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# taz.de -- Beginn der Parlamentswahlen: Der Kampf um das säkulare Indien
> In der weltgrößten Demokratie wird gewählt. Auf dem Spiel steht die
> säkulare indische Republik, Premier Modi träumt von einem Hindu-Staat.
Bild: Narendra Modi und seine rechtsnationale Volkspartei BJP wollen ein dritte…
Mumbai taz | Vor einer jubelnden Menge in Chandrapur, Westindien, erhebt
Narendra Modi seine Hand. „Diese Wahlen sind ein Wettstreit zwischen
Stabilität und Chaos“, proklamiert der hell gekleidete Premierminister. Es
sind anstrengende Tage für den 73-Jährigen: In Indien wird ab dem 19. April
über fast sieben Wochen ein neues Parlament gewählt.
960 Millionen Menschen sind wahlberechtigt und Modi steht als Favorit auf
unzähligen Bühnen, mitunter bei Temperaturen von über 40 Grad. Trotz
steigender Arbeitslosigkeit und massiver Korruption unter seiner Regierung
lag Modis Zustimmungsrate laut einer [1][Umfrage von Ipsos] im Februar im
Durchschnitt bei 75 Prozent – im Norden bei fast 92, im Süden bei 35
Prozent.
Narendra Modi und seine rechtsnationale Volkspartei BJP wollen ein
drittes Mal in Folge regieren. Das gelang bisher nur der verfeindeten
Kongresspartei (INC). Die bezeichnet Modi auf der Kundgebung in Chandrapur
als „Quelle aller Probleme des Landes“.
Seine Popularität verschafft Modi im Wahlkampf einen komfortablen
Vorsprung. Der ist nötig, denn seine Partei hat sich ein Ziel gesetzt: Sie
will in der nächsten Legislaturperiode 400 von 543 Abgeordneten im
Unterhaus des Parlaments stellen. Beobachter:innen gehen davon aus,
dass Modi mit solch hoher Gestaltungskraft das säkulare Indien langfristig
auf Kosten von Minderheiten prohinduistisch ausrichten wird. Hinweise
darauf finden sich in den [2][Wahlprogrammen der BJP]. Und in der jüngeren
Geschichte.
## BJP ebnet Weg zur Hindu-Nation
Vor fünf Jahren versprach die BJP, im nordindischen Ayodhya einen Tempel zu
Ehren des Hindu-Gottes Ram zu errichten. Auf jenem Gelände, auf dem ein
radikaler Mob 1992 die Babri-Moschee niederriss. Die Vishwa Hindu Parishad,
eine Partnerorganisation der BJP, hatte damals lange gegen den muslimischen
Gebetsort mobilisiert. Im Januar dieses Jahres löste die BJP ihr
Versprechen mit einer [3][pompösen Einweihungsfeier in Ayodhya ein].
Es ist ein weiterer Schritt auf dem Weg zu einer Hindu-Nation, in der
muslimische und christliche Einflüsse rücksichtslos zurückgedrängt werden.
2002 schon kam es in Gujarat zu einem antimuslimischen Pogrom mit 2.000
Toten, das Modi, dem damaligen Ministerpräsidenten des Bundesstaats, zwar
ein temporäres Einreiseverbot in die USA einbrachte, sein Image in der
indischen Gesellschaft aber nicht übermäßig schädigte.
Modi präsentiert sich als Mann, der Indien groß gemacht hat. Er verspricht,
das Land wirtschaftlich wie in der internationalen Politik voranzubringen.
Dazu nutzte er 2023 Indiens Ausrichterschaft des G20-Gipfels. Auch der
Krieg in der Ukraine und die Aggression Chinas spielen ihm in die Hände.
Devang Dave ist seit seiner Studienzeit in Modis Partei aktiv. „Die BJP ist
eine organisierte Partei, das ist ihre Stärke“, sagt der 34-Jährige der
taz. Das mache sie landesweit zu einer „erfolgreichen Wahlkampfmaschine“.
