# taz.de -- Ausbeutung indischer Landarbeiter: Italiens bittere Kiwis | |
> In ganz Europa sind italienische Kiwis beliebt. Auf den Feldern arbeiten | |
> viele Inder unter unwürdigen Bedingungen, gefangen im ausbeuterischen | |
> System. | |
Bild: Kiwi-Ernte auf einem Feld in der Nähe von Latina, Italien: etwa 30.000 S… | |
Sie kamen am Morgen kurz vor Sonnenaufgang. Der abgelegene Bauernhof | |
außerhalb von Borgo Sabotino, einer 2.000-Einwohnergemeinde südlich von | |
Rom, lag noch in der Dunkelheit. Es war der 17. März 2017. Ein Datum, das | |
Balbir Singh nie vergessen wird. | |
In der Dunkelheit tauchten zwölf bewaffnete Männer auf. „Ich hatte wirklich | |
Angst“, erzählt Balbir Singh. „Der Hofbesitzer rief mir zu, ich solle | |
weglaufen. Aber das tat ich nicht.“ Und darüber ist er heute froh. | |
Die Männer in Zivil zeigten ihm ihre Ausweise. Es waren italienische | |
Polizisten. Sie baten Balbir Singh mitzukommen. „Meine Kleidung war | |
schmutzig. Ich hatte tiefe Wunden an Händen und Füßen, meine Nägel | |
bluteten. Aber es war ein großer Tag“, sagt Balbir Singh. „Kurz vor unserer | |
Abfahrt sah ich, dass die Polizisten den Bauern und seine Frau verhaftet | |
hatten.“ | |
Sechs Jahre Ausbeutung mit Gewalt, Drohungen, ausbleibender Bezahlung, | |
Hunger und Entbehrungen hatten für Balbir Singh, einen ehemaligen | |
Englischlehrer und langjährigen Landarbeiter aus der indischen Region | |
Punjab, damit ein Ende. „Sechs Jahre in der Hölle“, nennt er die Zeit | |
heute. | |
## Informationen für die Polizei | |
Sie endete, als er über einen indischen Landsmann Kontakt zu [1][dem | |
italienischen Soziologen und Menschenrechtsaktivisten Marco Omizzolo] | |
bekam. Omizzolo lehrt Sozialanthropologie an der Universität La Sapienza in | |
Rom. Er setzt sich seit Jahren für die Rechte indischer Landarbeiter in | |
Italien ein, dokumentiert Missstände und bringt sie zur Anzeige. 2016 | |
organisierte er den ersten größeren Streik indischer Arbeiter in Italien | |
mit. Wegen seines Engagements erhält er oft anonyme Drohungen, sein Auto | |
wurde mehrmals beschädigt. Seit Jahren steht Omizzolo unter Polizeischutz, | |
aus Sicherheitsgründen wohnt er selbst heute nicht mehr in der Region. | |
Omizzolo sorgte dafür, dass Balbir Singh über seinen indischen Bekannten | |
ein Handy bekam, mit dem er ihm die Zustände auf dem Bauernhof über mehrere | |
Wochen immer wieder schildern konnte. Mit den Informationen ging Omizzolo | |
schließlich zur Polizei. | |
„Ich habe jeden Tag 12 bis 13 Stunden gearbeitet, sieben Tage die Woche“, | |
erzählt Balbir Singh im Gespräch. „Obwohl ich nie einen freien Tag hatte, | |
wurde mein Lohn immer weiter gekürzt. Am Ende gab es mehrere Monate, in | |
denen ich überhaupt kein Geld mehr bekam.“ Er habe sich aus Geldmangel | |
lange Zeit von altem Brot ernähren müssen und Essen aus Resten gekocht, die | |
die Familie weggeworfen hatte. Er wohnte in einem alten Wohnwagen ohne | |
Strom oder Heizung. Wenn er duschen wollte, erzählt er, habe er das im | |
Stall tun müssen, nachdem alle anderen auf dem Hof bereits zu Bett gegangen | |
