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# taz.de -- Ausbeutung indischer Landarbeiter: Italiens bittere Kiwis
> In ganz Europa sind italienische Kiwis beliebt. Auf den Feldern arbeiten
> viele Inder unter unwürdigen Bedingungen, gefangen im ausbeuterischen
> System.
Bild: Kiwi-Ernte auf einem Feld in der Nähe von Latina, Italien: etwa 30.000 S…
Sie kamen am Morgen kurz vor Sonnenaufgang. Der abgelegene Bauernhof
außerhalb von Borgo Sabotino, einer 2.000-Einwohnergemeinde südlich von
Rom, lag noch in der Dunkelheit. Es war der 17. März 2017. Ein Datum, das
Balbir Singh nie vergessen wird.
In der Dunkelheit tauchten zwölf bewaffnete Männer auf. „Ich hatte wirklich
Angst“, erzählt Balbir Singh. „Der Hofbesitzer rief mir zu, ich solle
weglaufen. Aber das tat ich nicht.“ Und darüber ist er heute froh.
Die Männer in Zivil zeigten ihm ihre Ausweise. Es waren italienische
Polizisten. Sie baten Balbir Singh mitzukommen. „Meine Kleidung war
schmutzig. Ich hatte tiefe Wunden an Händen und Füßen, meine Nägel
bluteten. Aber es war ein großer Tag“, sagt Balbir Singh. „Kurz vor unserer
Abfahrt sah ich, dass die Polizisten den Bauern und seine Frau verhaftet
hatten.“
Sechs Jahre Ausbeutung mit Gewalt, Drohungen, ausbleibender Bezahlung,
Hunger und Entbehrungen hatten für Balbir Singh, einen ehemaligen
Englischlehrer und langjährigen Landarbeiter aus der indischen Region
Punjab, damit ein Ende. „Sechs Jahre in der Hölle“, nennt er die Zeit
heute.
## Informationen für die Polizei
Sie endete, als er über einen indischen Landsmann Kontakt zu [1][dem
italienischen Soziologen und Menschenrechtsaktivisten Marco Omizzolo]
bekam. Omizzolo lehrt Sozialanthropologie an der Universität La Sapienza in
Rom. Er setzt sich seit Jahren für die Rechte indischer Landarbeiter in
Italien ein, dokumentiert Missstände und bringt sie zur Anzeige. 2016
organisierte er den ersten größeren Streik indischer Arbeiter in Italien
mit. Wegen seines Engagements erhält er oft anonyme Drohungen, sein Auto
wurde mehrmals beschädigt. Seit Jahren steht Omizzolo unter Polizeischutz,
aus Sicherheitsgründen wohnt er selbst heute nicht mehr in der Region.
Omizzolo sorgte dafür, dass Balbir Singh über seinen indischen Bekannten
ein Handy bekam, mit dem er ihm die Zustände auf dem Bauernhof über mehrere
Wochen immer wieder schildern konnte. Mit den Informationen ging Omizzolo
schließlich zur Polizei.
„Ich habe jeden Tag 12 bis 13 Stunden gearbeitet, sieben Tage die Woche“,
erzählt Balbir Singh im Gespräch. „Obwohl ich nie einen freien Tag hatte,
wurde mein Lohn immer weiter gekürzt. Am Ende gab es mehrere Monate, in
denen ich überhaupt kein Geld mehr bekam.“ Er habe sich aus Geldmangel
lange Zeit von altem Brot ernähren müssen und Essen aus Resten gekocht, die
die Familie weggeworfen hatte. Er wohnte in einem alten Wohnwagen ohne
Strom oder Heizung. Wenn er duschen wollte, erzählt er, habe er das im
Stall tun müssen, nachdem alle anderen auf dem Hof bereits zu Bett gegangen
waren oder bevor sie morgens aufstanden.