Für Dave geht es bei der BJP auch um die Hindutva-Ideologie, deren Ziel
eine geeinte Hindu-Nation ist. „Die meisten Menschen im Land glauben
daran“, sagt Dave, der wie Modi seine Wurzeln in Gujarat im Westen des
Landes hat.
## „Stolze Hindus“ wählen Narendra Modi
Die Popularität des Premierministers führt er auch darauf zurück, dass
„Modi dafür gesorgt hat, dass wir den Stolz des Landes in der ganzen Welt
zum Ausdruck bringen“. Seit Modi an der Macht ist, taucht vor allem in den
sozialen Medien der Begriff „stolzer Hindu“ auf. Das komme auch in
Südindien an, so Dave. Vor allem dort will die BJP Zugewinne machen.
Narendra Damodardas Modi, der aus bescheidenen Verhältnissen stammt, hat
sich als „Architekt des neuen Indiens“ etabliert. Sein Vater handelte mit
Speiseöl in einer kleinen Stadt in Gujarat. Mit acht Jahren trat Modi der
Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS) bei, einer Organisation, die eine
Hindu-Nation anstrebt und das ideologische Rückgrat der BJP darstellt.
1925 gegründet, prägte die RSS Modi nachhaltig und ebnete seinen Weg zur
BJP im Jahr 1987. 2001 ersetzte Modi den regierenden
BJP-Ministerpräsidenten von Gujarat und blieb in diesem Amt, bis er 2014
zum Premierminister gewählt wurde.
Der Politologe Sumit Ganguly von der Indiana University sieht den Erfolg
der BJP als Scheitern der alten Elite, insbesondere der Kongresspartei. Die
lenkte unter Führung der Nehru-Gandhi-Familie seit der Unabhängigkeit
1947 – mit Ausnahme von 13 Jahren – die Geschicke des Landes.
Modi trat 2014 als Outsider mit einer Antikorruptionskampagne an, die
großen Anklang fand. Er betonte, dass er keine Familie habe, die von seinem
Amt profitieren könnte. Sein Leben widmete er der Religion und der Nation.
„Bei seinem Sieg spielten mehrere Faktoren eine Rolle. Der
Hindu-Nationalismus war es nicht“, sagt Ganguly. Damals lautete der Slogan:
„Minimale Regierung – maximale Regierungsführung“, 2019 war es [4][„Mo…
macht es möglich“]. 2024 heißt der Wahlkampfslogan schlicht: „Modis
Garantie“.
## Hindu-Nationalismus und Wirtschaftswachstum
Mit Modi ist die Rolle der Religion stärker in den Fokus gerückt. Er
verbindet Hindu-Nationalismus mit wirtschaftlicher Modernisierung, was
Teile der Mittelschicht schätzen. Er wirbt mit dem Erfolg, den er in
Gujarat hatte, für eine ähnliche Entwicklung in ganz Indien. Gujarats
Wirtschaft ist unter der Modi-Regierung gewachsen. Und auch Indien hat
während Modis Regierungszeit einen wirtschaftlichen Aufstieg erlebt.
Der Weltbank zufolge ist das Land zur am zweitschnellsten wachsenden
G20-Volkswirtschaft aufgestiegen. Der indische Aktienindex Sensex hat ein
neues Allzeithoch erreicht.
Viele von Modis Erfolgen gehen allerdings auf Initiativen seiner
Vorgängerregierung zurück. Zudem ist das Wachstum kein gerechtes. Ökonomen,
darunter Thomas Piketty, zeigen, dass die Ungleichheit im Land unter Modi
höher ist als in der britischen Kolonialzeit. Die Devise lautet: Wenig
Regulierung, die den Wohlstand von Wenigen fördert.
Währenddessen wird die Wählerschaft entlang ethnisch-religiöser Linien
polarisiert. Der französische Politologe Christophe Jaffrelot spricht von
Indien als einer „ethnischen Demokratie“, die die Mehrheitsgesellschaft mit
der Nation gleichsetzt und religiöse Minderheiten degradiert. „Im 20.
