar Monaten noch nicht. | |
Es gab zwei Menschen im Knast, denen Alexander vertraute. Und er liebte | |
seine Arbeit. Er erwähnte oft seinen Seelsorger, einen älteren Diakon. Und | |
dann gab es noch den Meister in der Tischlerei, der Alexander ermutigt | |
hatte, die Schreinerausbildung zu machen. Der ihm beistand, bis er den | |
Abschluss in der Tasche hatte. Zwei Menschen, die an ihn glaubten. Die | |
Arbeit in der Tischlerei war kurzweilig, sie strukturierte seinen Alltag | |
und er bekam für seine guten Leistungen soziale Anerkennung. Aber er | |
verdiente mit einem Tageslohn von zirka 12,50 Euro fast nichts. Denn | |
inhaftierte, arbeitende Personen gelten nicht als Arbeitnehmer:innen, | |
sodass sie keinen Anspruch auf den Mindestlohn haben. Die Arbeit wird als | |
Maßnahme der [3][Resozialisierung] verstanden. | |
„Wie passt das mit dem Resozialisierungsgedanken zusammen, dass wir durch | |
Arbeit Anerkennung bekommen sollen, es aber keinen gerechten Lohnausgleich | |
gibt?“, fragte Alexander. Die Antwort darauf kannte ich auch nicht. | |
Das Bundesverfassungsgericht hat 1977 das Recht zur Resozialisierung | |
formuliert. Zur inneren Ausgestaltung des Vollzugs soll vor allem gehören, | |
dass die Häftlinge vom ersten Tag der Inhaftierung an auf den Tag der | |
Entlassung vorbereitet werden, um dann ein Leben in Freiheit ohne | |
Straftaten führen zu können. „Nur schöne Worte“, war Alexanders Kommenta… | |
Er hatte sich zu einer weiteren Ausbildung angemeldet, dieses Mal im | |
EDV-Bereich. „Aber die Abschlussprüfung kann nicht durchgeführt werden, | |
weil wir im Gefängnis nicht ins Internet dürfen“, sagt er. Was nützte ihm | |
eine unvollständige Ausbildung? | |
Auch die [4][Bundeszentrale für politische Bildung] kommt zum Schluss, dass | |
die Arbeits- und Ausbildungsangebote im Vollzug häufig nicht den | |
Beschäftigungsbedingungen in Freiheit entsprechen. Die geringe Entlohnung, | |
die neun Prozent des durchschnittlichen Arbeitsentgelts entspricht, | |
vermittle weder eine positive Einstellung zur Arbeit, noch könne eine | |
Grundlage für anstehende Schuldentilgungen geschaffen werden. Denn für die | |
meisten Gefangenen bedeute die Schuldenlast das größte Hindernis für ein | |
späteres straffreies Leben. Ein neues Urteil des | |
[5][Bundesverfassungsgerichts] zur angemessenen Anerkennung von | |
Haft-Arbeit könnte die Situation künftig verbessern. Alexander hat von | |
dieser möglichen Verbesserung nichts mehr. | |
Nicht alle meine Freund:innen fanden es gut, dass ich mich mit einem | |
Schwerverbrecher anfreundete. Aber die meisten konnten verstehen, warum ich | |
Alexander schrieb. Bei anderen ahnte ich, wie ihnen bei der Frage, was er | |
denn getan hatte, ein Schauer über den Rücken lief. Und dann die | |
Enttäuschung, weil ich es nicht wusste. „Bringe ihn bloß nie mit zu uns | |
nach Hause“, warnte mich ein Freund, der um seine Sicherheit fürchtete. „Du | |
solltest dich lieber um die Opfer als um den Täter kümmern. Die hätten es | |
mehr verdient“, belehrte mich eine Freundin. | |
Diese Aussagen verunsicherten mich. Ich dachte, mein Freundeskreis wäre | |
