| # taz.de -- Bürgermeisterin von Marzahn-Hellersdorf: „Der aktivste AfDler hi… | |
| > Von außen betrachtet sieht vieles anders aus: Das zeigt sich im Gespräch | |
| > mit Dagmar Pohle. Die Bürgermeisterin über Flüchtlinge, die AfD und wie | |
| > sie nach Marzahn kam. | |
| Bild: „Berlin hört nicht am S-Bahn-Ring auf. Das müssen viele noch lernen�… | |
| taz: Frau Pohle, ärgert es Sie, wenn Ihnen jemand sagt, er sei noch nie in | |
| Marzahn-Hellersdorf gewesen? | |
| Dagmar Pohle: Nein. Ich kenne auch viele Bürgerinnen und Bürger aus meinem | |
| Bezirk, die selten in anderen Bezirken sind. | |
| Und wenn jemand Vorurteile hat? | |
| Dann versuche ich herauszufinden, welche Gründe er dafür hat. Und dann will | |
| ich ihn überzeugen. | |
| Viele sagen, Spandau gehöre nicht zu Berlin. Gehört Marzahn-Hellersdorf | |
| dazu? | |
| Ich denke, Spandau gehört genauso zu Berlin wie Marzahn-Hellersdorf. | |
| Kommunalpolitik tut sich keinen Gefallen, wenn sie sagt, sie fühle sich | |
| Berlin nicht zugehörig. Wir nehmen in Anspruch, dass wir gleiche | |
| Bedingungen haben wollen wie im Innenstadtbezirk. Im Sinne von gleicher | |
| Beachtung und gleicher Ausstattung. | |
| Ist das nicht ein bisschen viel verlangt? | |
| Nein. Berlin hört nicht am S-Bahn-Ring auf. Das müssen viele noch lernen. | |
| Wenn wir zum Beispiel nachmittags aus der Innenstadt Besuch kriegen, dann | |
| kommt der klassischer Weise immer zu spät. Die Menschen wissen einfach | |
| immer noch nicht, wie diese Stadt tickt; dass Berlin viele Pendler hat, die | |
| nachmittags sternförmig rausfahren. Aber mal ohne Quatsch: Berlin hat zwölf | |
| Bezirke, und mit diesen muss das Land auch fair umgehen. | |
| Ist das denn nicht so? | |
| Nicht immer. | |
| Sie wohnen seit 1978 in Marzahn und waren seither fast ununterbrochen in | |
| der Politik für den Bezirk unterwegs. Hat sich an der Perspektive der Stadt | |
| auf den etwas geändert? | |
| Der Bezirk Marzahn ist 1979 gegründet worden. Hier wurden innerhalb von | |
| zehn Jahren 100.000 Wohnungen gebaut, inklusive Infrastruktur: also | |
| Supermärkte – damals Kaufhallen – Schulen, Kitas, Wege, Grün. Das wurde | |
| natürlich mit großer Priorität behandelt. | |
| Und nach der Wende? | |
| Da gab es skurrile Debatten. Anfang der 1990er Jahre waren viele der | |
| Meinung, die Großsiedlung sei so hässlich, dass man sie komplett abreißen | |
| müsse. Wenn ich heute in manche Ecken vom Wedding fahre oder Richtung | |
| Marienfelde, sehe ich viele Gebäude, die nicht anders aussehen als manche | |
| damals in Marzahn. Und als ich Anfang der 1990er Jahre Krankenhäuser in | |
| Westberlin gesehen habe, habe ich mich schon gefragt: Woher nehmen einige | |
| Leute in der Politik das Selbstbewusstsein, so über Ostberliner | |
| Verhältnisse zu urteilen? 1994 wollte man im Krankenhaus Neukölln auch | |
| nicht gerade Patient sein. | |
| Wirkt diese abwertende Haltung von außen bis heute nach? | |
| Zumindest hat sie den Bezirk und die Leute nach der Wende wirklich geprägt: | |
| Viele lebten damals gern hier und bekamen immer von außen erklärt, wie | |
| beschissen es hier sei, wie schrecklich es aussehe, und dass man da nur | |
| wohnen möchte, wenn man seine Miete in Prenzlauer Berg nicht mehr zahlen | |
| könne. | |
| Wie war es Ende der Siebziger in Marzahn? | |
| 1978 bin ich nach Marzahn gezogen, ein Jahr nachdem die erste Platte | |
| gesetzt wurde. Alle, die damals hierhergezogen sind, reden von der | |
| Gummistiefelzeit. Aber – und das finde ich ganz lustig – für uns war das | |
| gar keine Gummistiefelzeit. Wir hatten die Straße, wir hatten den Fußweg | |
| vorm Haus, man konnte trockenen Fußes zur S-Bahn gehen. | |
| In den wievielten Stock sind Sie damals gezogen? | |
| In den neunten. | |
| Wohnen Sie immer noch dort? | |