Es mag ein extremer Fall sein, was Balbir Singh erlebte, aber seine
Geschichte zeigt, wie verletzlich indische Landarbeiter sind, wenn sie auf
der Suche nach Arbeit nach Italien kommen – ohne Geld, ohne
Sprachkenntnisse, oft mit hohen Schulden bei zwielichtigen Vermittlern und
mit der ständigen Angst, ihre Aufenthaltserlaubnis wieder zu verlieren.
Balbir Singh ist einer der wenigen, der sich wehrte und seinen ehemaligen
Chef vor Gericht brachte.
Er ist der erste Migrant, dem in Italien eine Aufenthaltserlaubnis „aus
Gründen der Gerechtigkeit“ erteilt wurde. Diese soll sicherstellen, dass er
auf jeden Fall bis zum Ende des Gerichtsprozesses im Land bleiben kann. Ein
rechtskräftiges Urteil steht in seinem Fall noch aus. Bei Prozessen mit
Berufung kann es mehrere Jahre dauern, bis eine Entscheidung durch alle
Instanzen gegangen ist.
In den vergangenen dreißig Jahren sind viele Inder auf der Suche nach
Arbeit in die Agro Pontino, die pontinische Ebene, einem Gebiet südöstlich
von Rom, gekommen. Offiziell gibt es in der Region Latina, in der die
pontinische Ebene liegt, heute 9.500 indische Arbeiter. Nimmt man
diejenigen dazu, die keine Aufenthaltsgenehmigung haben, die in
benachbarten Regionen leben oder die noch nicht in der Statistik
auftauchen, weil sie erst sehr kurz im Land sind, könnte die Zahl bei
30.000 liegen, schätzt Marco Omizzolo.
Auf den Straßen der Region sieht man oft indische Arbeiter mit bunten
Turbanen, die mit ihren Fahrrädern von einem Feld zum nächsten fahren. Die
meisten von ihnen sind als Arbeiter im Obst- und Gemüsesektor beschäftigt.
Die Gegend ist eine der fruchtbarsten Italiens. Zu den beliebtesten
Exportprodukten der pontinischen Ebene gehören Kiwis, die in Supermärkten
in ganz Europa zu finden sind, auch in Deutschland.
## Ungerechtigkeit und Machtmissbrauch
Bei unseren Fahrten durch die Dörfer hören wir viele Geschichten über
Ungerechtigkeit und Machtmissbrauch. Aber nur wenige Betroffene trauen
sich, offen zu sprechen, vor allem gegenüber Fremden und Journalisten sind
sie zurückhaltend.
Durch zahlreiche anonymisierte Gespräche mit Arbeitern sowie Interviews mit
Gewerkschaftern und Wissenschaftlern entsteht aber ein Bild: Die grünen
Felder der pontinischen Ebene sind eine Landschaft, die geprägt ist von
irregulären Verträgen und unzureichenden Löhnen.
Ein Opfer dieser Ausbeutung war Joban Singh. [2][Sein Fall sorgte für
Schlagzeilen.] Er nahm sich im Juni 2020 das Leben. Wie viele indische
Arbeiter war Joban Singh Opfer von Menschenhandel geworden. Er geriet in
die Fänge eines kriminellen Netzes von Reise- und Arbeitsvermittlern,
Mittelsmännern, Gemeindevorstehern und korrupten Beamten. Er soll 10.000
Euro Schulden aufgenommen haben, um nach Italien zu gelangen. Weil er –
nach Aussage mehrerer Bekannter – nur schwarz beschäftigt wurde, sollen ihm
immer wieder Teile seines Lohns vorenthalten worden sein.
Sein Schicksal ist kein Einzelfall. Es gibt immer wieder Suizide. Erst im
Oktober 2022 haben sich zwei indische Arbeiter, die noch nicht einmal 25
Jahre alt waren, auf den Bauernhöfen der Region das Leben genommen, wie
Lokalzeitungen berichteten.
