| # taz.de -- Gegen Obdachlosigkeit nach dem Knast: Häftling darf Wohnung behalt… | |
| > Das Stader Sozialamt muss einem Häftling seine Wohnung bezahlen, obwohl | |
| > er über sechs Monate im Knast saß. Das entschied das Landessozialgericht. | |
| Bild: Nach der Freiheit kommt allzu oft die Obdachlosigkeit | |
| Bremen taz | Ohne Krankenversicherung, manchmal ohne gültigen | |
| Personalausweis und oft ohne Wohnung: So stehen viele Menschen nach einer | |
| abgesessenen Haftstrafe da. Das für Niedersachsen und Bremen zuständige | |
| [1][Landessozialgericht in Celle hat nun entschieden], dass das Sozialamt | |
| die Miete von Inhaftierten in bestimmten Fällen übernehmen werden muss. | |
| Auch, wenn sie länger als sechs Monate im Gefängnis sitzen. Diese | |
| Zeitspanne ist normalerweise von den Sozialämtern vorgesehen. | |
| Der Fall: Ein Mann aus dem Landkreis Stade muss in den Jahren 2014 und 2015 | |
| für sieben Monate ins Gefängnis. Der 1978 geborene Mann wohnt seit zehn | |
| Jahren in seiner Stader Wohnung. Er hat psychische Probleme, ist | |
| Alkoholiker. Während er im Gefängnis ist, will das Sozialamt die Miete dann | |
| nicht zahlen. Bei Haftende steht der Mann mit einem Räumungserlass für | |
| seine Wohnung da. Er legt dagegen Widerspruch ein, einigt sich mit der | |
| Vermietung und behält seine Wohnung – aber leider auch die Mietschulden und | |
| die Rechtskosten von der Zwangsräumung. | |
| Das Landessozialgericht hat nun entschieden, dass ihm dieses Geld | |
| rechtswidrig in Rechnung gestellt wurde. Er bekommt die Miete und die | |
| Rechtskosten zurückerstattet. | |
| „In dieser Entscheidung treffen zwei verschiedene Sichtweisen aufeinander: | |
| Starre Bürokratie gegen Einzelfallentscheidung der Gerichte“, sagt Carsten | |
| Kreschel vom Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen. Für die sechs | |
| Monate, während der das Sozialamt die Miete von Inhaftierten normalerweise | |
| übernimmt, gebe es keine rechtliche Grundlage, sagt Kreschel. Der Zeitraum | |
| sei vom Sozialamt einfach so festgelegt worden, um die Bürokratie zu | |
| erleichtern. | |
| ## Das Sozialamt hat den Einzelfall nicht genug gewürdigt | |
| Im Falle des inhaftierten Mannes aus Stade, sagt Kreschel, habe es | |
| allerdings gute Gründe gegeben, warum er sich im Gefängnis nicht | |
| selbstständig um eine Wohnung kümmern konnte – zum Beispiel seine | |
| psychischen Probleme. Und, das schreibt das Gericht in seinem Urteil, das | |
| Sozialamt habe ihn bei der Wohnungssuche nicht gut genug unterstützt. Neu | |
| sei an dem Urteil nicht unbedingt, dass die Zeitspanne von sechs Monaten zu | |
| kurz sei, erklärt Kreschel. Die “Add-Ons“, wie er sie nennt, allerdings | |
| schon. “Add-Ons“ sind die Rechtskosten, die die Sozialbehörde erstatten | |
| muss. | |
| Das Sozialamt Stade äußerte sich bis Redaktionsschluss nicht auf die Fragen | |
| der taz: Warum gelten sechs Monate als Obergrenze? Auf welche gesetzliche | |
| Grundlage bezieht sich das Amt dabei? Wird das Sozialamt Stade in Zukunft | |
| diese Praxis ändern? Und ist es nicht immer besser, Obdachlosigkeit zu | |
| verhindern? | |
| „Eine Wohnung ist der erste und wichtigste Schritt“, sagt Paul Sellschopp | |
| vom [2][Verein Hoppenbank in Bremen]. Der Verein kümmert sich seit 1971 um | |
| inhaftierte Menschen und deren Angehörige. Sellschopp arbeitet in einem | |
| Wohnprojekt des Vereins, in dem Menschen unterkommen können, die gerade aus | |
| dem Gefängnis kommen. Die Wohnung sei allerdings auch der schwierigste | |
| Schritt, sagt er. Und aus dem Gefängnis heraus eine Wohnung zu finden, sei | |
| praktisch unmöglich. Deshalb sei das Urteil des Sozialgerichts natürlich | |
| gut und wichtig. „Ohne Wohnung keine Arbeit“, sagt er. | |
| ## Größte Rückfallgefahr nach der Entlassung | |
| Wenn Häftlinge ins Nichts entlassen werden, ist das nicht nur für die | |
| Betroffenen selbst ein Problem. Direkt nach der Haftentlassung ist die | |
| Gefahr wieder straffällig zu werden am höchsten. Die Gründe dafür können | |
| etwa psychische Probleme sein, erklärt Sellschopp, aber auch die stressige | |
| Situation. | |
| „Die ersten zwei, drei Wochen sind hart“, sagt der Sozialarbeiter.“ Die | |
| Entlassenen müssen sich darum kümmern, wieder in die Krankenkasse | |
| aufgenommen zu werden und andere bürokratische Vorgänge erledigen. Vielen | |
| fehlt auch Geld und manchen eben auch eine Wohnung. Einen rechtlichen | |
| Schutz vor Obdachlosigkeit gibt es für Inhaftierte nicht. | |
| „Haftentlassung sollte besser vorbereitet werden“, sagt Sellschopp. | |
| Schließlich gehe es auch anders: In Schweden schreibt das Gesetz vor, dass | |
| Inhaftierte vor ihrer Entlassung eine Wohnung bekommen müssen. Es gilt der | |
| Leitsatz: Prävention ist der beste Opferschutz. | |
| Ganz so weit ist man in Niedersachsen und Bremen mit dem Urteil des | |
| Sozialgerichts nicht. Es bedeutet nicht, dass die Richtlinie von sechs | |
| Monaten grundsätzlich verworfen wird. Aber das Amt muss im Einzelfall | |
| besser abwägen. | |
| 10 Aug 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://landessozialgericht.niedersachsen.de/download/173120 | |
| [2] http://www.hoppenbank.info/ | |
| ## AUTOREN | |
| Lisa Bullerdiek | |
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| Dirk Behrendt | |
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