Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Indiens Wahlkampf in Deutschland: Buhlen um die Diaspora
> Seit 2014 hat sich die Zahl der Inder hierzulande verdreifacht. Neben
> Unpolitischen und Kritischen gibt es auch aktive Hindunationalisten.
Bild: Vilwanathan Krishnamurthy, Vorstandsmitglied des Vereins Sri Ganesha-Hind…
Berlin taz | Berlin, Tempelhofer Feld. Am ersten warmen Wochenende des
Jahres sind auf dem breiten Asphaltweg zum westlichen Tor des früheren
Flughafens gleich drei verschiedene Cricketpartien im Gange. Junge Männer,
vor allem vom indischen Subkontinent, nehmen Positionen ein oder jagen dem
Ball hinterher, während andere darauf warten, erneut ins Spiel gerufen zu
werden. Cricket ist die populärste Teamsportart in Indien. Auf dem
Cricketfeld in Berlin erklingen zahlreiche Sprachen, Englisch dominiert.
Im letzten Jahrzehnt [1][hat sich die Zahl der indischen Staatsbürger in
Deutschland mehr als verdreifacht]. Neben hochqualifizierten
Arbeitskräften, insbesondere aus dem IT-Bereich, sind auch Zehntausende zum
Studium gekommen, von denen viele bei Lieferdiensten oder in anderen
prekären Jobs arbeiten. Mit [2][dem deutsch-indischen Migrationsabkommen
von 2022] hat sich der Einwanderungstrend noch verstärkt. Um die
Viertelmillion Inder sollen laut der Ausländerzentralregister bereits in
Deutschland leben.
Auf dem Tempelhofer Feld erzählen einige der Spieler, dass sie erst seit
wenigen Monaten oder Jahren in der Stadt sind. Berlin gefällt ihnen sehr,
wenn sie auch das Erlernen der deutschen Sprache als große Herausforderung
sehen. Die Spielgruppe ist geografisch und sprachlich stark durchmischt –
die Männer kommen aus Karnataka im Süden, Gujarat im Westen oder Uttar
Pradesh im Norden. Ob sie sich auch ein Leben in Deutschland nach dem
Studium vorstellen können? Die meisten sagen: ja.
Deutschland wird also immer indischer. Eine Realität, die im Schatten
migrationspolitischer Debatten zu Asyl und Flucht medial kaum Thema ist.
Vor der Wahl in Indien stellt sich die Frage, wie sich diese äußerst
vielfältige Gemeinschaft entwickelt und mit welchen Problemen sie
konfrontiert ist. Denn die politischen Umbrüche in Indien, unter dem
[3][immer deutlicher autoritären Kurs von Premierminister Narendra Modi],
sind auch in Deutschland zu spüren.
## Wählen kann die Diaspora nicht
Inder im Ausland können nicht in den Botschaften wählen, auch nicht in
Berlin. Ein Student aus Gujarat, dem Bundesstaat, aus dem auch Modi kommt,
verfolgt dennoch die Nachrichten zur Wahl und freut sich auf den
voraussichtlichen Erfolg der BJP. Um die Zukunft der Demokratie macht er
sich keine Sorgen: „Indien wird immer stärker, auch ökonomisch, und
übernimmt eine globale Führungsposition – deswegen wird die Regierung von
der Mehrheit unterstützt.“ Die anderen herumstehenden Cricketspieler wollen
lieber nicht über Politik reden.
Der Familien- und Jugendberater Vilwanathan Krishnamurthy ist
Vorstandsmitglied der Sri-Ganesha-Hindu-Tempelgemeinde an der Hasenheide
und lebt seit 50 Jahren in Berlin-Neukölln. Noch immer interessiert er sich
sehr für die Politik in seinem Heimatland. Während des Gesprächs kommen
zahlreiche Familien in den Tempel – ein Verein von Migranten aus
Südostindien feiert heute in den Räumen das Neujahrsfest.
Für Krishnamurthy liegt der Fokus der Gemeindearbeit auf Integration. Viele
der neuen Migranten möchten hierbleiben, einige erwerben sogar
Eigentumswohnungen, erzählt Krishnamurthy. Der Tempel solle dabei
politisch neutral sein und für alle offen bleiben. Natürlich werde unter
den Besuchern über die Wahlen diskutiert. Er selbst möge die Vermischung
von Politik und Religion nicht, egal von welcher Seite.
