| # taz.de -- Ausbeutung indischer Landarbeiter: Italiens bittere Kiwis | |
| > In ganz Europa sind italienische Kiwis beliebt. Auf den Feldern arbeiten | |
| > viele Inder unter unwürdigen Bedingungen, gefangen im ausbeuterischen | |
| > System. | |
| Bild: Kiwi-Ernte auf einem Feld in der Nähe von Latina, Italien: etwa 30.000 S… | |
| Sie kamen am Morgen kurz vor Sonnenaufgang. Der abgelegene Bauernhof | |
| außerhalb von Borgo Sabotino, einer 2.000-Einwohnergemeinde südlich von | |
| Rom, lag noch in der Dunkelheit. Es war der 17. März 2017. Ein Datum, das | |
| Balbir Singh nie vergessen wird. | |
| In der Dunkelheit tauchten zwölf bewaffnete Männer auf. „Ich hatte wirklich | |
| Angst“, erzählt Balbir Singh. „Der Hofbesitzer rief mir zu, ich solle | |
| weglaufen. Aber das tat ich nicht.“ Und darüber ist er heute froh. | |
| Die Männer in Zivil zeigten ihm ihre Ausweise. Es waren italienische | |
| Polizisten. Sie baten Balbir Singh mitzukommen. „Meine Kleidung war | |
| schmutzig. Ich hatte tiefe Wunden an Händen und Füßen, meine Nägel | |
| bluteten. Aber es war ein großer Tag“, sagt Balbir Singh. „Kurz vor unserer | |
| Abfahrt sah ich, dass die Polizisten den Bauern und seine Frau verhaftet | |
| hatten.“ | |
| Sechs Jahre Ausbeutung mit Gewalt, Drohungen, ausbleibender Bezahlung, | |
| Hunger und Entbehrungen hatten für Balbir Singh, einen ehemaligen | |
| Englischlehrer und langjährigen Landarbeiter aus der indischen Region | |
| Punjab, damit ein Ende. „Sechs Jahre in der Hölle“, nennt er die Zeit | |
| heute. | |
| ## Informationen für die Polizei | |
| Sie endete, als er über einen indischen Landsmann Kontakt zu [1][dem | |
| italienischen Soziologen und Menschenrechtsaktivisten Marco Omizzolo] | |
| bekam. Omizzolo lehrt Sozialanthropologie an der Universität La Sapienza in | |
| Rom. Er setzt sich seit Jahren für die Rechte indischer Landarbeiter in | |
| Italien ein, dokumentiert Missstände und bringt sie zur Anzeige. 2016 | |
| organisierte er den ersten größeren Streik indischer Arbeiter in Italien | |
| mit. Wegen seines Engagements erhält er oft anonyme Drohungen, sein Auto | |
| wurde mehrmals beschädigt. Seit Jahren steht Omizzolo unter Polizeischutz, | |
| aus Sicherheitsgründen wohnt er selbst heute nicht mehr in der Region. | |
| Omizzolo sorgte dafür, dass Balbir Singh über seinen indischen Bekannten | |
| ein Handy bekam, mit dem er ihm die Zustände auf dem Bauernhof über mehrere | |
| Wochen immer wieder schildern konnte. Mit den Informationen ging Omizzolo | |
| schließlich zur Polizei. | |
| „Ich habe jeden Tag 12 bis 13 Stunden gearbeitet, sieben Tage die Woche“, | |
| erzählt Balbir Singh im Gespräch. „Obwohl ich nie einen freien Tag hatte, | |
| wurde mein Lohn immer weiter gekürzt. Am Ende gab es mehrere Monate, in | |
| denen ich überhaupt kein Geld mehr bekam.“ Er habe sich aus Geldmangel | |
| lange Zeit von altem Brot ernähren müssen und Essen aus Resten gekocht, die | |
| die Familie weggeworfen hatte. Er wohnte in einem alten Wohnwagen ohne | |
| Strom oder Heizung. Wenn er duschen wollte, erzählt er, habe er das im | |
| Stall tun müssen, nachdem alle anderen auf dem Hof bereits zu Bett gegangen | |
| waren oder bevor sie morgens aufstanden. | |
| Es mag ein extremer Fall sein, was Balbir Singh erlebte, aber seine | |
| Geschichte zeigt, wie verletzlich indische Landarbeiter sind, wenn sie auf | |
| der Suche nach Arbeit nach Italien kommen – ohne Geld, ohne | |
