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# taz.de -- Weihnachten im Gefängnis: Kekse im Knast
> Ein Verein organisiert Geschenksendungen ins Gefängnis. Unsere Autorin
> macht mit, fragt sich aber: Hat der Häftling mein Geschenk wirklich
> verdient?
Bild: Womöglich ein passendes Geschenk für einen Häftling: Das Spiel „Soli…
„Ich wurde gefragt, ob ich Raucher bin und was ich mir wünsche. Diese Frage
werde ich nicht beantworten, denn ich finde, wenn man schon ein Paket zu
Weihnachten bekommt, sollte es auch eine Überraschung sein, was im Paket
ist.“
Der Brief kommt aus der JVA Rosdorf. Wenige Tage zuvor hatte ich mich beim
Verein [1][Freiabonnements für Gefangene e. V.] dafür gemeldet, [2][einem
Gefängnisinsassen] ein Weihnachtsgeschenk zu schicken. Spontan, zum ersten
Mal.
Der Absender mit der jugendlich wirkenden Handschrift voller Kringelchen
sitzt [3][nicht einfach im Gefängnis]. Er ist ein Sicherungsverwahrter,
also jemand, der zum Schutz der Allgemeinheit und seiner Opfer auch nach
abgesessener Strafe nicht freigelassen wird.
Sicherungsverwahrung. Wem schenke ich hier eigentlich was? Ich suche im
Internet nach seinem Namen. Als ich glaube, den Absender in alten
Zeitungsmeldungen identifizieren zu können, gerate ich unter Druck.
## Keine Belohnung verdient?
Der Mann hat Gewaltverbrechen begangen, er sitzt zu Recht. Vielleicht
bedauert er das zutiefst. Ich sollte seine Opfer unterstützen, nicht ihn.
Könnte er glauben, ich verurteile seine Taten nicht, wenn ich ihm etwas zu
Weihnachten schicke? Er hätte Therapie gebraucht, früh, einfach zugänglich.
Er wünscht sich nur eine Überraschung. Er hat keine Belohnung verdient.
Sucht meine eigene unterdrückte Aggression sich hier an einem Ausgestoßenen
zu entladen? Will ich nur performen, wie großmütig und aufgeklärt ich bin?
Es scheint, als wollte ich zwar etwas für „die Gefangenen“ tun, aber nicht
für diesen. Es wäre einfacher, diese Widersprüche nicht aufzulösen und
alles abzubrechen. Wie gehen andere damit um?
Susanne Uhl verschickt schon seit zehn Jahren Geschenke an Gefangene,
gemeinsam mit ihrem 15-jährigen Sohn. Dass die Empfänger auch Menschen sein
können, die schlimme Dinge getan haben, ist ihr völlig klar; nach ihnen
gegoogelt hat sie jedoch nie. „Ich stelle mir nicht Robin Hood hinter
Gittern vor.“ Aber: „Ich halte die Briefe in den Händen, sehe die
Handschrift und denke – mein Gott, das sind ganz junge Menschen.“
Sie fände es zwar schön, wenn jemand in Haft Schuldeinsicht entwickelt,
aber ihr gehe es beim Schenken nicht um Vergebung oder Besserung. Jeder
Mensch hat es verdient, einfach mal einen Kaffee zu trinken oder eine
Zigarette zu rauchen. Ihr Sohn hat eine Notiz mit seinen Gedanken dazu
verfasst: „Wenn Gefangene keine Nähe zu Familien haben, gibt man ihnen mit
dem Päckchen ein Stück Normalität zurück.“
Was dem Teenager schon klar ist, muss ich für mich noch klären. Meine
inneren Widersprüche existieren, weil ich gleichzeitig solidarisch [4][mit
Gefangenen sein will] und ihnen während der Extremerfahrung Knast ein
bisschen beistehen – gleichermaßen aber auch regressiv auf Bestrafung der
Bösen beharre.
## Haltbare Lebensmittel
Ich kann die Regression anhalten, indem ich mir sage, dass die Bestrafung
bereits geschehen ist: in Form der traurigen Ultima Ratio unserer
Gesellschaft, dem fortdauernden Freiheitsentzug.