Anders als in Großbritannien oder den USA merke Krishnamurthy aber in
Deutschland keine Spannungen in der indischen Community. Darauf legt er
auch Wert: „Wir sind im Ausland und können sowieso nichts ändern. Welche
Regierung auch kommt, wir müssen mit ihr leben.“
## „Etwas fundamentales zerbrochen“
Das sehen nicht alle so. Der Kulturanthropologe Jagat Sohail ist in Delhi
aufgewachsen und forscht zur Migration in Deutschland. In Berlin lebt er
seit fünf Jahren. Er fühlt sich sehr Zuhause hier, auch aufgrund der
wachsenden Zahl der Menschen vom Subkontinent.
Sohail ist skeptisch, ob er sich unter den jetzigen Bedingungen wieder ein
Leben in Indien vorstellen kann. In seinem Freundeskreis gebe es bereits
die Empfindung, dass „etwas Fundamentales in unseren demokratischen
Institutionen zerbrochen ist, besonders infolge der zweiten Amtszeit von
Modi“, sagt er. Die jüngsten Ereignisse, wie Rücktritte von
Wahlkommissionsmitgliedern und die Schließung der Bankkontos der
Oppositionspartei fühlten sich an „wie das Totenglöckchen der Demokratie“.
Besonders Akademiker und Journalisten sehen deshalb keine Zukunft mehr im
Land. Auch seine Bekannten, die interreligiös heiraten wollen, fragen sich,
wie es weitergehen soll. Diese „bedrückende Atmosphäre“, neben der sehr
hohen Jugendarbeitslosigkeit, würde die kommende Migration aus Indien
sicherlich mit prägen.
In Berlins indischer Diaspora [4][sind in den letzten Jahren
regierungskritische Gruppen entstanden], die Proteste gegen Modis
[5][diskriminierendes Staatsbürgerschaftsgesetz] oder in [6][Solidarität
mit den Bauernprotesten in Indien] veranstalten. Es gibt auch Initiativen,
ausgebeutete Fahrradkuriere vom Subkontinent zu unterstützen und zu
organisieren. Im Allgemeinen schätzt Sohail aber, dass die Mehrheit der
Inder in Deutschland sich lieber „als unpolitisch positionieren“ würde.
Zudem seien sie, was Aktivismus anbetrifft, als Neuankömmlinge sehr
vorsichtig.
Demgegenüber sind auch hindunationalistische Gruppen in Deutschland aktiv,
das habe man bei der „enormen Mobilisierung zum Modi-Besuch in Berlin vor
zwei Jahren beobachten können“, sagt Jagat Sohail. In mehreren deutschen
Städten gibt es Ortsverbände der HSS, der Auslandsvertretung [7][der
paramilitärischen Nationalen Freiwilligenorganisation RSS].
## Der Einfluss indischer Rechter wächst
Seit Jahrzehnten ist die indische Rechte äußerst aktiv in
Diaspora-Gemeinden. „Die sind für sie nicht nur eine wichtige Quelle für
Parteispenden, sondern können auch für Lobby-Aktivitäten eingesetzt
werden“, sagt Sohail. Er beobachtet zudem, [8][wie Politiker der BJP immer
mehr Kontakte zu anderen rechten Bewegungen in Europa knüpfen], dabei ihre
migrationsfeindliche Rhetorik übernehmen und gegen die muslimische
Minderheit einsetzen. „Vor 20 Jahren wäre ein solcher Diskurs, der Muslime
in Indien als Fremde markiert, unvorstellbar.“
Die Sorge um hindunationalistischen Strukturen im Ausland teilt auch
Bahaar, die ihren richtigen Namen deshalb lieber nicht in der Zeitung
gedruckt sehen will. Sie arbeitet im Menschenrechtsbereich und kam vor
einigen Jahren nach Deutschland. „Derzeit organisiert sich die HSS vor
allem im kulturellen und sozialen Bereich und lädt zu Yoga-Camps ein. Ihre
Aktivisten verfolgen aber eine klare politische Agenda“, sagt sie. Es seien
„starke und im Wesentlichen faschistische Netzwerke, die unbeobachtet in
Deutschland operieren können“.