waren oder bevor sie morgens aufstanden. | |
Es mag ein extremer Fall sein, was Balbir Singh erlebte, aber seine | |
Geschichte zeigt, wie verletzlich indische Landarbeiter sind, wenn sie auf | |
der Suche nach Arbeit nach Italien kommen – ohne Geld, ohne | |
Sprachkenntnisse, oft mit hohen Schulden bei zwielichtigen Vermittlern und | |
mit der ständigen Angst, ihre Aufenthaltserlaubnis wieder zu verlieren. | |
Balbir Singh ist einer der wenigen, der sich wehrte und seinen ehemaligen | |
Chef vor Gericht brachte. | |
Er ist der erste Migrant, dem in Italien eine Aufenthaltserlaubnis „aus | |
Gründen der Gerechtigkeit“ erteilt wurde. Diese soll sicherstellen, dass er | |
auf jeden Fall bis zum Ende des Gerichtsprozesses im Land bleiben kann. Ein | |
rechtskräftiges Urteil steht in seinem Fall noch aus. Bei Prozessen mit | |
Berufung kann es mehrere Jahre dauern, bis eine Entscheidung durch alle | |
Instanzen gegangen ist. | |
In den vergangenen dreißig Jahren sind viele Inder auf der Suche nach | |
Arbeit in die Agro Pontino, die pontinische Ebene, einem Gebiet südöstlich | |
von Rom, gekommen. Offiziell gibt es in der Region Latina, in der die | |
pontinische Ebene liegt, heute 9.500 indische Arbeiter. Nimmt man | |
diejenigen dazu, die keine Aufenthaltsgenehmigung haben, die in | |
benachbarten Regionen leben oder die noch nicht in der Statistik | |
auftauchen, weil sie erst sehr kurz im Land sind, könnte die Zahl bei | |
30.000 liegen, schätzt Marco Omizzolo. | |
Auf den Straßen der Region sieht man oft indische Arbeiter mit bunten | |
Turbanen, die mit ihren Fahrrädern von einem Feld zum nächsten fahren. Die | |
meisten von ihnen sind als Arbeiter im Obst- und Gemüsesektor beschäftigt. | |
Die Gegend ist eine der fruchtbarsten Italiens. Zu den beliebtesten | |
Exportprodukten der pontinischen Ebene gehören Kiwis, die in Supermärkten | |
in ganz Europa zu finden sind, auch in Deutschland. | |
## Ungerechtigkeit und Machtmissbrauch | |
Bei unseren Fahrten durch die Dörfer hören wir viele Geschichten über | |
Ungerechtigkeit und Machtmissbrauch. Aber nur wenige Betroffene trauen | |
sich, offen zu sprechen, vor allem gegenüber Fremden und Journalisten sind | |
sie zurückhaltend. | |
Durch zahlreiche anonymisierte Gespräche mit Arbeitern sowie Interviews mit | |
Gewerkschaftern und Wissenschaftlern entsteht aber ein Bild: Die grünen | |
Felder der pontinischen Ebene sind eine Landschaft, die geprägt ist von | |
irregulären Verträgen und unzureichenden Löhnen. | |
Ein Opfer dieser Ausbeutung war Joban Singh. [2][Sein Fall sorgte für | |
Schlagzeilen.] Er nahm sich im Juni 2020 das Leben. Wie viele indische | |
Arbeiter war Joban Singh Opfer von Menschenhandel geworden. Er geriet in | |
die Fänge eines kriminellen Netzes von Reise- und Arbeitsvermittlern, | |
Mittelsmännern, Gemeindevorstehern und korrupten Beamten. Er soll 10.000 | |
Euro Schulden aufgenommen haben, um nach Italien zu gelangen. Weil er – | |
nach Aussage mehrerer Bekannter – nur schwarz beschäftigt wurde, sollen ihm | |
immer wieder Teile seines Lohns vorenthalten worden sein. | |
