# taz.de -- JVA-Leiter über Traumatherapie: „Der Vollzug muss sich öffnen“ | |
> Die Vechtaer Justizvollzugsanstalt für Frauen bietet eine stationäre | |
> Traumatherapie an. JVA-Leiter Oliver Weßels erhofft sich davon weniger | |
> Rückfälle. | |
Bild: Es gilt, die Kreise aufzubrechen: Mutter und Kind in der JVA Vechta | |
taz: Herr Weßels, ist die Traumatherapie Ihrer Justizvollzugsanstalt im | |
deutschen Strafvollzug ein Novum? | |
Oliver Weßels: Es ist, soweit ich weiß, in der Tat das erste Mal, dass sich | |
eine JVA in Form einer stationären Einrichtung mit dem Thema Trauma | |
beschäftigt. | |
Behandlungsangebote hatten Sie schon vorher. | |
Ambulant – aber 10 bis 15 Prozent unserer Inhaftierten haben aufgrund von | |
Missbrauchserfahrungen, sowohl im Gewalt- als auch im Sexualbereich, | |
Traumata mit zum Teil gravierenden Folgestörungen etwa im Suchtbereich | |
entwickelt, und das wollten wir stärker in den Fokus nehmen. Das hat ja | |
auch Auswirkungen auf die Rückfallquote. Wenn ich Traumata nicht bearbeite, | |
gleite ich womöglich noch tiefer in eine Suchtstruktur hinein, das | |
resultiert dann in Beschaffungskriminalität … | |
Wie äußern sich solche Erfahrungen bei Ihren Inhaftierten? | |
Ein Beispiel: Eine unserer Frauen ist immer wieder durch Brandstiftungen | |
aufgefallen. Das war ihr Ventil, die Erinnerung an ihre Vergewaltigung zu | |
bewältigen. Mit diesen Menschen beschäftigen wir uns jetzt intensiv. Das | |
setzt natürlich voraus, dass man Traumatherapeuten hat, und die gibt es | |
nicht wie Sand am Meer. Wir kooperieren mit Externen: den Fachkliniken St. | |
Marien und St. Vitus, Neuenkirchen/Vörden und Visbek. | |
Eine Traumatherapie muss ja sehr vielschichtig reagieren. Auf Depression, | |
Angst, Suizidgedanken. Geht das überhaupt in einer JVA, wo die Inhaftierten | |
bereits durch ihre Inhaftierung starkem Stress ausgesetzt sind? | |
Wichtig ist, ein gutes Behandlungsklima herzustellen und respektvoll mit | |
den Menschen umzugehen. Das ist ohnehin unser Grundsatz. | |
Bei einer Traumabehandlung geht es anfangs um emotionale Stabilisierung, um | |
seelische Entlastung, auch um das Sichwohlfühlen. Sicher ist es schwer, in | |
einer JVA eine therapiegeeignete Atmosphäre zu schaffen? | |
Deshalb haben wir ja jetzt auch diese Station. Mit ihr können wir die | |
Frauen, die akut in einer Therapie sind, aus dem allgemeinen | |
Vollzugsgeschehen herausnehmen. | |
Wie sieht die Station aus? | |
Wir haben zwei Behandlungsräume, die so hergerichtet sind, dass sie dem | |
Standard einer Klinik entsprechen, einer therapeutischen Einrichtung | |
außerhalb des Vollzugs. Auch die Hafträume haben wir umgestaltet. Die | |
Therapiegruppe hat rund um die Uhr geöffnete Türen, kann sich also selbst | |
organisieren. | |
Wie groß ist diese Gruppe derzeit? | |
Sie besteht, Stand heute, aus drei Personen. Insgesamt können wir vier | |
Frauen aufnehmen. Hinzu kommt ein Raum für Krisenintervention, | |
kameraüberwacht. Für all das braucht man natürlich viel Sensibilität. Eine | |
solche Therapie birgt ja immer die Gefahr, dass ich das Trauma | |
revitalisiere. | |
Da hilft sicher nur intensivste Nähe zwischen Patientin und Therapieteam? | |
Wir stellen einen sehr engen Bezugsrahmen her. Unsere eigene Kollegin ist | |
jeden Tag vor Ort, spricht mit den Patientinnen, kann gute Rückmeldung | |
geben, wie sie sich gerade fühlen. Sie hat eine Zusatzqualifikation als | |
Psychiatriepflegerin. Und zweimal die Woche kommt der Klinikdirektor | |
persönlich zu uns in die JVA. | |
Am Ende jeder Traumatherapie steht die Integration, die Rückgewinnung der | |
Kontrolle auch über die eigenen Handlungen. Das ist in einer JVA, mit all | |
ihrer Fremdbestimmung, nur sehr bedingt möglich. Die Therapie dient dennoch | |
der Resozialisierung? | |
Absolut. Wir möchten ja gern den Drehtüreffekt vermeiden. Wir haben eine | |
Rückfallquote von derzeit unter 25 Prozent, und das ist gut, aber wir | |
wollen da noch besser werden. Wir bearbeiten ein Trauma nicht nur, damit es | |
uns im Vollzug keine Probleme bereitet. Wir möchten, dass die Patientinnen | |
dadurch später, in Freiheit, besser in der Lage sind, ein | |
sozialverträgliches Leben führen. Klar, in einer geschlossenen Institution | |
das Leben in Freiheit zu lernen, ist fast die Quadratur des Kreises. Wir | |
sind daher überzeugt: Vollzug kann nur funktionieren, wenn er sich | |
frühzeitig öffnet. | |
Wie funktioniert das? | |
Über Lockerungen. Wer mit Gemeinschaft klarkommt, kommt aus dem | |
geschlossenen in den offenen Vollzug. Auch dort können wir die Therapie ja | |
fortsetzen. Das heißt nicht, dass wir die Gesellschaft als Erprobungsfeld | |
sehen, ob die Entlassenen wieder rückfällig werden. Lockerungen brauchen | |
viel Verantwortungsgefühl. Aber sie sind auch eine Behandlungsmaßnahme. | |
Fürchten Sie nicht, dass auch die Inhaftierung selbst ein Trauma auslösen | |
kann? | |
Natürlich. Deswegen ist es wichtig, ein Klima herzustellen, wo die | |
Gefangenen untereinander keine Angst haben, auch nicht vor der Institution. | |
Klar, unsere Inhaftierten würden in der Mehrzahl sagen: Vollzug ist übel. | |
Und das soll Vollzug ja auch sein, gewissermaßen. Aber sie würden zugleich | |
sagen: Wenn schon Vollzug, dann bitte wie hier. | |
30 Jul 2021 | |
## AUTOREN | |
Harff-Peter Schönherr | |
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