| Nein, jetzt wohnen wir im Vierten. Ich bin die Straße rauf- und | |
| runtergezogen, je nach Familienkonstellation. Anfangs wohnte ich mit meinem | |
| Mann in einer Zweiraumwohnung. Als die zwei Kinder geboren waren, sind wir | |
| in eine Vierraumwohnung gezogen. Dann hat sich mein Mann beruflich | |
| verändert und meine Söhne haben angefangen zu studieren, so dass ich mit | |
| meinen beiden Söhnen in eine andere Vierraumwohnung gezogen bin. Inzwischen | |
| wohne ich dort nur noch mit einem Sohn. In einer Art WG, weil es einfach | |
| praktisch ist. | |
| Hotel Sohn statt Hotel Mama? | |
| Sozusagen. | |
| Jetzt könnte man in Marzahn nicht mehr so einfach so oft umzuziehen? | |
| Das ist richtig. Wir haben inzwischen Vollvermietung. | |
| Wie kamen Sie nach Marzahn? | |
| Vorher hatte ich mit meinem Mann eine Einraumwohnung in Friedrichshain. Es | |
| roch immer nach Schlachthof, wenn der Wind aus der falschen Richtung kam. | |
| Als ich die Besichtigungskarte für die Wohnung in Marzahn bekommen habe, | |
| habe ich meinen Mann angerufen. Als er hörte, wo die Wohnung ist, sagte er: | |
| Na, da kannst du alleine hinziehen. Da sagte ich: Mache ich. Und habe | |
| aufgelegt. Ich war total stinkig. Aber dann sind wir doch hingezogen. | |
| Unsere Kinder sind hinterm Haus in die Kita und in die Schule gegangen. Ich | |
| habe eine ziemlich enge Bindung zum Bezirk. Für mich ist das eine Heimat | |
| geworden. | |
| Wie viele Nachbarn von damals leben heute noch bei Ihnen im Haus? | |
| Ich kenne zumindest noch viele Erstbezieher im Wohngebiet. | |
| Seit einigen Jahren ist Marzahn wieder sehr nachgefragt. Wer sind die neuen | |
| Nachbarn? | |
| Das sind zum Teil junge Leute, junge Familien, auch welche, wo die Eltern | |
| auch schon in Marzahn, Hellersdorf oder auch Lichtenberg wohnen. Zum Teil | |
| sind es aber auch Ältere, die sich verkleinern wollen. Die Wohnungen hier | |
| sind günstiger, sie sind pflegeleicht, auch die medizinische Versorgung im | |
| Bezirk ist gut. | |
| Vom Zuzug weg aus der Innenstadt wegen steigender Mieten, von dem Medien | |
| berichten, bekommen Sie wenig mit? | |
| Natürlich gibt es auch die Transferleistungsempfänger, bei denen die Mieten | |
| in der Innenstadt nicht mehr komplett vom Sozialamt übernommen werden. Die | |
| Menschen ziehen meist nicht gleich von Mitte nach Marzahn, sondern eher | |
| schrittweise nach außen. Unser Zuzug kommt stärker aus Lichtenberg, | |
| teilweise aus Pankow. | |
| Es kamen auch viele Flüchtlinge. Sie waren der erste Bezirk, der dem Land | |
| Grundstücke für Modulare Unterkünfte zur Verfügung stellen konnte. Wollten | |
| Sie damit zeigen, wie tolerant der Bezirk auch sein kann? | |
| Es war leicht, hier Grundstücke zu finden. Bis nach 2000 ging ja die | |
| Bevölkerung in Marzahn drastisch zurück. Viele Schulen und Kitas wurden | |
| nicht mehr gebraucht. Da jedes leer stehende Gebäude ein Quartier | |
| runterzieht, weil es zerstört wird, haben wir viele Gebäude im Rahmen des | |
| Stadtumbaus abgerissen. | |
| Das beantwortet unsere Frage jetzt nicht. | |
| Mir war klar, dass es Diskussionen in den Nachbarschaften geben würde. | |
| Nach Treptow-Köpenick ist Marzahn-Hellersdorf der Bezirk mit dem geringsten | |
| Ausländeranteil. Ich habe für alle Standorte Anwohnerversammlungen | |
| organisiert und die Diskussionen geführt. Wir hatten ja als Bezirksamt | |
| Erfahrungen mit Einwohnerversammlungen, da wir jährlich in jedem Stadtteil | |
| zu den unterschiedlichsten Themen eine gemacht hatten. Und da kamen immer | |
| maximal 120 Personen. | |
| Bis zum „braunen Dienstag“. | |
| Als es im Juli 2013 um zwei Schulen für Flüchtlinge in der | |
| Carola-Neher-Straße ging, zeigte sich schon bei der Verteilung der | |