Sein Schicksal ist kein Einzelfall. Es gibt immer wieder Suizide. Erst im | |
Oktober 2022 haben sich zwei indische Arbeiter, die noch nicht einmal 25 | |
Jahre alt waren, auf den Bauernhöfen der Region das Leben genommen, wie | |
Lokalzeitungen berichteten. | |
Um nach Italien zu gelangen, zahlen indische Arbeiter umgerechnet bis zu | |
15.000 Euro an indische Vermittler. Dafür müssen sie sich bei Bekannten und | |
Verwandten Geld leihen oder – falls sie das besitzen – Land, Kühe und | |
Familienschmuck verkaufen. Die meisten stammen aus dem indischen | |
Bundesstaat Punjab. Der Monatslohn für Menschen, die körperlich arbeiten, | |
liegt dort zwischen 80 und 120 Euro. Deshalb ist Italien, wo ein indischer | |
Arbeiter im Durchschnitt 863 Euro pro Monat verdient, für viele attraktiv – | |
trotz der Ausbeutung, trotz der hohen Schulden. | |
In den Sikh-Tempeln in den Städten Velletri, Cisterna und Pontinia trifft | |
sich die indische Gemeinde sonntags. Das Wort „Schulden“ wird bei unseren | |
Gesprächen, obwohl es sehr viele hier betrifft, nur verschämt geflüstert. | |
Viele Tempel wurden in alten Lagerhallen eingerichtet, die später renoviert | |
und zu Gotteshäusern umfunktioniert wurden. Der Tempel in Velletri zum | |
Beispiel besteht aus einem einzigen großen Raum mit rosafarbenen Wänden, | |
einem mit Teppichen bedeckten Boden und buntem Papier, das an der Decke | |
hängt. Der Altar im hinteren Teil des Raumes ähnelt einem Himmelbett. Von | |
dort aus liest der Gottesdiener – der Granthi – aus dem heiligen Buch. | |
Im Tempel werden tagsüber Mahlzeiten für die Gläubigen und Bedürftige | |
zubereitet. Die Menschen essen gemeinsam auf dem Boden eines großen Raums. | |
Junge Leute verteilen Essen und Trinken. Ein Arbeiter erzählt, er habe zwei | |
Jahre lang im Tempel gelebt, weil er weder Miete, Essen noch Strom bezahlen | |
konnte. Mittlerweile habe er eine eigene Unterkunft. In den zwanzig Jahren, | |
die er in Italien verbracht hat, habe er aber Hunderte Menschen | |
kennengelernt, die in der gleichen Situation waren wie er. | |
Sikh-Arbeiter werden auf den Feldern und Bauernhöfen der pontinischen Ebene | |
oft durch die Strategie der „grauen Arbeit“ ausgebeutet. Dabei werde der | |
Lohn in zwei Teile gesplittet – ein Teil gehe in die Lohntüte, der andere | |
Teil werde schwarz in bar ausgezahlt, erklärt Marco Omizzolo. Die Landwirte | |
würden so weniger Sozialbeiträge und Steuern zahlen. | |
Eine andere Methode der Ausbeutung ist das sogenannte Jo-Jo-Gehalt. „Manche | |
Chefs überweisen den Lohn auf das Bankkonto der Arbeiter, zwingen sie aber | |
dann, zu einem Geldautomaten zu gehen, 200 bis 300 Euro abzuheben und sie | |
an den Arbeitgeber zurückzuzahlen“, sagt Omizzolo. | |
Außerdem gibt es Arbeiter, die gezwungen werden, sieben Tage in der Woche | |
10 bis 11 Stunden am Tag auf den Feldern zu arbeiten. Teils ohne Zugang zu | |
richtigen Toiletten und ohne regelmäßige Pausen. Vorgeschriebene | |
Schutzausrüstung wie Handschuhe und Masken für den Schutz vor Pestiziden | |
fehlten oft, sagt Omizzolo. | |