| Sprachkenntnisse, oft mit hohen Schulden bei zwielichtigen Vermittlern und | |
| mit der ständigen Angst, ihre Aufenthaltserlaubnis wieder zu verlieren. | |
| Balbir Singh ist einer der wenigen, der sich wehrte und seinen ehemaligen | |
| Chef vor Gericht brachte. | |
| Er ist der erste Migrant, dem in Italien eine Aufenthaltserlaubnis „aus | |
| Gründen der Gerechtigkeit“ erteilt wurde. Diese soll sicherstellen, dass er | |
| auf jeden Fall bis zum Ende des Gerichtsprozesses im Land bleiben kann. Ein | |
| rechtskräftiges Urteil steht in seinem Fall noch aus. Bei Prozessen mit | |
| Berufung kann es mehrere Jahre dauern, bis eine Entscheidung durch alle | |
| Instanzen gegangen ist. | |
| In den vergangenen dreißig Jahren sind viele Inder auf der Suche nach | |
| Arbeit in die Agro Pontino, die pontinische Ebene, einem Gebiet südöstlich | |
| von Rom, gekommen. Offiziell gibt es in der Region Latina, in der die | |
| pontinische Ebene liegt, heute 9.500 indische Arbeiter. Nimmt man | |
| diejenigen dazu, die keine Aufenthaltsgenehmigung haben, die in | |
| benachbarten Regionen leben oder die noch nicht in der Statistik | |
| auftauchen, weil sie erst sehr kurz im Land sind, könnte die Zahl bei | |
| 30.000 liegen, schätzt Marco Omizzolo. | |
| Auf den Straßen der Region sieht man oft indische Arbeiter mit bunten | |
| Turbanen, die mit ihren Fahrrädern von einem Feld zum nächsten fahren. Die | |
| meisten von ihnen sind als Arbeiter im Obst- und Gemüsesektor beschäftigt. | |
| Die Gegend ist eine der fruchtbarsten Italiens. Zu den beliebtesten | |
| Exportprodukten der pontinischen Ebene gehören Kiwis, die in Supermärkten | |
| in ganz Europa zu finden sind, auch in Deutschland. | |
| ## Ungerechtigkeit und Machtmissbrauch | |
| Bei unseren Fahrten durch die Dörfer hören wir viele Geschichten über | |
| Ungerechtigkeit und Machtmissbrauch. Aber nur wenige Betroffene trauen | |
| sich, offen zu sprechen, vor allem gegenüber Fremden und Journalisten sind | |
| sie zurückhaltend. | |
| Durch zahlreiche anonymisierte Gespräche mit Arbeitern sowie Interviews mit | |
| Gewerkschaftern und Wissenschaftlern entsteht aber ein Bild: Die grünen | |
| Felder der pontinischen Ebene sind eine Landschaft, die geprägt ist von | |
| irregulären Verträgen und unzureichenden Löhnen. | |
| Ein Opfer dieser Ausbeutung war Joban Singh. [2][Sein Fall sorgte für | |
| Schlagzeilen.] Er nahm sich im Juni 2020 das Leben. Wie viele indische | |
| Arbeiter war Joban Singh Opfer von Menschenhandel geworden. Er geriet in | |
| die Fänge eines kriminellen Netzes von Reise- und Arbeitsvermittlern, | |
| Mittelsmännern, Gemeindevorstehern und korrupten Beamten. Er soll 10.000 | |
| Euro Schulden aufgenommen haben, um nach Italien zu gelangen. Weil er – | |
| nach Aussage mehrerer Bekannter – nur schwarz beschäftigt wurde, sollen ihm | |
| immer wieder Teile seines Lohns vorenthalten worden sein. | |
| Sein Schicksal ist kein Einzelfall. Es gibt immer wieder Suizide. Erst im | |
| Oktober 2022 haben sich zwei indische Arbeiter, die noch nicht einmal 25 | |
| Jahre alt waren, auf den Bauernhöfen der Region das Leben genommen, wie | |
| Lokalzeitungen berichteten. | |
| Um nach Italien zu gelangen, zahlen indische Arbeiter umgerechnet bis zu | |
| 15.000 Euro an indische Vermittler. Dafür müssen sie sich bei Bekannten und | |
| Verwandten Geld leihen oder – falls sie das besitzen – Land, Kühe und | |
