# taz.de -- Bedingungen in deutschen Haftanstalten: Mehr Suizide in Gefängniss… | |
> Im letzten Jahr haben sich deutlich mehr Häftlinge suizidiert. Warum, ist | |
> unklar. Die Linke fordert bessere psychosoziale Betreuung. | |
Bild: Eine Justizvollzugsanstalt in Stuttgart-Stammheim | |
BERLIN taz | Die Zahl der Suizide in deutschen Gefängnissen ist | |
angestiegen. Das geht aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine | |
Anfrage der Linkspartei hervor, die der taz vorliegt. Während sich im Jahr | |
2019 insgesamt 43 Menschen in Haft selbst getötet haben, waren es im | |
vergangenen Jahr ganze 77 Menschen. | |
Die Suizidrate, die die Anzahl der Selbsttötungen pro 100.000 Gefangenen | |
angibt, hat sich damit im Vergleich zum Vorjahr etwa verdoppelt – und ist | |
mit 129,4 auf dem höchsten Stand seit 2001. | |
„Es ist entsetzlich, wie viele Menschen sich in deutschen Gefängnissen Jahr | |
für Jahr gezwungen sehen, ihr Leben zu beenden“, sagt Ulla Jelpke. Die | |
Abgeordnete der Linkspartei ist Mitinitiatorin der Kleinen Anfrage. | |
Dass es erneut zu einem Anstieg der Suizidrate kam, „sollte die Behörden | |
alarmieren, denn sie haben für diese Menschen eine Schutz- und | |
Fürsorgepflicht.“ | |
## Keine Erkenntnisse zu Versorgungslücken | |
Eine Erklärung für den Anstieg gibt die Bundesregierung unter Verweis auf | |
die Verantwortung der Länder nicht. Es wird jedoch auf den Kriminologischen | |
Dienst Sachsen verwiesen, der die Zahlen erhebt. | |
Dieser gehe davon aus, dass es neben statistischen Verzerrungen [1][viele | |
Faktoren für Änderungen] der Suizidrate gebe. Im Rahmen der Totalerhebung | |
könnten diese aber nicht untersucht werden. | |
Zu Versorgungslücken bei der Betreuung von suizidgefährdeten Personen hat | |
die Bundesregierung keine Erkenntnisse. Im Jahr 2018 kamen auf 100 | |
Inhaftierte 0,57 Mitarbeiter:innen des Ärztlichen Dienstes, 1,33 | |
Personen vom psychologischen und sozialen Dienst sowie 0,44 Personen vom | |
seelsorgerischen Dienst. Um Gefangene vor Selbstschädigung zu bewahren, | |
gebe es vor allem eine Untersuchung zu Beginn der Haft. | |
Die meisten Suizide passieren jedoch in den ersten Monaten der Haft. Im | |
Jahr 2019 etwa nahmen sich 63 Prozent der Suizidenten in den ersten fünf | |
Monaten ihrer Haft das Leben. | |
Jelpke: Bessere psychosoziale Versorgung | |
Das zeige, „dass die Eingangsuntersuchung nicht ausreicht, um eine akute | |
Suizidgefährdung der Inhaftierten feststellen zu können“, so Jelpke. Es | |
brauche dringend eine [2][verbesserte medizinische und psychosoziale | |
Versorgung]. | |
Aus der Antwort der Bundesregierung geht ebenfalls hervor, dass in den | |
Jahren 2017 bis 2020 etwas weniger als die Hälfte der Häftlinge, die Suizid | |
begangen haben, keine deutsche Staatsangehörigkeit hatten. Wie viele | |
Todesfälle es in Abschiebehaft gab, weiß die Bundesregierung nicht. | |
Insgesamt saßen in Deutschland vergangenes Jahr rund 60.000 Menschen ein. | |
Grundsätzlich müsse Schluss sein mit der Mär der Gefängnisstrafe als | |
[3][Mittel der Resozialisierung], fordert Jelpke. | |
„Anstatt Knäste brauchen wir Rehabilitationszentren, in denen sich mit den | |
gesellschaftlichen und persönlichen Umständen der Täter auseinandergesetzt | |
wird und sie auf ein Leben in Freiheit vorbereitet werden.“ | |
20 Jul 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Gefaengnis-fuer-Jugendliche/!5735809 | |
[2] /Messerangriff-von-Wuerzburg/!5782038 | |
[3] /Reformen-in-Berlins-Knaesten/!5778869 | |
## AUTOREN | |
Julian Jestadt | |
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