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# taz.de -- Modis gescheiterter Wahlsieg in Indien: Ein Fest für die Demokratie
> Mit Graswurzel-Aktivismus hat die indische Opposition Modi den
> Durchmarsch verwehrt. Das ist ein Triumph für die Demokratie – nicht nur
> in Indien.
Bild: Modi-Fan während des Wahlkampfs in Ahmedabad, Indien
Es wird überall gewählt, auf (fast) allen Kontinenten. In [1][Mexiko] und
[2][Südafrika], in der [3][Europäischen Union] und monatelang auch [4][in
Indien]. Letzte Woche wurde dort das amtliche Ergebnis verkündet und zur
Überraschung aller professionellen Propheten, die mit dubiosen Methoden den
Wahlausgang vorhersagten, hat die BJP-Regierung des Premierministers
Narendra Modi viele Parlamentssitze verloren.
Trotz einer in der Geschichte des Landes beispiellosen Kontrolle der
Medien, trotz einer Vereinnahmung der Institutionen und voller
Wahlkampfkassen, trotz einer ohrenbetäubenden hindunationalistischen
Rhetorik, trotz Razzien der Steuerbehörden in den Häusern der politischen
Gegner und der Verhaftung manch eines Oppositionellen, ist es der BJP nicht
gelungen, eine einfache Mehrheit im indischen Parlament zu gewinnen. Das
ist bemerkenswert!
Während der drei Wochen, die ich im Mai in Indien verbrachte, strotzten die
Zeitungen nur so vor Selbstdarstellungen des Premierministers, dessen
tägliche Wahlkampfreden prominent platziert und ausführlich wiedergegeben
wurden. Auch wenn sie oft absurde Behauptungen enthielten. Etwa, dass die
oppositionelle Kongress-Partei unter ihrem Führer Rahul Gandhi die
Einführung der Scharia plane. Oder dass sie ihre Vorstellung von sozialer
Gerechtigkeit durchpeitschen werde, indem sie den hinduistischen Frauen den
Eheschmuck entreißen werde, um diesen an die Muslime zu verteilen.
Anstatt über wirtschaftliche Visionen zu reden, besteht die Strategie der
BJP in krudester Identitätspolitik: Wir, die Hindus, sind das wahre Indien,
die Muslime sind allesamt „Eindringlinge“ und „Dschihadisten“. Dieses
Narrativ überflutet die sozialen Medien und schafft eine Atmosphäre der
Angst und Feindseligkeit. Und trotzdem hat es nicht gefruchtet. Das ist
ermutigend!
„Die Menschen haben Modi gezeigt: Du bist nicht Gott, und du kannst ersetzt
werden“, erklärte nach dem Wahlausgang Srinivas Venkata, ein hochrangiger
Kongresspolitiker, „Millionen armer Inder haben dafür gestimmt, das
säkulare Gefüge unseres Landes zu schützen.“ Anders gesagt: Millionen von
überwiegend ungebildeten Menschen haben erkannt, dass der Personenkult um
Modi und die Instrumentalisierung von Religion in der Politik nicht in
ihrem Interesse liegt. Und ein Aktivist der Oppositionspartei sagte voller
Inbrunst: „In den Dörfern verbreitete die BJP jahrelang Lügen gegen uns –
mit der Behauptung, wir seien Anti-Hindu. Sie haben meine Religion als
Waffe gegen mich eingesetzt, um Stimmen zu gewinnen.“ Vergebliche
Demagogie.
Wie schon zuvor in Pakistan hat die in den medialen Untergrund getriebene
Opposition mit basisdemokratischem Aktivismus und Youtube-Aktionismus
reagiert. Rahul Gandhi begab sich auf zwei langwierige Fußmärsche durchs
Land und arbeitete mit lokalen politischen Gruppen zusammen, die für
soziale Gerechtigkeit und die Stärkung der Demokratie kämpfen. Während die
BJP zentrale Themen wie Beschäftigungswachstum, zunehmende Ungleichheit und
wirtschaftliche Not, vor allem in den ländlichen Gebieten, ignorierte.
## Modis Errungenschaften wurden ungleich verteilt
Was sprach für die Modi-Regierung? Der Wandel im Alltag (vor allem auf dem
Land) ist bemerkenswert. Weitreichende Elektrifizierung der Dörfer,
sauberes Wasser und anständige Toiletten für Hunderte von Millionen
Menschen sind wichtige Errungenschaften. In den letzten dreißig Jahren
wuchs das indische Bruttoinlandsprodukt durchschnittlich um mehr als 6
Prozent im Jahr.
Doch die Früchte dieses Wachstums sind grausam ungleich verteilt. Der
Anteil des Bruttosozialprodukts in den Händen des obersten Prozents schoss
von 10 auf 22 Prozent. Der Wohlstand in Indien ist heute in etwa so
ungleich verteilt wie in Putins Russland. Das reale Durchschnittseinkommen
ist von 2014 bis 2019 um jährlich 4,3 Prozent gesunken. 2020 erzielte
Indien auf dem Humankapitalindex der Weltbank, der Bildung und Gesundheit
auf einer Skala von 0 bis 1 misst, einen Wert von 0,49 und lag damit noch
unter Nepal und Kenia, beides erheblich ärmere Länder. Am dramatischsten
benachteiligt sind Indiens Frauen. Seit 1990 ist die Erwerbsbeteiligung der
indischen Frauen gesunken. Laut einer Studie aus dem Jahr 2019 konnte
weniger als die Hälfte der 10-Jährigen eine einfache Geschichte lesen,
verglichen mit mehr als 80 Prozent der chinesischen Kinder und 96 Prozent
der amerikanischen. Es ist der Opposition gelungen, diese Themen ins
Bewusstsein zu rücken. Das ist vorbildlich!
Der Kampf gegen ideologischen Hass ist noch lange nicht vorbei, und das
Versagen der indischen Institutionen bei der Wahrung demokratischer Regeln
gibt weiterhin Anlass zur Sorge. Die indische Gesellschaft zeichnet sich
historisch durch ihren Pluralismus aus, ein Erbe komplexer Zusammenflüsse,
die auf keinen einheitlichen Nenner zu bringen sind, weswegen die von den
Hindunationalisten behauptete Homogenität nur durch Zwang, Gewalt,
Manipulation und Lüge durchgesetzt werden kann. Der Aufstieg der Hindutva
schürt Gewalt im ganzen Land. Soziale Spannungen werden durch das Streben
nach kultureller Hegemonie angeheizt.
Der Kampf um Indiens Seele wird sich in Zukunft noch zuspitzen. Auf der
einen Seite jene, die religiösen Pluralismus und die in der Verfassung
verbrieften individuellen Rechte verteidigen wollen, auf der anderen Seite
die ausgrenzenden Kräfte der Hindutva. Indiens vielfältige und integrative
Identität steht auf dem Spiel. Das ist kein regionales Problem. Gut
möglich, dass das Schicksal der pluralen Gesellschaft in Indien
entscheidende Auswirkungen auf das Schicksal demokratischer Strukturen in
der ganzen Welt haben wird.
In einer Rede, die Modi im Hauptquartier der BJP hielt, bezeichnete er die
Wahl als ein „Fest für die Demokratie“. Da hatte er ausnahmsweise recht.
12 Jun 2024
## LINKS
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## AUTOREN
Ilija Trojanow
## TAGS
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