| Familienschmuck verkaufen. Die meisten stammen aus dem indischen | |
| Bundesstaat Punjab. Der Monatslohn für Menschen, die körperlich arbeiten, | |
| liegt dort zwischen 80 und 120 Euro. Deshalb ist Italien, wo ein indischer | |
| Arbeiter im Durchschnitt 863 Euro pro Monat verdient, für viele attraktiv – | |
| trotz der Ausbeutung, trotz der hohen Schulden. | |
| In den Sikh-Tempeln in den Städten Velletri, Cisterna und Pontinia trifft | |
| sich die indische Gemeinde sonntags. Das Wort „Schulden“ wird bei unseren | |
| Gesprächen, obwohl es sehr viele hier betrifft, nur verschämt geflüstert. | |
| Viele Tempel wurden in alten Lagerhallen eingerichtet, die später renoviert | |
| und zu Gotteshäusern umfunktioniert wurden. Der Tempel in Velletri zum | |
| Beispiel besteht aus einem einzigen großen Raum mit rosafarbenen Wänden, | |
| einem mit Teppichen bedeckten Boden und buntem Papier, das an der Decke | |
| hängt. Der Altar im hinteren Teil des Raumes ähnelt einem Himmelbett. Von | |
| dort aus liest der Gottesdiener – der Granthi – aus dem heiligen Buch. | |
| Im Tempel werden tagsüber Mahlzeiten für die Gläubigen und Bedürftige | |
| zubereitet. Die Menschen essen gemeinsam auf dem Boden eines großen Raums. | |
| Junge Leute verteilen Essen und Trinken. Ein Arbeiter erzählt, er habe zwei | |
| Jahre lang im Tempel gelebt, weil er weder Miete, Essen noch Strom bezahlen | |
| konnte. Mittlerweile habe er eine eigene Unterkunft. In den zwanzig Jahren, | |
| die er in Italien verbracht hat, habe er aber Hunderte Menschen | |
| kennengelernt, die in der gleichen Situation waren wie er. | |
| Sikh-Arbeiter werden auf den Feldern und Bauernhöfen der pontinischen Ebene | |
| oft durch die Strategie der „grauen Arbeit“ ausgebeutet. Dabei werde der | |
| Lohn in zwei Teile gesplittet – ein Teil gehe in die Lohntüte, der andere | |
| Teil werde schwarz in bar ausgezahlt, erklärt Marco Omizzolo. Die Landwirte | |
| würden so weniger Sozialbeiträge und Steuern zahlen. | |
| Eine andere Methode der Ausbeutung ist das sogenannte Jo-Jo-Gehalt. „Manche | |
| Chefs überweisen den Lohn auf das Bankkonto der Arbeiter, zwingen sie aber | |
| dann, zu einem Geldautomaten zu gehen, 200 bis 300 Euro abzuheben und sie | |
| an den Arbeitgeber zurückzuzahlen“, sagt Omizzolo. | |
| Außerdem gibt es Arbeiter, die gezwungen werden, sieben Tage in der Woche | |
| 10 bis 11 Stunden am Tag auf den Feldern zu arbeiten. Teils ohne Zugang zu | |
| richtigen Toiletten und ohne regelmäßige Pausen. Vorgeschriebene | |
| Schutzausrüstung wie Handschuhe und Masken für den Schutz vor Pestiziden | |
| fehlten oft, sagt Omizzolo. | |
| Immer wieder gibt es Berichte über Fälle von physischer und psychischer | |
| Gewalt. Wer protestiert oder rebelliert, riskiert eine sofortige Entlassung | |
| und Vergeltungsmaßnahmen. Einige Sikh-Arbeiter wurden auf dem Weg zu den | |
| Feldern von Autos angefahren, andere ausgeraubt oder verprügelt. | |
| Zu der Angst vor Gewalt tritt oft noch der Albtraum der Illegalität hinzu: | |
| Ohne einen regulären Arbeitsvertrag ist es nicht möglich, eine | |
| Aufenthaltsgenehmigung zu verlängern, um legal in Italien zu leben. Deshalb | |
| würden so viele Arbeiter die Ausbeutung über so viele Jahre akzeptieren, | |
| sagt der Generalsekretär des nationalen Gewerkschaftsbunds CGIL, Giovanni | |
| Gioia. | |
| Nur langsam hätten sich in den vergangenen Jahren auch ein paar Dinge | |