Immer wieder gibt es Berichte über Fälle von physischer und psychischer | |
Gewalt. Wer protestiert oder rebelliert, riskiert eine sofortige Entlassung | |
und Vergeltungsmaßnahmen. Einige Sikh-Arbeiter wurden auf dem Weg zu den | |
Feldern von Autos angefahren, andere ausgeraubt oder verprügelt. | |
Zu der Angst vor Gewalt tritt oft noch der Albtraum der Illegalität hinzu: | |
Ohne einen regulären Arbeitsvertrag ist es nicht möglich, eine | |
Aufenthaltsgenehmigung zu verlängern, um legal in Italien zu leben. Deshalb | |
würden so viele Arbeiter die Ausbeutung über so viele Jahre akzeptieren, | |
sagt der Generalsekretär des nationalen Gewerkschaftsbunds CGIL, Giovanni | |
Gioia. | |
Nur langsam hätten sich in den vergangenen Jahren auch ein paar Dinge | |
verbessert, sagen Omizzolo und Gewerkschaftsvertreter. Es gab zaghafte | |
Ansätze eines Teils der indischen Arbeiter, mehr Rechte einzufordern. Beim | |
ersten Streik der Sikh-Arbeiter 2016 gingen Tausende in der Provinz Latina | |
auf die Straße, der Streik führte zu einer Erhöhung der Stundenlöhne von | |
ursprünglich 2,50 auf jetzt 6 Euro pro Stunde. | |
Zudem wurden Organisationen wie „Tempi Moderni“ gegründet, die den | |
Arbeitern kostenlosen rechtlichen und medizinischen Beistand anbieten. Auch | |
ist in der Region Latina die Zahl der Prozesse gegen Unternehmer gestiegen, | |
die der „caporalato“-Kriminalität, der Vermittlung und Beschäftigung von | |
Schwarzarbeitern, angeklagt sind – auch wenn es noch wenige Urteile in dem | |
Bereich gibt. | |
Die Agrarunternehmer fänden auch neue Wege, um das Ausbeutungssystem am | |
Laufen zu halten, sagt Marco Omizzolo. Sie schalteten etwa Anwälte ein, die | |
ihnen helfen würden, Gesetze und Arbeitsschutz zu umgehen. Und die Arbeiter | |
haben weiterhin Angst, die Ausbeutung anzuprangern. | |
Auch Balbir Singh war zunächst zurückhaltend, mit uns zu sprechen. Das | |
erste Mal trafen wir ihn im Sommer 2022 in einer Unterkunft, in der er | |
damals mit drei indischen Landsleuten lebte. Er arbeitete nun auf | |
Kiwifeldern. Wir trafen ihn in der Mittagspause, als ein kleiner Ventilator | |
versuchte, die Luft zu kühlen, aber die schwüle Julihitze durch das offene | |
Fenster hereinströmte. Er zeigte uns einen Korb mit kleinen unreifen Kiwis, | |
die er am selben Morgen gepflückt hatte. | |
Zwischen Juli und Dezember sind die indischen Arbeiter in der pontinischen | |
Ebene hauptsächlich mit Kiwis beschäftigt, die wegen ihrer rentablen | |
Produktion auch als „grünes Gold“ bezeichnet werden. Italien produziert | |
320.000 Tonnen Kiwis pro Jahr und exportiert sie in fünfzig Länder. Das | |
Land ist der größte europäische Kiwiproduzent und der drittgrößte weltweit, | |
nach China und Neuseeland. Ein Markt, der insgesamt über 400 Millionen Euro | |
wert ist. | |
Balbir Singh nahm drei Kiwis in die Hand und erklärte uns, wie man die | |
Pflanze reinigt und worin der Unterschied zwischen den Kiwisorten besteht – | |
grün, gelb und rot. Aber als wir ihn fragten, wie er und seine Kollegen | |
jetzt auf den Plantagen, auf denen sie arbeiteten, behandelt werden, | |