| Einladungen: Diesmal würde alles anders werden. Und dann kamen tatsächlich | |
| an die 1.000 Menschen zu dieser Veranstaltung. Das hat uns traumatisiert. | |
| Wir sind richtig überrollt worden. | |
| Was ist passiert? | |
| Aus ganz Berlin und Brandenburg waren Nazis angereist, darunter der | |
| damalige NPD-Landeschef Sebastian Schmidtke. Diese Veranstaltung hat dazu | |
| geführt, dass wir uns viele Gedanken gemacht haben, wie wir das anders | |
| kommunizieren können – und wie wir Menschen weiterhin dazu ermutigen | |
| können, sich zu engagieren. Das hat zunehmend besser funktioniert. Man hat | |
| das in der Innenstadt vielleicht nicht so wahrgenommen, weil Initiativen | |
| wie Moabit hilft für spannender gehalten wurden. Auch in Marzahn haben sich | |
| Patenschaften entwickelt, Flüchtlingsfamilien sind in Wohnungen gezogen. | |
| Wie sieht es heute aus? | |
| Wir hatten am Samstag wieder eine Eröffnung einer Modularen Unterkunft, die | |
| ist gut gelaufen. Es gab eine kleine Demo, weil in der direkten | |
| Nachbarschaft ein NPD-Politiker wohnt, und da haben die Veranstalter | |
| einfach gesagt: „Kommen Sie doch mal rein und gucken Sie sich das mal an, | |
| damit Sie mal wissen, worüber Sie eigentlich reden.“ Das hatten sie so | |
| nicht erwartet. Und dann haben sie denen sogar noch eine Bratwurst in die | |
| Hand gedrückt. | |
| Bratwürste gegen die NPD? | |
| Es gibt Anhänger und Mitglieder der NPD, die aktiv sind; die demonstrieren. | |
| Aber gemessen an den 262.000 Einwohnern ist das Problem verschwindend | |
| gering. | |
| Verschwindend nicht gerade: Am Montag hat die Polizei wieder einen Anschlag | |
| gemeldet auf eine noch nicht fertiggestellte Unterkunft in Marzahn. | |
| Das war in der Nacht auf vergangenen Samstag. Ich will das Problem gar | |
| nicht kleinreden. Ich finde nur, man darf das Kind nicht mit dem Bade | |
| ausschütten. Damit würde man den Anwohnern Unrecht tun. | |
| Warum ist der Anteil der AfD-Wähler in Marzahn-Hellersdorf so hoch? Bei der | |
| Abgeordnetenhauswahl war die AfD mit 23,6 Prozent stärkste Partei knapp vor | |
| den Linken. | |
| Es gibt hier relativ viele Menschen, die sich nicht gut aufgehoben fühlen | |
| in dieser Gesellschaft. Wir haben die höchste Zahl Alleinerziehender in | |
| Berlin – und die haben es wirklich nicht leicht. Viele sind erwerbstätig, | |
| und das Geld reicht trotzdem gerade so. Wir haben Familien, wo beide | |
| arbeiten und trotzdem die nächste Mieterhöhung fürchten, weil sie dann | |
| wieder Abstriche machen müssten: am kulturellen Leben, an Dingen für die | |
| Kinder. Das macht Angst: Wenn man schon am Stadtrand wohnt, wo kann man | |
| denn dann noch hinziehen, wenn es da auch zu teuer wird? | |
| Und dann wählen sie AfD?! | |
| Ja. Diese Menschen sind ausgeschlossen von vielen kulturellen und sozialen | |
| Angeboten. Wir hatten hier die Diskussion, ob 20 Euro Eintritt für die | |
| Internationale Gartenausstellung zu viel seien. | |
| Finden Sie es auch zu teuer? | |
| Eigentlich nicht – für das, was geboten wird und wenn man es mit den Kosten | |
| für andere Angebote vergleicht. Aber es stimmt, für viele sind 20 Euro zu | |
| teuer. In Gesprächen merke ich, dass diese Unsicherheit der Menschen, ihr | |
| Gefühl, nicht mitgenommen zu werden, dazu führt, dass die Leute gar nicht | |
| wählen gehen. Wir haben in einigen Großsiedlungen einen hohen Anteil von | |
| Nichtwählern. Oder eben von Menschen, die AfD wählen. | |
| Wie wird sich die AfD entwickeln? | |
| Die AfD weckt mit ihren Phrasen und Ankündigungen Erwartungen, und sie | |
| werden diesen nicht gerecht werden. | |
| Meinen Sie, das interessiert jene frustrierten Wähler, von denen Sie | |
| sprachen? | |
| Viele interessiert es sicher nicht, was die AfD-Abgeordneten und die | |