tolerant. Doch wenn einige von ihnen Alexander schon keine Chance geben | |
wollten, mochte ich mir gar nicht vorstellen, wie es bei anderen aussah. | |
Aber auch meine Toleranz hatte Grenzen. Was, wenn Alexander ein | |
Rechtsradikaler, ein Vergewaltiger, Frauen- oder Kindermörder war? | |
Hoffentlich nicht, dachte ich, denn das war so ungefähr das Schlimmste, was | |
ich mir vorstellen konnte. Mit der Brieffreundschaft wäre es dann wohl | |
vorbei. Aber war es logisch, ein Gewaltverbrechen einem anderen | |
vorzuziehen? Wäre Alexander vertrauenswürdiger, wenn er einen Mann | |
umgebracht hatte, und nicht eine Frau oder ein Kind? | |
Gegen meine eigene Regel beschloss ich nach einem Jahr, Alexander im | |
Gefängnis zu besuchen. Ich wollte der Person, die hinter den Briefen | |
steckte, persönlich begegnen. Und sehen, in welcher Umgebung Alexander | |
lebte. Außerdem wollte ich endlich wissen, was er getan hatte. „Ich erzähle | |
es dir, wenn du da bist“, hatte er versprochen. | |
Der Besucherraum in der JVA war mit Tischen und Stühlen aus den siebziger | |
Jahren möbliert, Getränke und Snacks gab es an der Theke. Ich wartete | |
darauf, dass sich die Tür zum Innersten der JVA öffnete. Und dann stand | |
Alexander vor mir, ein schiefes Grinsen im Gesicht, auf dem Kopf eine | |
verkehrt herum aufgesetzte Baseballcap. | |
Mit Schwung ließ er sich auf den freien Stuhl mir gegenüber fallen. Er fing | |
an zu reden und hörte nicht mehr auf, bis die Besuchszeit um war. Ich | |
erfuhr, dass er als 21-Jähriger im Abstand eines halben Jahres zwei Männer | |
ausgeraubt und ermordet hatte. Aus Habgier. „Ich war einfach nur kalt“, | |
sagte Alexander, und es gab einen kurzen Moment, in dem ich dachte: Er | |
sieht harmlos aus, ist es aber nicht. Und im nächsten: Kann jemand, der | |
solche Taten begangen hat, jemals mit sich ins Reine kommen? Später schrieb | |
er: „Du bist die erste Person, der ich das alles erzählt habe. Und die | |
einfach nur zugehört hat.“ | |
Alexander war des Mordes in zwei Fällen für schuldig befunden worden. Im | |
deutschen Strafgesetzbuch wird Mord durch bestimmte Merkmale von anderen | |
Tötungsdelikten wie Totschlag abgegrenzt. Diese sind neben Habgier unter | |
anderem Heimtücke oder Grausamkeit. | |
Wenn von einem Gutachten bestätigt wird, dass von dem Betroffenen keine | |
erneute Gefahr ausgeht, kann der Strafgefangene frühestens nach 15 Jahren | |
entlassen werden. Aber in Alexanders Fall wurde eine „besondere Schwere der | |
Schuld“ festgestellt, so dass sich die Haftdauer verlängern würde. | |
Mit der Zeit begann Alexander, andere Gefangene zu meiden, um den täglichen | |
Streitereien zu entgehen, erfuhr ich von ihm. Auch auf Drogen- und | |
Alkoholexzesse würde er verzichten. Dass es diese im Gefängnis gab, war | |
also keine Erfindung von Filmregisseuren. | |
Der Nebeneffekt seines Rückzugs war, dass Gefühle, die bis dahin | |
unterdrückt worden waren, an die Oberfläche kamen. Am schlimmsten seien die | |
Schuldgefühle, schrieb er. Er fragte sich, ob er den Angehörigen seiner | |
Opfer einen Brief schreiben sollte. Sein Seelsorger riet davon ab. Die | |
Gefahr, an deren Trauma zu rühren, sei zu hoch, sagte er. | |