Um nach Italien zu gelangen, zahlen indische Arbeiter umgerechnet bis zu
15.000 Euro an indische Vermittler. Dafür müssen sie sich bei Bekannten und
Verwandten Geld leihen oder – falls sie das besitzen – Land, Kühe und
Familienschmuck verkaufen. Die meisten stammen aus dem indischen
Bundesstaat Punjab. Der Monatslohn für Menschen, die körperlich arbeiten,
liegt dort zwischen 80 und 120 Euro. Deshalb ist Italien, wo ein indischer
Arbeiter im Durchschnitt 863 Euro pro Monat verdient, für viele attraktiv –
trotz der Ausbeutung, trotz der hohen Schulden.
In den Sikh-Tempeln in den Städten Velletri, Cisterna und Pontinia trifft
sich die indische Gemeinde sonntags. Das Wort „Schulden“ wird bei unseren
Gesprächen, obwohl es sehr viele hier betrifft, nur verschämt geflüstert.
Viele Tempel wurden in alten Lagerhallen eingerichtet, die später renoviert
und zu Gotteshäusern umfunktioniert wurden. Der Tempel in Velletri zum
Beispiel besteht aus einem einzigen großen Raum mit rosafarbenen Wänden,
einem mit Teppichen bedeckten Boden und buntem Papier, das an der Decke
hängt. Der Altar im hinteren Teil des Raumes ähnelt einem Himmelbett. Von
dort aus liest der Gottesdiener – der Granthi – aus dem heiligen Buch.
Im Tempel werden tagsüber Mahlzeiten für die Gläubigen und Bedürftige
zubereitet. Die Menschen essen gemeinsam auf dem Boden eines großen Raums.
Junge Leute verteilen Essen und Trinken. Ein Arbeiter erzählt, er habe zwei
Jahre lang im Tempel gelebt, weil er weder Miete, Essen noch Strom bezahlen
konnte. Mittlerweile habe er eine eigene Unterkunft. In den zwanzig Jahren,
die er in Italien verbracht hat, habe er aber Hunderte Menschen
kennengelernt, die in der gleichen Situation waren wie er.
Sikh-Arbeiter werden auf den Feldern und Bauernhöfen der pontinischen Ebene
oft durch die Strategie der „grauen Arbeit“ ausgebeutet. Dabei werde der
Lohn in zwei Teile gesplittet – ein Teil gehe in die Lohntüte, der andere
Teil werde schwarz in bar ausgezahlt, erklärt Marco Omizzolo. Die Landwirte
würden so weniger Sozialbeiträge und Steuern zahlen.
Eine andere Methode der Ausbeutung ist das sogenannte Jo-Jo-Gehalt. „Manche
Chefs überweisen den Lohn auf das Bankkonto der Arbeiter, zwingen sie aber
dann, zu einem Geldautomaten zu gehen, 200 bis 300 Euro abzuheben und sie
an den Arbeitgeber zurückzuzahlen“, sagt Omizzolo.
Außerdem gibt es Arbeiter, die gezwungen werden, sieben Tage in der Woche
10 bis 11 Stunden am Tag auf den Feldern zu arbeiten. Teils ohne Zugang zu
richtigen Toiletten und ohne regelmäßige Pausen. Vorgeschriebene
Schutzausrüstung wie Handschuhe und Masken für den Schutz vor Pestiziden
fehlten oft, sagt Omizzolo.
Immer wieder gibt es Berichte über Fälle von physischer und psychischer
Gewalt. Wer protestiert oder rebelliert, riskiert eine sofortige Entlassung
und Vergeltungsmaßnahmen. Einige Sikh-Arbeiter wurden auf dem Weg zu den
Feldern von Autos angefahren, andere ausgeraubt oder verprügelt.
Zu der Angst vor Gewalt tritt oft noch der Albtraum der Illegalität hinzu:
Ohne einen regulären Arbeitsvertrag ist es nicht möglich, eine
Aufenthaltsgenehmigung zu verlängern, um legal in Italien zu leben. Deshalb
würden so viele Arbeiter die Ausbeutung über so viele Jahre akzeptieren,
sagt der Generalsekretär des nationalen Gewerkschaftsbunds CGIL, Giovanni
Gioia.