Im Januar, im Tempel an der Hasenheide, [9][feierte die HSS die umstrittene
Einweihung des Ram-Tempels], mit Tausenden Gästen, einschließlich des
indischen Botschafters. Mit dem erfreulichen Zuwachs der indischen
Community befürchtet Bahaar aber auch eine „stärkere Bedrohung gegen
Andersdenkenden“ durch diese Akteuren.
Gegen diese rechte Einflussnahme wünscht sich Bahaar einen stärkeren
Einsatz auch der deutschen Zivilgesellschaft. Besonders Gewerkschaften
können dabei eine wichtige Rolle spielen, „denn sie können Inder, aber auch
alle anderen Migranten, die formell oder informell prekär arbeiten,
zusammenbringen und organisieren“. So würden Unterstützungsnetzwerke, die
entlang ethnischer Linien geteilt sind, weniger relevant. Wichtig wäre
auch, viel deutlicher den Hindunationalismus zu kritisieren und zugleich
Solidarität mit progressiven Kämpfen in Indien auszudrücken.
Jagat Sohail stimmt mit diesem Punkt überein und bemängelt bei Deutschen
auch „ein vermeintlich liberales Verständnis“, das Schwierigkeiten habe,
„interne Machtkämpfe und Dominanzverhältnisse aufgrund von Klasse, Kaste,
Religion, Sprache oder Geschlecht unter Migranten wahrzunehmen“.
Bei der indischen Diaspora in Deutschland handele es sich um eine äußerst
heterogene Gruppe, und es sollte nicht vorausgesetzt werden, dass „indisch“
durchgehend die relevanteste Kategorie für sie selbst sei. Letztendlich
stehe diese Vielfalt auch im klaren Gegensatz zur nationalistischen Vision,
die die BJP propagieren möchte. Und diese Vision, sagt Sohail, sollte
„weder in Deutschland noch in Indien Wirklichkeit werden“.
18 Apr 2024
## LINKS
[1] https://mediendienst-integration.de/artikel/indische-migration-ist-ein-ries…
[2] /Verhandlungen-ueber-Migrationsabkommen/!5961212
[3] /Narendra-Modis-Indien/!5970928
[4] https://www.boell.de/de/2020/01/17/saekulares-indien-unter-beschuss-berline…
[5] /Indiens-neues-Einbuergerungsgesetz/!5663141
[6] https://www.labournet.de/internationales/indien/soziale_konflikte-indien/po…
[7] /Hindu-Nationalismus-in-Indien/!5929885
[8] https://www.derstandard.de/story/2000110627531/modi-oeffnet-kaschmir-fuer-a…
[9] https://www.facebook.com/100064666600298/posts/768487891983424
## AUTOREN
Yossi Bartal
## TAGS
Indien
Narendra Modi
Hindu-Nationalismus
Diaspora
Indien
Indien
Indien
Indien
Lesestück Recherche und Reportage
## ARTIKEL ZUM THEMA
Parlamentswahlen in Indien: Generation gespalten
In Indien wird noch bis 1. Juni ein neues Parlament gewählt. Mehr als ein
Fünftel der Wahlberechtigten ist unter 29 Jahre. Was denken sie über Modi?
Parlamentswahlen in Indien: Kommunisten in der Krise
Im Bundesstaat Kerala setzten sich bei den letzten Landtagswahlen die
Kommunisten durch. Auf nationaler Ebene ringen sie um Anerkennung.
Beginn der Parlamentswahlen: Der Kampf um das säkulare Indien
In der weltgrößten Demokratie wird gewählt. Auf dem Spiel steht die
säkulare indische Republik, Premier Modi träumt von einem Hindu-Staat.
Narendra Modis Indien: Der nächste Putin?
Deutschland umgarnt Indien aufgrund vieler eigener Interessen. Doch der
Subkontinent hat unter Narendra Modi eine gefährliche Richtung
eingeschlagen.
Ausbeutung indischer Landarbeiter: Italiens bittere Kiwis
In ganz Europa sind italienische Kiwis beliebt. Auf den Feldern arbeiten
viele Inder unter unwürdigen Bedingungen, gefangen im ausbeuterischen
System.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.