| # taz.de -- Reformen in Berlins Knästen: Internet in jeder Zelle | |
| > Kurz vor der Wahl macht sich die Justizverwaltung an die Umsetzung eines | |
| > revolutionären Plans von R2G. Volle Surffreiheit gibt es aber nicht. | |
| Bild: Die Mauern von Tegel: Auch für WLAN kaum zu überwinden | |
| Berlin taz | Kurz vor Ende der Legislaturperiode wartet die grün geführte | |
| Senatsverwaltung für Justiz mit einer Ankündigung auf, die es in sich hat. | |
| „Wir haben uns entschlossen, ein Haftraummediensystem für den gesamten | |
| Berliner Justizvollzug einzuführen“, so Susanne Gerlach, Leiterin der | |
| Abteilung für Strafvollzug, am 16. Juni im Rechtsausschuss des | |
| Abgeordnetenhauses. Berlin werde damit in Deutschland eine absolute | |
| Vorreiterrolle einnehmen. „Im Haftraum über einen eigenen Internetzugang | |
| eine E-Mail schreiben zu können, das gibt es in keinem anderen Bundesland.“ | |
| Acht Justizvollzugsanstalten unterstehen dem Land Berlin, rund 3.300 | |
| Häftlinge sitzen dort derzeit ein. Von der U-Haftanstalt Moabit über den | |
| Jugendstrafvollzug bis zum offenen Vollzug, so der Plan, sollen in allen | |
| Zellen All-in-One-Endgeräte mit Zugang zu Internet, Fernsehen und Telefon | |
| installiert werden. Das Abgeordnetenhaus war damit bislang nicht befasst. | |
| In alten Knästen wie Tegel gibt es Häuser, in denen die Zellen nicht mal | |
| Telefon haben. Telefonate müssen von Apparaten auf dem Gang geführt werden, | |
| die Privatsphäre ist gleich null. Die Einführung des neuen Systems käme | |
| deshalb einer Revolution gleich. Freien Zugang zum Internet bekommen die | |
| Gefangenen aber nicht. | |
| Die Geräte seien „individuell administrierbar,“ führte Gerlach vergangene | |
| Woche im Gespräch mit der taz aus. „Wir können bei jedem bestimmen, was für | |
| ein Zugang ihm eingeräumt wird.“ Sicherungsverwahrte etwa hätten andere | |
| Rechte als Strafgefangene oder Untersuchungshäftlinge. „Vollkommen frei | |
| wird der Zugang aber nirgendwo sein, weil wir einen Missbrauch verhindern | |
| müssen“, so Gerlach. | |
| ## Pilotversuch in der JVA Heidering | |
| Wie die Beschränkungen aussehen, wurde im [1][Pilotverfahren | |
| „Resozialisierung durch Digitalisierung“] erprobt. Bei dem | |
| Forschungsprojekt unter Leitung des Frauenhofer-Instituts waren 2018 und | |
| 2019 in der Berliner JVA Heidering 70 Tablets an Insassen ausgeteilt | |
| worden. Technische Barrieren sorgen dafür, dass im Internet nur wenige | |
| ausgesuchte Seiten mit Arbeits- und Bildungsangeboten oder Kochrezepten | |
| aufgerufen werden können. Der Mail-Adressatenkreis ist eingeschränkt, | |
| Pornoseiten sind tabu. | |
| Versuche, die Software zu hacken, hat es dem Vernehmen nach nie gegeben. Im | |
| Gegenteil. Die Insassen hüteten die Tablets wie einen Schatz, erfuhr die | |
| taz. Die Seite der Landesbibliothek für die Online-Ausleihe von Büchern und | |
| Filmen etwa sei extrem beliebt. | |
| Noch im Mai 2020 hatte [2][Justizsenator Dirk Behrendt] (Grüne) in einem | |
| Bericht an das Abgeordnetenhaus angekündigt, das Modell von Heidering | |
| innerhalb des Berliner Vollzugs „in jeweils zwei Bereichen von vier | |
| weiteren Anstalten“ auszuweiten. Danach war bis zur Sitzung des | |
| Rechtsausschusses vor zwei Wochen jedoch Stille. Der Hintergrund unter | |
| anderem: Die Errichtung einer WLAN-Struktur, die trotz der dicken Mauern | |
| und Stahltüren gut funktioniert, wäre in den Knästen extrem teuer geworden. | |
| Nach einer im Herbst 2020 vorgenommenen Markterkundung habe man sich | |
| deshalb für ein komplett anderes System entschieden, so Gerlach. Das neue | |
| System funktioniert leitungsgebunden. Soweit vorhanden, könnten | |
| Koaxialkabelnetze für den Internetempfang vorerst genutzt werden. | |
| Sukzessive sollen aber auch diese durch neue Leitungen ersetzt werden. Die | |