Nur langsam hätten sich in den vergangenen Jahren auch ein paar Dinge
verbessert, sagen Omizzolo und Gewerkschaftsvertreter. Es gab zaghafte
Ansätze eines Teils der indischen Arbeiter, mehr Rechte einzufordern. Beim
ersten Streik der Sikh-Arbeiter 2016 gingen Tausende in der Provinz Latina
auf die Straße, der Streik führte zu einer Erhöhung der Stundenlöhne von
ursprünglich 2,50 auf jetzt 6 Euro pro Stunde.
Zudem wurden Organisationen wie „Tempi Moderni“ gegründet, die den
Arbeitern kostenlosen rechtlichen und medizinischen Beistand anbieten. Auch
ist in der Region Latina die Zahl der Prozesse gegen Unternehmer gestiegen,
die der „caporalato“-Kriminalität, der Vermittlung und Beschäftigung von
Schwarzarbeitern, angeklagt sind – auch wenn es noch wenige Urteile in dem
Bereich gibt.
Die Agrarunternehmer fänden auch neue Wege, um das Ausbeutungssystem am
Laufen zu halten, sagt Marco Omizzolo. Sie schalteten etwa Anwälte ein, die
ihnen helfen würden, Gesetze und Arbeitsschutz zu umgehen. Und die Arbeiter
haben weiterhin Angst, die Ausbeutung anzuprangern.
Auch Balbir Singh war zunächst zurückhaltend, mit uns zu sprechen. Das
erste Mal trafen wir ihn im Sommer 2022 in einer Unterkunft, in der er
damals mit drei indischen Landsleuten lebte. Er arbeitete nun auf
Kiwifeldern. Wir trafen ihn in der Mittagspause, als ein kleiner Ventilator
versuchte, die Luft zu kühlen, aber die schwüle Julihitze durch das offene
Fenster hereinströmte. Er zeigte uns einen Korb mit kleinen unreifen Kiwis,
die er am selben Morgen gepflückt hatte.
Zwischen Juli und Dezember sind die indischen Arbeiter in der pontinischen
Ebene hauptsächlich mit Kiwis beschäftigt, die wegen ihrer rentablen
Produktion auch als „grünes Gold“ bezeichnet werden. Italien produziert
320.000 Tonnen Kiwis pro Jahr und exportiert sie in fünfzig Länder. Das
Land ist der größte europäische Kiwiproduzent und der drittgrößte weltweit,
nach China und Neuseeland. Ein Markt, der insgesamt über 400 Millionen Euro
wert ist.
Balbir Singh nahm drei Kiwis in die Hand und erklärte uns, wie man die
Pflanze reinigt und worin der Unterschied zwischen den Kiwisorten besteht –
grün, gelb und rot. Aber als wir ihn fragten, wie er und seine Kollegen
jetzt auf den Plantagen, auf denen sie arbeiteten, behandelt werden,
schaute er weg und gab nur vage Antworten.
## Strenge Regeln für die Ernte
Das Gespräch wurde noch schwieriger, als ein vierter Arbeiter in die
Wohnung kam: Er war ein „caporale“, einer der Vorarbeiter, die die Arbeiter
beim Pflücken der Früchte beaufsichtigen. Er hatte von unserem Besuch von
anderen Arbeitern erfahren, seine Anwesenheit unterbrach das Gespräch. „Ich
habe aufgehört zu reden, weil er mir Angst gemacht hat“, erzählte Balbir
Singh am nächsten Tag bei unserem zweiten Treffen auf einem Parkplatz im
Zentrum der Stadt Latina.
Die „Kiwirevolution“ in der pontinischen Ebene begann in den 1970er Jahren:
Begünstigt durch günstige klimatische Bedingungen wurde das Gebiet zu einem
Produktionsstandort für große multinationale Unternehmen, allen voran
Zespri, ein führendes neuseeländisches Unternehmen.
Ein großer Teil der Kiwiproduktion von Zespri findet in der Region Latina
statt. Zespri ist vor allem für die gelbfleischige Sorte SunGold bekannt.