schaute er weg und gab nur vage Antworten. | |
## Strenge Regeln für die Ernte | |
Das Gespräch wurde noch schwieriger, als ein vierter Arbeiter in die | |
Wohnung kam: Er war ein „caporale“, einer der Vorarbeiter, die die Arbeiter | |
beim Pflücken der Früchte beaufsichtigen. Er hatte von unserem Besuch von | |
anderen Arbeitern erfahren, seine Anwesenheit unterbrach das Gespräch. „Ich | |
habe aufgehört zu reden, weil er mir Angst gemacht hat“, erzählte Balbir | |
Singh am nächsten Tag bei unserem zweiten Treffen auf einem Parkplatz im | |
Zentrum der Stadt Latina. | |
Die „Kiwirevolution“ in der pontinischen Ebene begann in den 1970er Jahren: | |
Begünstigt durch günstige klimatische Bedingungen wurde das Gebiet zu einem | |
Produktionsstandort für große multinationale Unternehmen, allen voran | |
Zespri, ein führendes neuseeländisches Unternehmen. | |
Ein großer Teil der Kiwiproduktion von Zespri findet in der Region Latina | |
statt. Zespri ist vor allem für die gelbfleischige Sorte SunGold bekannt. | |
Von den Feldern der kleinen und mittleren landwirtschaftlichen Betriebe in | |
Latina werden die Kiwis in die großen Lagerhäuser der Genossenschaft | |
gebracht, wo sie verpackt und mit dem Zespri-Logo versehen werden, bevor | |
sie in ganz Europa vermarktet werden. | |
Die Regeln für die Ernte der Zespri-Kiwis sind streng, wie einige Erzeuger | |
berichten: Baumwollhandschuhe und präzise Handgriffe sind erforderlich; es | |
ist wichtig, die Früchte nicht zu verderben, wenn sie in die Kisten | |
verpackt werden. Die Sorgfalt, mit der die Kiwis behandelt werden, steht im | |
Gegensatz zu den Arbeitsbedingungen, von denen die Landarbeiter berichten. | |
Auch Gurjinder Singh arbeitet auf den Kiwifeldern, seit 15 Jahren. Als Teil | |
ihrer Religion tragen Sikh-Männer den gemeinsamen Nachnamen Singh, Löwe. | |
Die Frauen heißen Kaur, Prinzessin. Gurjinder Singhs Vornamen haben wir | |
geändert, weil er nicht identifizierbar in die Öffentlichkeit treten | |
möchte. | |
Wir sprechen mit ihm in einem Café auf dem zentralen Platz von Cisterna di | |
Latina, einer 37.000-Einwohner-Stadt. Er hat gerade seine Arbeitsschicht | |
beendet. Es ist September, das warme Nachmittagslicht leuchtet auf dem | |
hellen Fußboden. | |
Gurjinder Singh reibt sich die Hände, als wolle er die dunklen Flecken an | |
ihnen loswerden. „Ich benutze auch Spülmittel und schrubbe mit einer | |
Bürste, aber die Flecken bleiben“, sagt er und zeigt seine Handflächen | |
voller Schwielen. Er ist 50 Jahre alt und hat für mehrere Unternehmen in | |
der Gegend gearbeitet. Zwischen fünf und sechs Euro pro Stunde verdiente | |
er. Bei den kleineren Firmen habe er nie einen Vertrag gehabt, erzählt er. | |
Sein Lohn wurde am Ende des Tages bar ausgezahlt. | |
Zuletzt war er drei Jahre lang bei einem Unternehmen mit über 70 Arbeitern | |
beschäftigt, die in mehreren Gruppen von Vorarbeitern beaufsichtigt wurden. | |
Das Unternehmen verkaufte seine Kiwis auch an Zespri. Seine Vorarbeiterin | |
war eine Frau, die ihn beschimpfte und anschrie, sobald er kurz stehen | |