| verbessert, sagen Omizzolo und Gewerkschaftsvertreter. Es gab zaghafte | |
| Ansätze eines Teils der indischen Arbeiter, mehr Rechte einzufordern. Beim | |
| ersten Streik der Sikh-Arbeiter 2016 gingen Tausende in der Provinz Latina | |
| auf die Straße, der Streik führte zu einer Erhöhung der Stundenlöhne von | |
| ursprünglich 2,50 auf jetzt 6 Euro pro Stunde. | |
| Zudem wurden Organisationen wie „Tempi Moderni“ gegründet, die den | |
| Arbeitern kostenlosen rechtlichen und medizinischen Beistand anbieten. Auch | |
| ist in der Region Latina die Zahl der Prozesse gegen Unternehmer gestiegen, | |
| die der „caporalato“-Kriminalität, der Vermittlung und Beschäftigung von | |
| Schwarzarbeitern, angeklagt sind – auch wenn es noch wenige Urteile in dem | |
| Bereich gibt. | |
| Die Agrarunternehmer fänden auch neue Wege, um das Ausbeutungssystem am | |
| Laufen zu halten, sagt Marco Omizzolo. Sie schalteten etwa Anwälte ein, die | |
| ihnen helfen würden, Gesetze und Arbeitsschutz zu umgehen. Und die Arbeiter | |
| haben weiterhin Angst, die Ausbeutung anzuprangern. | |
| Auch Balbir Singh war zunächst zurückhaltend, mit uns zu sprechen. Das | |
| erste Mal trafen wir ihn im Sommer 2022 in einer Unterkunft, in der er | |
| damals mit drei indischen Landsleuten lebte. Er arbeitete nun auf | |
| Kiwifeldern. Wir trafen ihn in der Mittagspause, als ein kleiner Ventilator | |
| versuchte, die Luft zu kühlen, aber die schwüle Julihitze durch das offene | |
| Fenster hereinströmte. Er zeigte uns einen Korb mit kleinen unreifen Kiwis, | |
| die er am selben Morgen gepflückt hatte. | |
| Zwischen Juli und Dezember sind die indischen Arbeiter in der pontinischen | |
| Ebene hauptsächlich mit Kiwis beschäftigt, die wegen ihrer rentablen | |
| Produktion auch als „grünes Gold“ bezeichnet werden. Italien produziert | |
| 320.000 Tonnen Kiwis pro Jahr und exportiert sie in fünfzig Länder. Das | |
| Land ist der größte europäische Kiwiproduzent und der drittgrößte weltweit, | |
| nach China und Neuseeland. Ein Markt, der insgesamt über 400 Millionen Euro | |
| wert ist. | |
| Balbir Singh nahm drei Kiwis in die Hand und erklärte uns, wie man die | |
| Pflanze reinigt und worin der Unterschied zwischen den Kiwisorten besteht – | |
| grün, gelb und rot. Aber als wir ihn fragten, wie er und seine Kollegen | |
| jetzt auf den Plantagen, auf denen sie arbeiteten, behandelt werden, | |
| schaute er weg und gab nur vage Antworten. | |
| ## Strenge Regeln für die Ernte | |
| Das Gespräch wurde noch schwieriger, als ein vierter Arbeiter in die | |
| Wohnung kam: Er war ein „caporale“, einer der Vorarbeiter, die die Arbeiter | |
| beim Pflücken der Früchte beaufsichtigen. Er hatte von unserem Besuch von | |
| anderen Arbeitern erfahren, seine Anwesenheit unterbrach das Gespräch. „Ich | |
| habe aufgehört zu reden, weil er mir Angst gemacht hat“, erzählte Balbir | |
| Singh am nächsten Tag bei unserem zweiten Treffen auf einem Parkplatz im | |
| Zentrum der Stadt Latina. | |
| Die „Kiwirevolution“ in der pontinischen Ebene begann in den 1970er Jahren: | |
| Begünstigt durch günstige klimatische Bedingungen wurde das Gebiet zu einem | |
| Produktionsstandort für große multinationale Unternehmen, allen voran | |
| Zespri, ein führendes neuseeländisches Unternehmen. | |
| Ein großer Teil der Kiwiproduktion von Zespri findet in der Region Latina | |
| statt. Zespri ist vor allem für die gelbfleischige Sorte SunGold bekannt. | |