Von den Feldern der kleinen und mittleren landwirtschaftlichen Betriebe in
Latina werden die Kiwis in die großen Lagerhäuser der Genossenschaft
gebracht, wo sie verpackt und mit dem Zespri-Logo versehen werden, bevor
sie in ganz Europa vermarktet werden.
Die Regeln für die Ernte der Zespri-Kiwis sind streng, wie einige Erzeuger
berichten: Baumwollhandschuhe und präzise Handgriffe sind erforderlich; es
ist wichtig, die Früchte nicht zu verderben, wenn sie in die Kisten
verpackt werden. Die Sorgfalt, mit der die Kiwis behandelt werden, steht im
Gegensatz zu den Arbeitsbedingungen, von denen die Landarbeiter berichten.
Auch Gurjinder Singh arbeitet auf den Kiwifeldern, seit 15 Jahren. Als Teil
ihrer Religion tragen Sikh-Männer den gemeinsamen Nachnamen Singh, Löwe.
Die Frauen heißen Kaur, Prinzessin. Gurjinder Singhs Vornamen haben wir
geändert, weil er nicht identifizierbar in die Öffentlichkeit treten
möchte.
Wir sprechen mit ihm in einem Café auf dem zentralen Platz von Cisterna di
Latina, einer 37.000-Einwohner-Stadt. Er hat gerade seine Arbeitsschicht
beendet. Es ist September, das warme Nachmittagslicht leuchtet auf dem
hellen Fußboden.
Gurjinder Singh reibt sich die Hände, als wolle er die dunklen Flecken an
ihnen loswerden. „Ich benutze auch Spülmittel und schrubbe mit einer
Bürste, aber die Flecken bleiben“, sagt er und zeigt seine Handflächen
voller Schwielen. Er ist 50 Jahre alt und hat für mehrere Unternehmen in
der Gegend gearbeitet. Zwischen fünf und sechs Euro pro Stunde verdiente
er. Bei den kleineren Firmen habe er nie einen Vertrag gehabt, erzählt er.
Sein Lohn wurde am Ende des Tages bar ausgezahlt.
Zuletzt war er drei Jahre lang bei einem Unternehmen mit über 70 Arbeitern
beschäftigt, die in mehreren Gruppen von Vorarbeitern beaufsichtigt wurden.
Das Unternehmen verkaufte seine Kiwis auch an Zespri. Seine Vorarbeiterin
war eine Frau, die ihn beschimpfte und anschrie, sobald er kurz stehen
blieb, erzählt er: „Sie hat mich beleidigt und gedroht, mich zu schlagen.“
Auf den Feldern filmte sie ihn mehrmals mit ihrem Handy, als er anhielt, um
etwas zu trinken oder gerade etwas in seine Augen geraten war.
Die Videos sollten ein Beweis für seine mangelnde Leistung sein und wurden
dem Chef übergeben: Es war ein Mittel, das auch bei anderen Arbeitern
verwendet wurde, um Widerspruch zu ersticken, wenn weniger Lohn ausgezahlt
wurde als vereinbart.
## „Ich hatte keine Wahl“
Auf die Frage, warum er das Unternehmen nicht verlassen hat, antwortet
Gurjinder Singh mit einem Kopfschütteln. Er verbirgt sein Gesicht in den
Händen und sagt: „Ich hatte keine Wahl, ich muss für meine vier Kinder und
meine Frau arbeiten. Sie sind in Indien geblieben, ich habe sie seit 13
Jahren nicht mehr gesehen.“
Er habe auch Angst gehabt, dass seinen Angehörigen etwas passieren könnte,
wenn er sich auflehne. „Um hierher zu kommen, habe ich 14.000 Euro an einen
Schmuggler gezahlt. Ich kam über Russland, lief kilometerweit durch Schnee
und wurde dann auf Lastwagen verladen.“ Er spricht fast ausschließlich auf
Punjabi. „Wir lernen nie gut Italienisch, wir sind alle Ausländer auf den
Feldern.“
Wenn ein Inder Italienisch spreche, riskiere er, von den italienischen
Vorarbeitern weggeschickt zu werden, weil es als Gefahr angesehen werde,
wenn er eine direkte Beziehung zum Chef aufbauen könnte. Die Aussage von
Gurjinder Singh deckt sich mit denen von zehn anderen indischen Arbeitern,
mit denen wir gesprochen haben. Und deren Betriebe alle Kiwis für Zespri
produzieren.