Aber wohin mit den Fragen, der Unruhe, den schwierigen Gefühlen, für die | |
Alexander keinen Namen hatte? Es gab keine fortlaufende Therapie, und die | |
Psychologin war häufig krank. Wenigstens gab es das Musikmachen, um sein | |
inneres Chaos zu beruhigen. Was hatte Alexander zu einem Mörder gemacht? | |
Würde er das jemals selbst verstehen? | |
Bei der Verurteilung war Alexander als psychisch gesund eingestuft worden. | |
Deshalb wurde er in eine Justizvollzugsanstalt und nicht in den | |
Maßregelvollzug eingewiesen, wo die Unterbringung von psychisch kranken | |
oder suchtkranken Strafgefangenen stattfindet. Aber im Gegensatz zum | |
Maßregelvollzug gibt es in einer regulären JVA nicht zwangsläufig | |
therapeutische Angebote. Die hatte er aber dringend nötig. | |
Laut den Zürcher Forensiker:innen Friederike Höfer und Steffen Lau | |
könnte jede:r einen Mord begehen, da jede:r über emotionale Impulse | |
verfügt, die destruktiv sind. Extrem schlechte Bedingungen beim Aufwachsen | |
können Menschen anfällig für das Begehen von Straftaten machen – auch wenn | |
keine schwere psychische Erkrankung vorliegt. Aber es ist wichtig zu | |
wissen, wie das Verhalten zustande gekommen ist, um es nachhaltig ändern zu | |
können. | |
Die meisten Straftäter unterscheiden sich letztlich nur in wenigen | |
Teilbereichen von anderen Menschen, erklärt die forensische Psychiaterin | |
[6][Nahlah Saimeh]. Wie der Täter schon in der frühen Kindheit | |
zwischenmenschliche Beziehungen erlebt habe, spiele für die Entwicklung der | |
Persönlichkeit und für das spätere Verbrechen meistens eine Rolle. Dass | |
viele Delinquenten oft selbst Opfer einer lieblosen und grausamen Kindheit | |
waren, befreie sie aber nicht von der Verantwortung für ihre Tat. Die | |
Kindheit kann nicht korrigiert werden, schreibt sie. Nur das eigene | |
Verhalten lässt sich in der Zukunft beeinflussen. | |
Schon beim zweiten Besuch begrüßten mich die Strafvollzugsbeamten wie eine | |
alte Bekannte. Es wurde mir zur Routine, Alexander einmal im Jahr zu | |
besuchen. Auch mein Mann kam einmal mit, und selbst unsere Kinder. | |
Schließlich sollten auch sie die Person kennenlernen, die ihnen zum | |
Geburtstag schöne Karten malte. Außerdem fand ich, dass es ihrer Bildung | |
nicht schaden konnte, ein Gefängnis von innen zu sehen. „Es ist gut zu | |
wissen, dass es da draußen Menschen gibt, denen ich etwas bedeute“, schrieb | |
Alexander nach einem solchen Besuch. „Ehrlich gesagt, fühle ich mich ein | |
bisschen wie ein Teil eurer Familie.“ | |
Manchmal gab es in seinem Leben kleine Lichtblicke wie ein anstehendes | |
Konzert. „Nächste Woche geht es auf Tour!“, verkündete Alexander eines | |
Tages. Er hatte mit Knast-Kollegen eine kleine Gefängnisband aufgebaut. Zum | |
ersten Mal würden sie in einer anderen JVA auftreten. Zur Aufführung eines | |
Theaterprojektes im Gefängnis, bei dem er die Musik machte, reiste ich zur | |
Premiere an und schrieb darüber für die Zeitung. Und einmal vertonte er | |
eine meiner Kurzgeschichten. | |
Doch oft war da viel Frust. | |
„So geht es nicht weiter“, schrieb er 2009. „Ich bewerbe mich um eine | |