| Stadträte real vor Ort machen. Trotzdem wird irgendwann wahrnehmbar, ob die | |
| AfD-Politiker etwas verändern können und welche Themen sie aufgreifen. Und | |
| immer nur die Ausländerfrage thematisieren, das trägt nicht. | |
| Spielt bei der Ausländerfeindlichkeit nicht auch die DDR-Sozialisation eine | |
| Rolle, die viele Bewohner im Bezirk noch genossen haben? Wir haben vor | |
| Kurzem mit der DDR-Bürgerrechtlerin Ulrike Poppe gesprochen: Sie | |
| argumentiert, in der DDR habe es kein Training zur Eigeninitiative und | |
| Eigenverantwortung gegeben. | |
| Welches Training für Eigeninitiative und Selbstverwirklichung gibt es | |
| denn in der Bundesrepublik?! | |
| … nun ja … | |
| Klar, das kann man so sehen wie Frau Poppe. Man konnte in der DDR in vielen | |
| Nischen leben, man konnte im Widerstand zur DDR leben. Man konnte aber auch | |
| aktiv leben. Als ich nach Marzahn gezogen bin – mit Mitte 20 –, habe ich | |
| mich engagiert. Ich habe mich darum gekümmert, dass unsere Grünanlage | |
| gepflegt war; ich habe mich um die alten Menschen im Haus gekümmert. Wir | |
| haben unsere Kinder gemeinsam auf dem Hof betreut. Wir wussten, wer unser | |
| Nachbar ist. Das war uns wichtig. Dieses bürgerschaftliche Engagement ist | |
| nach 1990 diskreditiert worden. Das hat dazu geführt, dass Menschen, die | |
| vorher aktiv waren, sagten: Ihr könnt mich mal. | |
| Sie wollten gerade noch etwas zur Ausländerfeindlichkeit sagen. | |
| Das mag jetzt vielleicht ein bisschen hart klingen: Aber der aktivste | |
| AfDler hier, der mit der größten Klappe im Abgeordnetenhaus, das ist ein | |
| Wessi. Und davon haben wir ein paar mehr. Was ist denn das für eine | |
| Sozialisation? Die kommen hierher und erklären mir, wie ich, wie meine | |
| Nachbarn gelebt haben? Was ist denn das? | |
| Politik kann Sie ganz schön aufregen, oder? | |
| Es ist gut, wenn man autogenes Training beherrscht. Auch zum Runterkommen. | |
| Was sind Ihre künftigen Ziele als Bürgermeisterin? | |
| Ich bin jetzt ja auch für Stadtentwicklung zuständig. Da geht es nicht nur | |
| um den Bau von Wohnungen, sondern auch um die soziale Stadtentwicklung. Ich | |
| möchte, dass hier im Bezirk die soziale Mischung gesichert wird. Da streite | |
| ich mich gerade mit der Stadtentwicklungssenatorin Katrin Lompscher. | |
| Worüber? | |
| Wir brauchen eine vernünftige Quote für preisgünstige Mietwohnungen, wie | |
| sie von den landeseigenen Gesellschaften derzeit errichtet werden. | |
| Sie wollen mehr Wohnungen mit geringen Mieten? | |
| Umgekehrt. Derzeit kann die Quote bis zu 50 Prozent betragen bei kommunalen | |
| Unternehmen. Aber schauen Sie: Rund um das Gut Hellersdorf wird die | |
| Gesobau mehr als 1.000 Wohnungen errichten. Hellersdorf Nord ist jetzt | |
| schon ein Kiez mit einem hohen Anteil von Transferleistungsempfängern. Da | |
| brauchen wir ein paar hochwertigere Wohnungen, auch in diesem Stadtteil. | |
| Also eine Quote von 25 Prozent für billige Wohnungen? | |
| Das wäre so mein Wunsch. Ich habe gerade einen langen Brief an Frau | |
| Lompscher geschrieben. | |
| Die immerhin eine Parteigenossin von Ihnen ist. | |
| Na und?! In diesem Fall vertrete ich die bezirklichen Interessen. Übrigens | |
| finde ich es eine ausgesprochen linke Politik, dass in allen Bezirken eine | |
| soziale Mischung vorhanden ist. Bloß weil es in der Mitte der Stadt nur | |
| noch Eigentumswohnungen gibt und die normale Berliner Familie da nicht mehr | |
| wohnen kann, müssen wir doch nicht hier 50 Prozent Sozialwohnungen bauen. | |
| Ich glaube, in dieser Frage kann ich mich mit Frau Lompscher auch ganz gut | |
| einigen. | |
| 26 Jun 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Bert Schulz | |
| Susanne Messmer | |
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