blieb, erzählt er: „Sie hat mich beleidigt und gedroht, mich zu schlagen.“ | |
Auf den Feldern filmte sie ihn mehrmals mit ihrem Handy, als er anhielt, um | |
etwas zu trinken oder gerade etwas in seine Augen geraten war. | |
Die Videos sollten ein Beweis für seine mangelnde Leistung sein und wurden | |
dem Chef übergeben: Es war ein Mittel, das auch bei anderen Arbeitern | |
verwendet wurde, um Widerspruch zu ersticken, wenn weniger Lohn ausgezahlt | |
wurde als vereinbart. | |
## „Ich hatte keine Wahl“ | |
Auf die Frage, warum er das Unternehmen nicht verlassen hat, antwortet | |
Gurjinder Singh mit einem Kopfschütteln. Er verbirgt sein Gesicht in den | |
Händen und sagt: „Ich hatte keine Wahl, ich muss für meine vier Kinder und | |
meine Frau arbeiten. Sie sind in Indien geblieben, ich habe sie seit 13 | |
Jahren nicht mehr gesehen.“ | |
Er habe auch Angst gehabt, dass seinen Angehörigen etwas passieren könnte, | |
wenn er sich auflehne. „Um hierher zu kommen, habe ich 14.000 Euro an einen | |
Schmuggler gezahlt. Ich kam über Russland, lief kilometerweit durch Schnee | |
und wurde dann auf Lastwagen verladen.“ Er spricht fast ausschließlich auf | |
Punjabi. „Wir lernen nie gut Italienisch, wir sind alle Ausländer auf den | |
Feldern.“ | |
Wenn ein Inder Italienisch spreche, riskiere er, von den italienischen | |
Vorarbeitern weggeschickt zu werden, weil es als Gefahr angesehen werde, | |
wenn er eine direkte Beziehung zum Chef aufbauen könnte. Die Aussage von | |
Gurjinder Singh deckt sich mit denen von zehn anderen indischen Arbeitern, | |
mit denen wir gesprochen haben. Und deren Betriebe alle Kiwis für Zespri | |
produzieren. | |
Konfrontiert mit den Arbeitsbedingungen, von denen wir im Lauf unserer | |
Recherche bei Unternehmen erfahren, mit denen Zespri zusammenarbeitet, | |
antwortet Zespri: „Während die große Mehrheit der Arbeitgeber in der | |
Kiwiindustrie für ihre Mitarbeiter sorgt, kann es sein, dass eine kleine | |
Minderheit dies nicht tut. Jegliche Ausbeutung von Arbeitnehmern ist | |
inakzeptabel, und wir verpflichten uns, die betreffenden Personen zur | |
Rechenschaft zu ziehen und unseren Rahmen für die Einhaltung der | |
Vorschriften weiter zu verbessern. Wir nehmen die erhobenen Vorwürfe sehr | |
ernst und haben eine Untersuchung eingeleitet, um herauszufinden, wie wir | |
die betroffenen Arbeitnehmer unterstützen können.“ | |
Zespri fügt hinzu, dass sie mit mehr als 1.200 Erzeugern in Italien | |
zusammenarbeiten, die das Global-Gap-Grasp-Zertifikat (Global Risk | |
Assessment On Social Practice) besitzen müssen – ein unabhängiges, | |
internationales Zertifizierungssystem, das Kriterien für die Sicherheit, | |
die Gesundheit und das Wohlergehen der Arbeiter festlegt. An dem | |
Zertifizierungssystem gibt es aber immer wieder Kritik. [3][Die taz | |
berichtete im Februar 2021 über Lücken des Global-Gap-Zertifikats bei | |
Obstanbau in Frankreich und Spanien.] | |
Die Lieferanten von Zespri sind auch bei Sedex registriert, einer anderen | |
unabhängigen Zertifizierungsstelle, die die Arbeitsbedingungen der | |
italienischen Lieferanten von SunGold-Kiwis überwacht. Zespri sagt, man | |