Sozialtherapie in einem anderen Gefängnis, damit ich mehr therapeutische | |
Unterstützung bekomme.“ | |
In sozialtherapeutischen Anstalten („Sothas“) sollen Straftäter lernen zu | |
verstehen, wie es zu ihrer Tat gekommen ist und was sie tun können, um | |
einen Rückfall zu vermeiden. Sie sind personell und räumlich besser | |
ausgestattet als der normale Strafvollzug, um gezielt Rückfallprävention zu | |
betreiben und Resozialisierungschancen zu erhöhen. Die zentrale Aufgabe von | |
Sothas ist der Schutz der Öffentlichkeit vor weiteren schweren Straftaten. | |
Im [7][Strafvollzugsgesetz] ist seit 1977 die Unterbringung von Gewalt- und | |
Sexualstraftätern, deren Strafmaß mindestens zwei Jahre beträgt, in solchen | |
Einrichtungen verankert. | |
In der Regel, so erklärte mir Alexander, wird ein Wechsel in eine | |
sozialtherapeutische Anstalt gegen Ende der Haft empfohlen, wenn die | |
Entlassung bevorsteht. Somit kann ein nahtloser Übergang in die Freiheit | |
stattfinden. | |
Bei einer erfolgreichen Behandlung würde außerdem die Aussicht auf eine | |
vorzeitige Haftentlassung steigen, hoffte Alexander. Die Aussicht darauf | |
löste inzwischen keine Besorgnis mehr bei mir aus. Wir waren nun seit etwa | |
acht Jahren befreundet. Mittlerweile freute ich mich darauf, ihm | |
irgendwann einmal unser Zuhause zu zeigen. | |
Doch bis heute quält mich eine Frage: Soll ich meine Freund:innen über | |
seine Vergangenheit aufklären, wenn er uns einmal besuchen käme? Ihnen die | |
Wahl geben zu entscheiden, ob sie ihn, einen ehemaligen Gewalttäter, | |
überhaupt kennenlernen wollen? Aber wäre das nicht ein Eingriff in seine | |
Persönlichkeitsrechte? Den kriminellen Teil seiner Vergangenheit zu | |
verbergen, erscheint mir bis heute nicht richtig. Ist doch aber seine | |
Privatsache. Oder nicht? | |
Wie ich es auch drehe und wende, ich finde keine eindeutige Antwort. „So, | |
wie du es machst, ist es für mich in Ordnung“, ist Alexanders Meinung dazu. | |
„Es würde dir also nichts ausmachen, wenn lauter für dich fremde Leute | |
wüssten, dass du im Knast warst?“ „Stimmt ja schließlich“, sagt er. „… | |
lieber wäre es mir, als der gesehen zu werden, der ich heute bin. Und nicht | |
als der, der ich einmal war.“ | |
2011 zog Alexander in eine Haftanstalt mit sozialtherapeutischer Abteilung | |
um. Es sollte trotzdem noch weitere acht Jahre bis zu seiner Entlassung | |
dauern. Nach einem Jahr intensiver Sozialtherapie berichtete er, dass er | |
sich oft überfordert fühlte: „So, als müsste ich Lesen, Schreiben, Rechnen, | |
alles auf einmal lernen. Und das sind nur meine Gefühle. Jetzt nehme ich | |
auch noch die der anderen wahr.“ | |
Als ich ihn in der neuen Einrichtung besuchte, standen zwei Kisten mit | |
elektronischen Geräten bereit. „Nimm alles mit“, sagte Alexander. Obwohl er | |
sich die Geräte mühsam von seinem kleinen Verdienst zusammengespart hatte, | |
wollte er sie nun unserem mittlerweile volljährigen Sohn vermachen. Seine | |
Gedanken kreisten nur noch um die Therapien. Und wie das Leben draußen | |
einmal für ihn sein würde. Die ersten Jahre im Gefängnis betrachtete er als | |
