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# taz.de -- Parlamentswahl in Indien: Wirtschaften wie in Gujarat
> Premier Modi formt Indien nach dem indischen Bundesstaat Gujarat. Dort
> blüht die Wirtschaft, aber laut Kritiker:innen profitieren davon nur
> wenige.
Bild: Sechs Wochen dauern die Parlamentswahlen in Indien. Premier Narendra Modi…
Surat taz | Menschen schieben sich durch die lauten und engen Gassen von
Mahidharpura. Männer in hellen Hemden stehen unbeirrt herum und unterhalten
sich. Gelegentlich öffnen sie kleine weiße Papierpäckchen, die sie dicht am
Körper verbergen. Einige sitzen in Ecken, halten mit blauem Samt bezogene
Tabletts, auf denen Pinzette und eine kleine Lupe liegen. Mahidharpura, ein
Stadtteil in der westindischen Stadt Surat im Bundesstaat Gujarat, etwa 300
Kilometer nördlich von Mumbai, ist bekannt für den Diamantenhandel. Sechs
Tage die Woche wird hier gefeilscht, ver- und gekauft.
[1][Von April bis Juni wird in Indien ein neues Parlament gewählt.] Es gibt
sieben Wahltermine, Gujarat war am 7. Mai an der Reihe. Es ist der
Heimatstaat des amtierenden Premierministers Narendra Modi. Der 73-Jährige
gilt als wirtschaftsfreundlicher Stratege, Vertreter des hinduistischen
Mehrheitsprinzips und ist auch nach zwei Amtszeiten noch der
Spitzenkandidat der hindunationalistischen Volkspartei BJP.
Gujarat spielt für Premier Modi eine besondere Rolle. Von 2001 bis 2014 war
er hier Ministerpräsident, was ihm den Sprung nach Delhi ermöglichte.
Damals proklamierte Modi, er werde „Entwicklung“ nach Indien bringen. Als
Beweis diente ihm Gujarat. Zu den wichtigsten Industriezweigen gehören
Textilien, Chemie, Erdöl und die Diamantenverarbeitung. Im vergangenen Jahr
eröffnete Modi in Surat eine neue Diamantenbörse.
Am 7. Mai blieb es dort ungewöhnlich still. Auch in Surat hätte am Dienstag
gewählt werden sollen. Doch ein Kandidat wurde wegen eines Formfehlers
abgelehnt und die anderen traten zurück. Übrig blieb Mukesh Dalal von Modis
BJP, die den Bundesstaat Gujarat seit 1995 regiert. Die Wahlkommission
erklärte Dalal daraufhin kurzerhand bereits zwei Wochen vor Beginn der Wahl
zum Sieger des Wahlkreises.
## „Teil der Modi-Familie“
„Das hat niemanden überrascht“, sagt der 39 Jahre alte Diamantenhändler
Trishul Patel. Dass sich die BJP durchsetzen würde, war den
Bewohner:innen klar. Gut kam es dennoch nicht bei allen an. Auch weil
viele Privatunternehmen ihren Angestellten am Wahltag freigeben, ohne Wahl
der freie Tag aber wegzufallen drohte. Einige Arbeitgeber reagierten – und
schenkten sich und ihren Angestellten in Surat auch ohne Wahl einen freien
Tag.
Patel freut sich darüber. Nun kann er verfolgen, was im Rest des
Bundesstaates passiert. Das westindische Gujarat stellt mit seinen 72
Millionen Einwohner:innen 26 der 543 Abgeordneten im Unterhaus des
indischen Parlaments. 2019 gewann die BJP noch alle Sitze. In diesem Jahr
gehen Beobachter:innen davon aus, dass die konkurrierende
Kongresspartei, die sich mit der Antikorruptionspartei AAP
zusammengeschlossen hat, bis zu sechs Sitze gewinnen könnte.
In Surat jedoch bleibt Dalal unangefochten. An seinem Anwesen klebt ein
Sticker mit der Aufschrift „Teil der Modi-Familie“. Dalal, ein langjähriges
BJP-Mitglied, schwärmt gegenüber der taz von Modi. Er sei ein
zielstrebiger, engagierter Mann mit klaren Vorstellungen von Nationalismus.
„Modi hat eine umfassende Entwicklung des Landes ermöglicht“, sagt er.
Unter ihm sei die Korruption eingedämmt worden, und es gebe keine großen
Skandale wie unter der Vorgängerregierung, behauptet Dalal.
## Modi lockte Unternehmen nach Gujarat
Als Modi im Bundesstaat Gujarat regierte, habe er große Privatunternehmen
ermutigt, in Infrastruktur zu investieren, und ein dezentrales
Regierungsmodell eingeführt, sagen seine Befürworter. Der Bundesstaat
verfügt, wie nur wenige Regionen Indiens, über eine ununterbrochene Strom-
und Wasserversorgung. Die Straßen sind gut instandgehaltenen.
In den Jahren 2000 bis 2010 lag das Wirtschaftswachstum mit
durchschnittlich 8,6 Prozent fast 1,5 Prozentpunkte über dem indischen
Durchschnitt. Mit Steuererleichterungen, günstigen Gewerbeflächen, weniger
Umweltauflagen und Arbeitnehmerschutz lockte die Regierung des Bundesstaats
Unternehmen an. Heute gilt Gujarat als einer der wirtschaftsfreundlichsten
Bundesstaaten des Landes.
Seit den 60er Jahren ist Surat bekannt für die Diamantenverarbeitung.
Damals begannen Händler der verschlafenen Stadt, Diamanten aus dem Ausland
zu den örtlichen Edelsteinschleifern zu bringen. Heute werden weltweit 8
von 10 Diamanten in Indien verarbeitet.