| Von den Feldern der kleinen und mittleren landwirtschaftlichen Betriebe in | |
| Latina werden die Kiwis in die großen Lagerhäuser der Genossenschaft | |
| gebracht, wo sie verpackt und mit dem Zespri-Logo versehen werden, bevor | |
| sie in ganz Europa vermarktet werden. | |
| Die Regeln für die Ernte der Zespri-Kiwis sind streng, wie einige Erzeuger | |
| berichten: Baumwollhandschuhe und präzise Handgriffe sind erforderlich; es | |
| ist wichtig, die Früchte nicht zu verderben, wenn sie in die Kisten | |
| verpackt werden. Die Sorgfalt, mit der die Kiwis behandelt werden, steht im | |
| Gegensatz zu den Arbeitsbedingungen, von denen die Landarbeiter berichten. | |
| Auch Gurjinder Singh arbeitet auf den Kiwifeldern, seit 15 Jahren. Als Teil | |
| ihrer Religion tragen Sikh-Männer den gemeinsamen Nachnamen Singh, Löwe. | |
| Die Frauen heißen Kaur, Prinzessin. Gurjinder Singhs Vornamen haben wir | |
| geändert, weil er nicht identifizierbar in die Öffentlichkeit treten | |
| möchte. | |
| Wir sprechen mit ihm in einem Café auf dem zentralen Platz von Cisterna di | |
| Latina, einer 37.000-Einwohner-Stadt. Er hat gerade seine Arbeitsschicht | |
| beendet. Es ist September, das warme Nachmittagslicht leuchtet auf dem | |
| hellen Fußboden. | |
| Gurjinder Singh reibt sich die Hände, als wolle er die dunklen Flecken an | |
| ihnen loswerden. „Ich benutze auch Spülmittel und schrubbe mit einer | |
| Bürste, aber die Flecken bleiben“, sagt er und zeigt seine Handflächen | |
| voller Schwielen. Er ist 50 Jahre alt und hat für mehrere Unternehmen in | |
| der Gegend gearbeitet. Zwischen fünf und sechs Euro pro Stunde verdiente | |
| er. Bei den kleineren Firmen habe er nie einen Vertrag gehabt, erzählt er. | |
| Sein Lohn wurde am Ende des Tages bar ausgezahlt. | |
| Zuletzt war er drei Jahre lang bei einem Unternehmen mit über 70 Arbeitern | |
| beschäftigt, die in mehreren Gruppen von Vorarbeitern beaufsichtigt wurden. | |
| Das Unternehmen verkaufte seine Kiwis auch an Zespri. Seine Vorarbeiterin | |
| war eine Frau, die ihn beschimpfte und anschrie, sobald er kurz stehen | |
| blieb, erzählt er: „Sie hat mich beleidigt und gedroht, mich zu schlagen.“ | |
| Auf den Feldern filmte sie ihn mehrmals mit ihrem Handy, als er anhielt, um | |
| etwas zu trinken oder gerade etwas in seine Augen geraten war. | |
| Die Videos sollten ein Beweis für seine mangelnde Leistung sein und wurden | |
| dem Chef übergeben: Es war ein Mittel, das auch bei anderen Arbeitern | |
| verwendet wurde, um Widerspruch zu ersticken, wenn weniger Lohn ausgezahlt | |
| wurde als vereinbart. | |
| ## „Ich hatte keine Wahl“ | |
| Auf die Frage, warum er das Unternehmen nicht verlassen hat, antwortet | |
| Gurjinder Singh mit einem Kopfschütteln. Er verbirgt sein Gesicht in den | |
| Händen und sagt: „Ich hatte keine Wahl, ich muss für meine vier Kinder und | |
| meine Frau arbeiten. Sie sind in Indien geblieben, ich habe sie seit 13 | |
| Jahren nicht mehr gesehen.“ | |
| Er habe auch Angst gehabt, dass seinen Angehörigen etwas passieren könnte, | |
| wenn er sich auflehne. „Um hierher zu kommen, habe ich 14.000 Euro an einen | |
| Schmuggler gezahlt. Ich kam über Russland, lief kilometerweit durch Schnee | |
| und wurde dann auf Lastwagen verladen.“ Er spricht fast ausschließlich auf | |
| Punjabi. „Wir lernen nie gut Italienisch, wir sind alle Ausländer auf den | |
| Feldern.“ | |
| Wenn ein Inder Italienisch spreche, riskiere er, von den italienischen | |