Konfrontiert mit den Arbeitsbedingungen, von denen wir im Lauf unserer
Recherche bei Unternehmen erfahren, mit denen Zespri zusammenarbeitet,
antwortet Zespri: „Während die große Mehrheit der Arbeitgeber in der
Kiwiindustrie für ihre Mitarbeiter sorgt, kann es sein, dass eine kleine
Minderheit dies nicht tut. Jegliche Ausbeutung von Arbeitnehmern ist
inakzeptabel, und wir verpflichten uns, die betreffenden Personen zur
Rechenschaft zu ziehen und unseren Rahmen für die Einhaltung der
Vorschriften weiter zu verbessern. Wir nehmen die erhobenen Vorwürfe sehr
ernst und haben eine Untersuchung eingeleitet, um herauszufinden, wie wir
die betroffenen Arbeitnehmer unterstützen können.“
Zespri fügt hinzu, dass sie mit mehr als 1.200 Erzeugern in Italien
zusammenarbeiten, die das Global-Gap-Grasp-Zertifikat (Global Risk
Assessment On Social Practice) besitzen müssen – ein unabhängiges,
internationales Zertifizierungssystem, das Kriterien für die Sicherheit,
die Gesundheit und das Wohlergehen der Arbeiter festlegt. An dem
Zertifizierungssystem gibt es aber immer wieder Kritik. [3][Die taz
berichtete im Februar 2021 über Lücken des Global-Gap-Zertifikats bei
Obstanbau in Frankreich und Spanien.]
Die Lieferanten von Zespri sind auch bei Sedex registriert, einer anderen
unabhängigen Zertifizierungsstelle, die die Arbeitsbedingungen der
italienischen Lieferanten von SunGold-Kiwis überwacht. Zespri sagt, man
habe sich sowohl an die Zertifizierungsstellen als auch an die Lieferanten
gewandt, um sie auf die unlauteren Praktiken aufmerksam zu machen.
Als wir Balbir Singh das letzte Mal am Telefon sprechen, ist er gerade in
Indien, um nach neun Jahren Abwesenheit an der Hochzeit seines Sohnes
teilzunehmen. „Jetzt bin ich eine freie Seele“, sagt er. „Ich warte auf d…
Abschluss des Gerichtsverfahrens und meine Entschädigung. Dann will ich mit
meiner Frau nach Italien reisen, wo ich ein Haus bauen will. Ich kann es
kaum erwarten, dass gute Tage kommen.“ Er glaubt, dass man niemals aufgeben
sollte: „Das Leben ist ein Kampf, und man muss kämpfen, aber ich würde nie
wollen, dass einer meiner schlimmsten Feinde mit den Problemen konfrontiert
wird, die ich hatte.“
Diese Recherche wurde möglich durch die Unterstützung des
[4][Journalismfund Europe] sowie [5][Danwatch], [6][IRPI Media] und [7][The
Wire].
29 Jun 2023
## LINKS
[1] https://www.frontlinedefenders.org/en/profile/marco-omizzolo
[2] https://www.spiegel.de/ausland/ausbeutung-bei-der-ernte-fuer-deutsche-super…
[3] /Ausbeutung-in-der-Landwirtschaft/!5752321
[4] https://www.journalismfund.eu/
[5] https://danwatch.dk/en/about-danwatch/
[6] https://irpimedia.irpi.eu/en/
[7] https://thewire.in/about-us
## AUTOREN
Charlotte Aagaard
Kusum Arora
Francesca Cicculli
Stefania Prandi
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