habe sich sowohl an die Zertifizierungsstellen als auch an die Lieferanten | |
gewandt, um sie auf die unlauteren Praktiken aufmerksam zu machen. | |
Als wir Balbir Singh das letzte Mal am Telefon sprechen, ist er gerade in | |
Indien, um nach neun Jahren Abwesenheit an der Hochzeit seines Sohnes | |
teilzunehmen. „Jetzt bin ich eine freie Seele“, sagt er. „Ich warte auf d… | |
Abschluss des Gerichtsverfahrens und meine Entschädigung. Dann will ich mit | |
meiner Frau nach Italien reisen, wo ich ein Haus bauen will. Ich kann es | |
kaum erwarten, dass gute Tage kommen.“ Er glaubt, dass man niemals aufgeben | |
sollte: „Das Leben ist ein Kampf, und man muss kämpfen, aber ich würde nie | |
wollen, dass einer meiner schlimmsten Feinde mit den Problemen konfrontiert | |
wird, die ich hatte.“ | |
Diese Recherche wurde möglich durch die Unterstützung des | |
[4][Journalismfund Europe] sowie [5][Danwatch], [6][IRPI Media] und [7][The | |
Wire]. | |
29 Jun 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://www.frontlinedefenders.org/en/profile/marco-omizzolo | |
[2] https://www.spiegel.de/ausland/ausbeutung-bei-der-ernte-fuer-deutsche-super… | |
[3] /Ausbeutung-in-der-Landwirtschaft/!5752321 | |
[4] https://www.journalismfund.eu/ | |
[5] https://danwatch.dk/en/about-danwatch/ | |
[6] https://irpimedia.irpi.eu/en/ | |
[7] https://thewire.in/about-us | |
## AUTOREN | |
Charlotte Aagaard | |
Kusum Arora | |
Francesca Cicculli | |
Stefania Prandi | |
## TAGS | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
Landwirtschaft | |
Ausbeutung | |
Italien | |
Podcast „Vorgelesen“ | |
Arbeitsbedingungen | |
GNS | |
wochentaz | |
Indien | |
Italien | |
Italien | |
Kolumne Grauzone | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
Landwirtschaft | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Indiens Wahlkampf in Deutschland: Buhlen um die Diaspora | |
Seit 2014 hat sich die Zahl der Inder hierzulande verdreifacht. Neben | |
Unpolitischen und Kritischen gibt es auch aktive Hindunationalisten. | |
Italiens größtes Stahlwerk verstaatlicht: Verlängerte Agonie | |
Die Regierung Meloni hat das Stahlwerk in Tarent unter ihre Fittiche | |
genommen. Es geht um Schadensbegrenzung, aber es fehlt ein politischer | |
Plan. | |
Meloni für Migration in Italien: Realistischer Rassismus | |
Italiens Regierung will von ihrer fremdenfeindlichen Rhetorik nicht lassen. | |
Doch die Realität schafft Fakten – Zuwanderung ist die Devise. | |
Ausbeutung von Arbeitsmigrant:innen: Deutschlands Schattenwelt | |
Die Existenznot treibt Menschen aus Osteuropa in den Westen. Statt des | |
erhofften besseren Lebens treffen sie auf Ausbeutung und Entrechtung. | |
Urteil zu Gefangenenvergütung: Was Häftlinge verdienen | |
Ist es angemessen, für einen Stundenlohn von 1,78 Euro arbeiten zu müssen? | |
Am Dienstag entscheidet Karlsruhe über eine Klage von Häftlingen. | |
Theatermacher über Ernte-Ausbeutung: „Wer holt die Nahrung vom Feld?“ | |
Das Drama vom billigen Spargel: Ein Stück lässt in Bremen | |
Feldarbeiter*innen auf der Bühne zu Wort kommen. |