Jahrhundert wird der Hindu-Nationalismus vor allem in Opposition zum Islam
strukturiert“, so Christophe Jaffrelot.
Narendra Modi verhalf der BJP in den 2000er Jahren zu einer neuen
Dimension: dem nationalen Populismus. Über die Anziehungskraft Modis sagt
Jaffrelot: „Wie viele Populisten ist auch Modi ein Chamäleon – das ist sein
Markenzeichen. Jeder kann bei ihm finden, was er oder sie sucht.“ Dazu
kommt, dass Modi und seine Partei die Macht der sozialen Medien früh
erkannt haben. Modi hat aktive Profile auf Twitter, Facebook, Instagram mit
zig Millionen Followern, eine eigene App namens „NaMo“, und er nutzt
künstliche Intelligenz, um seine Stimme in die vielen indischen Sprachen
übersetzen zu lassen.
Unterdessen schrumpfen die Freiheiten im Land: Das schwedische
Forschungsinstitut V-Dem bezeichnet Indien inzwischen als
„Wahlautokratie“. Die Regierungspartei nutze das Antiterrorgesetz UAPA, um
Kritiker:innen zum Schweigen zu bringen. V-Dem warnt zudem [5][vor
Zensur durch die Regierung], die das Recht auf Religionsfreiheit,
politische Gegner:innen und abweichende Meinungen unterdrücke.
## Ermittlungen gegen Oppositionelle
Weite Teile der indischen Opposition haben sich zur Indian National
Developmental Inclusive Alliance, kurz India, zusammengeschlossen, um die
säkulare Idee der Republik Indien zu verteidigen. Doch gegen viele
Oppositionelle ermitteln die mächtigsten Bundesbehörden wegen
Finanzkriminalität. „In diesem Sinne besteht Modis Garantie darin, dass
alle Oppositionsführer nach dem 4. Juni, wenn die Ergebnisse der
Parlamentswahlen feststehen, im Gefängnis sitzen werden“, sagt Mamata
Banerjee, die Regierungschefin des Bundesstaats Westbengalen. Schon seit
dem 21. März befindet sich Arvind Kejriwal, Regierungschef von Delhi, wegen
Korruptionsvorwürfen in Untersuchungshaft.
Modi versuche systematisch, die INC finanziell zu schwächen, klagt die
ehemalige Parteivorsitzende Sonia Gandhi. Kürzlich wurden mehrere
Parteikonten von der Steuerbehörde gepfändet und eingefroren.
Oppositionsparteien reichten daraufhin vor der Wahlkommission Beschwerden
gegen die BJP und Modi ein.
Rahul Gandhi, ebenfalls ehemaliger Präsident der Kongresspartei, sagt:
„Diese Wahl ist ein Kampf zwischen zwei Ideologien! Auf der einen Seite
steht der Kongress, der Indien immer geeint hat, und auf der anderen Seite
stehen diejenigen, die immer versucht haben, die Menschen zu spalten.“
Gandhi begann 2022 einen landesweiten „Marsch zur Einheit Indiens“, den er
von Januar bis März weiterführte. Für viele Inder:innen ist der
prominente Oppositionspolitiker, dessen Vater, Großmutter und Urgroßvater
Indien als Premiers dienten, wegen seiner Herkunft keine Alternative zum
Aufsteiger Modi.
Bisher mangelt es dem India-Block an starken Kandidat:innen für das
höchste Amt. Doch die Wahl hat noch nicht begonnen, und so manche:r
Landwirt:in ist mehr als enttäuscht von den leeren Versprechungen der
aktuellen Regierung.
18 Apr 2024
## LINKS
[1] https://indianexpress.com/article/india/pm-modis-approval-rating-soars-by-f…
[2] https://www.bjp.org/manifesto2019
[3] /Religion-und-Politik-in-Indien/!5984311
[4] https://economictimes.indiatimes.com/news/elections/lok-sabha/india/modi-ha…
[5] https://v-dem.net/documents/43/v-dem_dr2024_lowres.pdf
## AUTOREN
Natalie Mayroth
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