Als ich ein Kind war, spielten wir manchmal an einem alten Turm, in dem
früher mal ein Kerker gewesen sein soll. Wir stellten uns vor, dort
jahrelang „bei Wasser und Brot“ angekettet zu sein. Grausam, dass die
Menschen das übers Herz brachten, war damals unser Urteil. Warum gönne ich
dann heute einem Häftling keine Kekse? Von da an wird es einfacher.
Ich durchsuche den Supermarkt nach haltbaren Lebensmitteln, die etwas
weihnachtliche Wärme verbreiten. Brownies, luftgetrocknete Salami, ein
etwas kümmerlich aussehender Rührkuchen mit Zuckerguss, der dafür aber bis
Ende Januar gut ist. Gebrannte Mandeln, deren hypnotischer Geruch jeden
Mensch auf ein Volksfest beamt. Ich erinnere mich, Menschen im Krankenhaus
gesehen zu haben, die die lange Zeit mit Rätselheften zum Verrinnen
zwingen.
Also los, Rätselheft. Im nächsten Geschäft glaube ich, mit dem
Abreißkalender „Unnützes Wissen“ etwas gefunden zu haben, das ihn ein
ganzes Jahr unterhalten wird. Ich stelle mir vor, wie er damit einen
Mithäftling zum Lachen bringt. Eine Verkäuferin rät mir zu „Solitär“, d…
er allein spielen kann.
Das kunstvolle Einpacken, eigentlich die halbe Miete beim Schenken, fällt
hier flach, der Paketkontrolle wegen. Ich knülle etwas Seidenpapier
zusammen und lege es zu den Geschenken in den Karton. Auf die Karte
schreibe ich auch, dass ich selbst immer gerne Solitär gespielt habe – weil
ich fürchte, dass er enttäuscht sein könnte.
## Kein Liebesentzug
Dass er vielleicht doch Raucher ist und sich nur nicht traute, mit
konkreten Wünschen fordernd zu erscheinen. Und dann komme ich mit einem
Holzspiel um die Ecke. Weihnachten ist ja auch Tag der Abrechnung. So kenne
ich das. Die Bescherung ist der Abschluss der jährlichen Moralbuchhaltung.
Tolle Geschenke bedeuten, dass man gut war. Ich hoffe, ich liege nicht
total daneben mit meiner Auswahl.
Die christliche Straffälligenhilfe Schwarzes Kreuz e. V. organisierte
dieses Jahr 1.644 Weihnachtspäckchen für Gefangene. Ich frage Ute Passarge,
die dort die Öffentlichkeitsarbeit macht, was sie von meinen anfänglichen
Skrupeln hält. „Nicht jemand, der es verdient hat, sondern jemand, der sich
besonders freut, wird beschenkt. So kann daraus auch etwas wachsen“,
antwortet sie.
Viele Leute verschicken mehrere Pakete. Und die Empfänger antworten: „Es
ist das erste Mal seit 16 Jahren, dass ich von außerhalb etwas bekommen
habe“, schreibt einer. Ein anderer berichtet, es sei nach der Verteilung
der Pakete auffällig viel geteilt worden. Genau wie das Schwarze Kreuz
leitet Freiabonnements für Gefangene e. V. diese Botschaften weiter.
Stephan Grosser schickt seit 2004 Geschenke an Gefangene. Es sei nicht ein
einziges Mal vorgekommen, dass einer sich nicht bedankt habe, sagt er mir
am Telefon. Ich erzähle auch ihm von meinen widersprüchlichen Impulsen –
und wie ich mir sagen musste, dass ich hier nicht die strafende oder
bewertende Instanz zu sein brauche. Er findet die passenden Schlussworte
für diesen Text: „Die Gesellschaft straft durch Freiheitsentzug, nicht
durch Liebesentzug.“
22 Dec 2021
## LINKS
[1] https://freiabos.de/
[2] /Freikaufen-aus-Berliner-Gefaengnissen/!5820621
[3] /Bedingungen-in-deutschen-Haftanstalten/!5787900
[4] /Telefonkosten-im-Knast/!5810712
## AUTOREN
Donata Kindesperk
## TAGS
Resozialisierung
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