| Kosten dafür seien aber noch nicht absehbar. | |
| ## Keine Flatrate für Gefangene | |
| Das Land Berlin werde Inhaber und Eigentümer der technischen Infrastruktur | |
| bis hin zum Gerät sein, sagte Gerlach, auch, damit der Anbieter die Kosten | |
| für das Leitungslegen nicht auch noch den Gefangenen aufbürde. Die | |
| Preisgestaltung für die Gefangenen werde Gegenstand des Vergabeverfahrens | |
| sein. „Aber so günstig wie eine Flatrate wird es nie werden“, stellte | |
| Gerlach klar. | |
| Das Vergabeverfahren für das sogenannte Hafttraummediensystem ist Gerlach | |
| zufolge im April 2021 eingeleitet worden. Die Ausschreibung erfolgte | |
| europaweit, weil der geschätzte Auftragswert 5,3 Millionen Euro | |
| überschreitet. Drei Unternehmen seien zum Wettbewerb zugelassen worden. Die | |
| Zuschlagserteilung für die Vergabe einer Dienstleistungskonzession sei für | |
| Herbst 2021 geplant. | |
| Von diesem „veränderten Ansatz“, wie Gerlach es nannte, schienen selbst die | |
| Abgeordneten der Regierungskoalition überrascht. Auf der Tagesordnung des | |
| Rechtsausschusses hatte ein Bericht über „das Pilotprojekt Resozialisierung | |
| durch Digitalisierung“ gestanden. | |
| Die CDU reagierte empört. „Durch Zufall erfahren wir heute, dass es einen | |
| gänzlich neuen strategischen Ansatz gibt“, schimpfte Sven Rissmann, | |
| rechtspolitischer Sprecher der Union. Über eine Ausschreibung in | |
| Millionenhöhe hätten das Abgeordnetenhaus und der Rechtsausschuss „proaktiv | |
| informiert werden müssen“. Der AFD-Abgeordnete Marc Vallandar befand, R2G | |
| solle sich besser um die Digitalisierung der Schulen und Verwaltung | |
| kümmern, statt die Häftlinge zu bevorzugen. In seinen Augen sei das „ein | |
| Luxus- und Prestigeprojekt“ der Landesregierung. | |
| Tatsächlich geht R2G das Thema reichlich spät an. Im Koalitionsvertrag | |
| hatte man sich 2016 dazu verpflichtet, den Strafgefangenen bis 2021 Zugang | |
| zu modernen digitalen Kommunikationsmitteln zu ermöglichen. | |
| ## Umsetzung im Idealfall bis Sommer 2023 | |
| „Wir hätten uns auch gewünscht, schneller zu sein“, sagte Gerlach zur taz. | |
| „Aber die Pandemie hat uns zurückgeworfen.“ Sie sei aber guter Dinge, die | |
| Digitalisierung „im Idealfall“ bis Sommer 2023 umgesetzt zu haben. | |
| Vielleicht lag es nicht nur an der Pandemie, sondern auch an mangelndem | |
| politischem Druck? Die unabhängige Tegeler [3][Gefangenenzeitschrift | |
| Lichtblick] hat eigenen Angaben zufolge eineinhalb Jahre auf die Einlösung | |
| des Versprechens der Senatsverwaltung für Justiz warten müssen, einen | |
| Internetanschluss zu bekommen. Man mag es kaum glauben, aber die Recherchen | |
| für den Lichtblick erfolgen mittels Telefon, E-Mail-Anfragen und Briefen. | |
| Nun endlich werde die Leitung gelegt, erzählte einer der Redakteure der | |
| taz. Man bringe die plötzlichen Aktivitäten damit in Verbindung, dass sich | |
| Justizsenator Behrendt am 21. Juli zum Redaktionsbesuch angesagt habe. Aber | |
| auch das Legen der Leitung ziehe sich hin. | |
| Das Telefonat mit dem Lichtblick-Redakteur fand vergangenen Montag statt. | |
| Tags drauf, am Dienstagvormittag, sprach die taz Abteilungsleiterin Gerlach | |
| auf den fehlenden Internetanschluss an. Ein paar Stunden später mailte der | |
| Lichtblick: „Wir sind seit 14.48 Uhr online und haben nunmehr Internet in | |
| der Redaktion.“ | |
| Internet heißt aber auch für den Lichtblick eingeschränkte Nutzung. „Gerade | |
| auf die Seiten, die für unsere Recherchen relevant sind, haben wir keinen | |
| Zugriff“, sagte der Redakteur. | |
| 28 Jun 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Justizsenator-zu-Internet-im-Strafvollzug/!5547617 | |
| [2] /Justizvollzugsanstalt-Tegel/!5631879 | |
| [3] /Strafvollzug-Berlin/!5546389 | |
| ## AUTOREN | |
| Plutonia Plarre | |
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| (Grüne). |