verloren: „Weil ich lange einfach so weitermachte wie draußen.“ | |
In der Sozialtherapie erkannte Alexander, dass er nie gelernt hatte, | |
liebevolle Bindungen aufzubauen. Er hatte sich immer weiter von der | |
Gesellschaft entfremdet, bis ihm andere Menschen egal waren. Rührte daher | |
die Kaltblütigkeit, die ihn zwei Morde ausführen ließ? „Ich bin selbst für | |
meine Taten verantwortlich“, sagt er. „Auch wenn ich eine Scheißkindheit | |
und Scheißjugend hatte: Ich war volljährig. Ich wusste, was ich tat.“ | |
Manchmal sprachen wir über die Liebe. Besonders schlimm sei für ihn das | |
Gefühl von Einsamkeit. „Manchmal sehne ich mich nach einer Beziehung. Das | |
Alleinsein ist auf Dauer etwas ganz Schreckliches.“ Aber ob ihn überhaupt | |
jemand mit seiner Vergangenheit wolle? „Da wird sich doch jede denken: Ne, | |
auf so einen Typ lasse ich mich lieber nicht ein. Viel zu gefährlich.“ | |
Im offenen Vollzug, in den er die letzten drei Jahre vor der Entlassung | |
kam, gab es neue Freiheiten. Eine davon war das Schreiben von E-Mails. | |
Beim Öffnen seiner neuesten Nachricht bemerkte ich ungewöhnlich viele | |
Ausrufezeichen. „Die tollste aller Frauen heißt Saskia!“, stand da, und in | |
meiner Herzgegend bemerkte ich einen winzig kleinen Stich. „Sie trägt | |
knallbunte Kleider und strotzt vor Lebensfreude!“ | |
Zunächst verheimlichte er Saskia seine kriminelle Vergangenheit. Aber als | |
er merkte, dass die Sache ernst wurde, gestand er ihr, dass er im offenen | |
Strafvollzug lebte. Und im Knast schlief, wenn er nicht bei ihr war. | |
Saskia sagte nichts dazu. Sie zog sich ins Schlafzimmer zurück und drehte | |
die Musik so weit auf, wie es nur ging. Aber es habe dann doch nicht lange | |
gedauert, bis sie sich wieder blicken ließ, berichtete mir Alexander. | |
„Erzähl mir alles“, verlangte sie. Alexander ließ nichts aus. Und Saskia | |
entschied sich für die Beziehung. | |
Drei Jahre später entschied das für eine Entlassung notwendige | |
Prognosegutachten, dass von Alexander keine Gefahr mehr ausging. | |
Seit vier Jahren lebt er nun in Freiheit. Er und Saskia wohnen in einem | |
ruhigen Viertel am Stadtrand. Die Fenster ihrer Wohnung sind mit | |
Lichterketten geschmückt, die im Dunkeln funkeln. Ich besuche die beiden, | |
weil ich wissen will, ob Alexander mittlerweile in seinem neuen Leben | |
angekommen ist. | |
Akkurat stehen die Bücher nach Farben geordnet, an den Wänden hängen nur | |
wenige Bilder: Saskia und Alexander beim Radeln, Wandern und Bootfahren. | |
Warum ist sonst niemand auf den Fotos? „Zu meiner Familie habe ich kaum | |
noch Kontakt“, sagt Alexander. Und überhaupt, warum sollte man etwas an die | |
Wand hängen, das einen an früher erinnert? Die Gegenwart ist doch viel | |
interessanter. | |
Bis heute weiß keiner im Umfeld der beiden, dass Alexander ein | |
Ex-Strafgefangener ist. Auch Saskias Eltern nicht. Aber die stellen | |
glücklicherweise sowieso kaum Fragen. | |
Alexander sagt, er weiß doch, wie die Leute reagieren würden. Da gab es mal | |
einen Arbeitskollegen, der über Knackis herzog, dass es Alexander schlecht | |
wurde. Solche Leute würden nur Ekel und Hass empfinden, wenn sie wüssten, | |