| Vorarbeitern weggeschickt zu werden, weil es als Gefahr angesehen werde, | |
| wenn er eine direkte Beziehung zum Chef aufbauen könnte. Die Aussage von | |
| Gurjinder Singh deckt sich mit denen von zehn anderen indischen Arbeitern, | |
| mit denen wir gesprochen haben. Und deren Betriebe alle Kiwis für Zespri | |
| produzieren. | |
| Konfrontiert mit den Arbeitsbedingungen, von denen wir im Lauf unserer | |
| Recherche bei Unternehmen erfahren, mit denen Zespri zusammenarbeitet, | |
| antwortet Zespri: „Während die große Mehrheit der Arbeitgeber in der | |
| Kiwiindustrie für ihre Mitarbeiter sorgt, kann es sein, dass eine kleine | |
| Minderheit dies nicht tut. Jegliche Ausbeutung von Arbeitnehmern ist | |
| inakzeptabel, und wir verpflichten uns, die betreffenden Personen zur | |
| Rechenschaft zu ziehen und unseren Rahmen für die Einhaltung der | |
| Vorschriften weiter zu verbessern. Wir nehmen die erhobenen Vorwürfe sehr | |
| ernst und haben eine Untersuchung eingeleitet, um herauszufinden, wie wir | |
| die betroffenen Arbeitnehmer unterstützen können.“ | |
| Zespri fügt hinzu, dass sie mit mehr als 1.200 Erzeugern in Italien | |
| zusammenarbeiten, die das Global-Gap-Grasp-Zertifikat (Global Risk | |
| Assessment On Social Practice) besitzen müssen – ein unabhängiges, | |
| internationales Zertifizierungssystem, das Kriterien für die Sicherheit, | |
| die Gesundheit und das Wohlergehen der Arbeiter festlegt. An dem | |
| Zertifizierungssystem gibt es aber immer wieder Kritik. [3][Die taz | |
| berichtete im Februar 2021 über Lücken des Global-Gap-Zertifikats bei | |
| Obstanbau in Frankreich und Spanien.] | |
| Die Lieferanten von Zespri sind auch bei Sedex registriert, einer anderen | |
| unabhängigen Zertifizierungsstelle, die die Arbeitsbedingungen der | |
| italienischen Lieferanten von SunGold-Kiwis überwacht. Zespri sagt, man | |
| habe sich sowohl an die Zertifizierungsstellen als auch an die Lieferanten | |
| gewandt, um sie auf die unlauteren Praktiken aufmerksam zu machen. | |
| Als wir Balbir Singh das letzte Mal am Telefon sprechen, ist er gerade in | |
| Indien, um nach neun Jahren Abwesenheit an der Hochzeit seines Sohnes | |
| teilzunehmen. „Jetzt bin ich eine freie Seele“, sagt er. „Ich warte auf d… | |
| Abschluss des Gerichtsverfahrens und meine Entschädigung. Dann will ich mit | |
| meiner Frau nach Italien reisen, wo ich ein Haus bauen will. Ich kann es | |
| kaum erwarten, dass gute Tage kommen.“ Er glaubt, dass man niemals aufgeben | |
| sollte: „Das Leben ist ein Kampf, und man muss kämpfen, aber ich würde nie | |
| wollen, dass einer meiner schlimmsten Feinde mit den Problemen konfrontiert | |
| wird, die ich hatte.“ | |
| Diese Recherche wurde möglich durch die Unterstützung des | |
| [4][Journalismfund Europe] sowie [5][Danwatch], [6][IRPI Media] und [7][The | |
| Wire]. | |
| 29 Jun 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.frontlinedefenders.org/en/profile/marco-omizzolo | |
| [2] https://www.spiegel.de/ausland/ausbeutung-bei-der-ernte-fuer-deutsche-super… | |
| [3] /Ausbeutung-in-der-Landwirtschaft/!5752321 | |
| [4] https://www.journalismfund.eu/ | |
| [5] https://danwatch.dk/en/about-danwatch/ | |
| [6] https://irpimedia.irpi.eu/en/ | |
| [7] https://thewire.in/about-us | |
| ## AUTOREN | |
| Charlotte Aagaard | |
| Kusum Arora | |
| Francesca Cicculli | |
| Stefania Prandi | |
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