„Die Diamantenindustrie ist autark. Wir brauchen keine wesentliche
Unterstützung von der Regierung“, sagt Jayanti Narola, Chef von Shri
Krishna Private Limited (SRK), einem der führenden Unternehmen in der
Diamantenverarbeitung mit Sitz in Surat. Narola sagt über Narendra Modi, er
sei ein „selbstloser Mann“.
## Die Wirtschaft ist angeschlagen
Derzeit glänzt die Wirtschaft in Gujarat weniger. Erst sorgte die Pandemie
für einen Rückgang. Nun wirkt sich der Krieg in der Ukraine auf die
Diamantenindustrie aus. Die G7-Staaten haben seit diesem Jahr
[2][Importbeschränkungen für Diamanten aus Russland] verhängt. Dazu kommt
die Konkurrenz, die Labordiamanten für Surats natürliche Diamanten
darstellen. Auch SRK spürt die Krise. Die Verkäufe haben sich abgeschwächt.
Dennoch gehört Gujarat zu den Top-drei-Bundesstaaten mit den höchsten
ausländischen Direktinvestitionen. Landesweit hat es einen Anteil von etwa
17 Prozent. Die Regierung verweist gerne auf das „Gujarat-Modell“. In
vielen Bildungs- und Entwicklungsindikatoren liegt der Bundesstaat jedoch
hinter Südindien. Das Geld kommt nicht bei allen an.
Auch für die Textilhändler in Surat hat die Regierung Modi zunächst
nachteilige Entscheidungen getroffen: Die Einführung einer Waren- und
Dienstleistungssteuer hat den Wettbewerb für sie erschwert. Dennoch sagt
Verbandspräsident Kailash Hakim der taz: „Die Modi-Regierung hat ein
günstiges Umfeld für das Wachstum von Unternehmen geschaffen und
Textilexporte angekurbelt.“
## Die Politik verschärft die Ungleichheiten im Land
Tatsächlich hat die Regierung Zuschüsse für Logistik und die Ausbildung von
Fachkräften gestellt. Im Vorraum von Hakims Büro steht ein fast
lebensgroßer Pappaufsteller von Premierminister Narendra Modi.
Parteimitglied sei er nicht, aber er möge Modi, sagt Hakim. Gujarat
profitiere davon, dass dieselbe Partei auf Landes- und Bundesebene an der
Macht sei. Nicht alle sehen die Entwicklung in Gujarat aber so positiv.
„Modi hat riesige Ressourcen an Industriekonzerne übergeben. Das ist sein
„Gujarat-Modell“, sagt der Oppositionspolitiker Jignesh Mevani
(Kongresspartei). Seine Politik nutze vor allem Konzernen.
Die renommierte Wirtschaftswissenschaftlerin Indira Hirway vertritt einen
ähnlichen Standpunkt. „Wirtschaftlicher Fortschritt sollte zum Wohlergehen
aller beitragen“, sagt sie. Doch in Gujarat stünden große Unternehmen im
Vordergrund, während die Menschen am unteren Ende der sozioökonomischen
Leiter vernachlässigt würden, sagt sie der taz.
Zudem seien auch Weideflächen und Schutzgebiete an Industrielle günstig
verkauft worden. Hirway, Direktorin des Centre for Development
Alternatives, kritisiert des Weiteren die zunehmende Privatisierung
öffentlicher Bereiche. Doch Gesundheitsversorgung und Bildung sollten für
alle zugänglich und erschwinglich sein. „Diese Politik verschärft die
Ungleichheiten im Land“, warnt Hirway. „Auf der einen Seite haben wir
Spitzentechnologie wie KI und Robotik, auf der anderen Seite sind die Armen
in der Landwirtschaft, im Dienstleistungsgewerbe und in kleinen
Produktionsbetrieben auf primitive Technologien angewiesen.“
Die Reallöhne der Arbeitnehmer:innen hätten in den vergangenen fünf
Jahren entweder stagniert oder seien aufgrund der Inflation gesunken, so
die Wirtschaftsprofessorin. Dieser Inflationsdruck mache es für normal
verdienende Menschen schwierig, ihren Lebensstandard zu halten. In Gujarat
werde darüber hinaus einer der niedrigsten Löhne Indiens gezahlt. Den
Erfolg des „Gujarat-Modells“ bezeichnet Hirway als einen Hype.
## Unterernährung von Kindern ist ein Problem
Auch von Gewerkschaften kommt Kritik. Sie fordern bessere
Arbeitsbedingungen in kleinen Diamantenbetrieben. „Das Gujarat-Modell gilt
nur für Industrielle. Nicht für Diamantschleifer wie uns, die das Rückgrat
der Unternehmen bilden“, sagt Bhavesh Tank. Obwohl Gujarat zu den
wohlhabendsten Bundesstaaten Indiens gehört, ist die Unterernährung von
Kindern weiter ein Problem. Laut Regierungsangaben betrifft das über eine
halbe Million Heranwachsende in Modis Heimat.
Das Gujarat-Modell kann man auch anders verstehen. Der
Politikwissenschaftler Christophe Jaffrelot erinnert in seinem neuen Buch,
„Gujarat Under Modi“, an die [3][antimuslimischen Pogrome während Modis
Amtszeit in Gujarat im Jahr 2002] mit über 1.000 Toten. Gewinne Modi, werde
Gujarat in jeglicher Hinsicht zum Labor des heutigen Indiens, so Jaffrelot.
Mitarbeit Mona Thakkar
10 May 2024
## LINKS
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## AUTOREN
Natalie Mayroth
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Indien
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