dass er mal in Haft war. Das will er sich nicht antun. | |
Saskia stellt dampfende Teetassen vor uns auf den Tisch, während Alexander | |
von seinen ersten Schritten ins Arbeitsleben „draußen“ berichtet. | |
Nur einmal hat er probiert, offen mit seiner Vergangenheit umzugehen. | |
Sein erster Chef war ein sozial eingestellter Typ, der Alexander eine | |
Chance geben wollte. Die Arbeit war nichts Kreatives und keine | |
handwerkliche Herausforderung, aber Alexander konnte davon leben. Ein Hauch | |
von Normalität stellte sich ein. | |
Mit einer Kollegin verstand Alexander sich besonders gut. Ihr Bruder | |
arbeitete in einer JVA, das Thema war ihr nicht fremd. Alexander erzählte | |
ihr, dass auch er den Knast von innen kennt. Und weshalb er gesessen hatte. | |
Von da ab wollte sie nicht mehr in einem Raum mit ihm sein. „Als wäre ich | |
ein Aussätziger“, erinnert sich Alexander. Sein Chef rügte die Kollegin: | |
„Alexander hat seine Strafe verbüßt. Er hat das Recht, so behandelt zu | |
werden wie jeder andere.“ Dass sein Chef zu ihm hielt, tat gut. Aber die | |
Kollegen tuschelten hinter seinem Rücken. Keiner sah ihm mehr richtig in | |
die Augen. Die Atmosphäre war vergiftet. Alexander kündigte und bewarb sich | |
bei einer anderen Firma. | |
Die Frage im Personalfragebogen, ob er vorbestraft sei, verneinte er dieses | |
Mal. Und bekam den Job. | |
„Wie ist es, wenn man einen großen Teil seines Lebens aus Angst vor | |
Ablehnung verheimlicht?“ will ich wissen. „Es fühlt sich nicht gut an. Aber | |
es ist ein notwendiger Selbstschutz“, antwortet Alexander. | |
Als Ex-Strafgefangener ist er nur verpflichtet, ehrlich zu sein, wenn das | |
begangene Delikt für den Arbeitsplatz relevant ist. Und auch nur dann darf | |
der Arbeitgeber ein polizeiliches Führungszeugnis verlangen. Laut | |
Arbeitsrecht werde die Resozialisierung sonst behindert, die | |
Individualrechte sollen geschützt werden. „Doch sollte je herauskommen, | |
dass ich im Gefängnis war, wäre ich die Stelle wohl trotzdem los“, sagt | |
Alexander. In dem Fall könnte er sich zwar an das Arbeitsgericht oder an | |
die Antidiskriminierungsstelle des Bundes wenden, aber mit dem guten | |
Arbeitsverhältnis wäre es dann vorbei. Das Tuscheln hinter seinem Rücken | |
begänne von vorn. | |
Über die Vergangenheit denke er nicht mehr nach, sagt Alexander. Trotzdem | |
ist sie immer irgendwie präsent. Das merkt er an seinen Träumen. | |
In einem sitzt er im Knast auf gepackten Koffern und wartet auf seine | |
Entlassung. Das Gefühl von Ausgeliefertsein und Ohnmacht befällt ihn. Er | |
ist auf die Gnade anderer angewiesen, vielleicht muss er für immer | |
drinbleiben. „Das Unterbewusstsein ist noch nicht ganz in der Freiheit | |
angekommen“, sagt er. | |
Und die Schuldgefühle? „Die sind immer da.“ Manchmal kommt es vor, dass er | |
gemütlich auf dem Sofa sitzt. Und dann geht es los. Ein kalter Schauer | |
schüttelt seinen Körper, als hätte er eine Krankheit. Und noch bevor er | |
darüber nachdenkt, spürt er ein starkes Gefühl: Scham. „Ich werde nie | |
wiedergutmachen können, was ich anderen angetan habe“, sagt er. „Keine | |
Ahnung, ob ich mir jemals selbst verzeihen kann.“ | |
Alexander und Saskia sorgen sich um ihre finanzielle Zukunft. Alexander | |
durfte als arbeitender Strafgefangener nicht in die Rentenversicherung | |
einzahlen. „Deshalb fehlen mir 25 bis 30 Jahre Renteneinzahlung. Auf mich | |
warten Mindestrente und Altersarmut“, sagt er. Im Moment haben beide gute | |
Jobs, aber wie wird es später einmal sein? Er wird so lange arbeiten | |
müssen, bis er tot umfällt, sagt er, wenn er Saskia nicht auf der Tasche | |
liegen will. „Dazu kommt, dass wir Ex-Gefangenen, die für die Entlassung | |
notwendigen Gutachten selbst bezahlen müssen, das sind ungefähr 10.000 bis | |
15.000 Euro.“ So stehen viele Strafgefangene nach der Entlassung mit einem | |
Berg Schulden da. Wenn dann die Rente beginnt, sind sie auf Hilfe und | |
Zuschüsse angewiesen – obwohl sie unter Umständen, so wie Alexander, die | |
ganzen Jahre im Gefängnis gearbeitet haben. | |
Zuletzt hatte die Justizministerkonferenz der Länder im Juni 2018 einen | |
neuen Anlauf genommen, die in Haft arbeitenden Strafgefangenen in die | |
gesetzliche [8][Rentenversicherung] aufzunehmen. Wieder, wie schon zehn | |
Jahre zuvor, wurde dies als sinnvoll erachtet. Aber die Bundesregierung gab | |
im März 2019 bekannt, dass sie derzeit keine weiteren Schritte vorsieht. | |
Eine Frage brennt mir auf der Seele. Ich fürchte, Alexander damit zu | |
kränken. Er könnte denken, dass ich ihm trotz unserer langjährigen | |
Freundschaft nicht über den Weg traue. „Woher weißt du eigentlich, dass du | |
nicht rückfällig werden könntest?“ Alexanders Antwort: „Inzwischen kenne | |
ich meine Schwachpunkte und weiß, welche Situationen ich vermeiden muss. | |
Und wo ich Unterstützung bekomme, wenn ich sie brauche.“ Mit seinem | |
Ex-Therapeuten, der für seine Nachsorge zuständig war, steht er noch locker | |
in Kontakt. Außerdem gibt es noch die Bewährungshelferin. Allerdings nicht | |
mehr lange, dann sind die fünf Jahre, die sie für ihn zuständig war, um. | |
Früher hat er sich auf Kosten anderer einfach genommen, was er wollte, sagt | |
er. Damit sei es vorbei. „Heute sind mir ganz andere Dinge wichtig als | |
früher: Partnerschaft. Freunde. Ein Job, der mir Spaß macht. Finanzielle | |
Sicherheit.“ | |
„Bist du eigentlich angekommen in der Freiheit?“, frage ich. | |
Dieses Mal überlegt Alexander etwas länger. „Vielleicht habe ich schon | |
meinen Platz gefunden, ohne es zu merken“, sagt er. | |
11 Dec 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://www.bmj.de/SharedDocs/Publikationen/DE/Fachpublikationen/2021_Rueck… | |
[2] https://www.jail-mail.de | |
[3] https://www.gesetze-im-internet.de/bgb/__611a.html | |
[4] https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/izpb/kriminalitaet-und-strafrecht-306… | |
[5] https://www.mdr.de/nachrichten/deutschland/gesellschaft/urteil-bverfg-gefan… | |
[6] /Forensikerin-ueber-das-Boese/!5658834 | |
[7] https://www.strafgesetzbuch-stgb.de/stvollzg/9.html | |
[8] https://www.justiz.nrw.de/JM/jumiko/beschluesse/2018/Fruehjahrskonferenz_20… | |
## AUTOREN | |
Christine Leutkart | |
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