| # taz.de -- Brandenburgs Aufarbeitungsbeauftragte: „DDR-Geschichte lässt mic… | |
| > Sie gehörte zu den meistgehassten DDR-StaatsfeindInnen, seit 2009 klärt | |
| > sie SED-Unrecht auf. Nun geht Ulrike Poppe in den Ruhestand – und zieht | |
| > Bilanz. | |
| Bild: „Ich hörte von unserem Haus aus die Schüsse und das Hundegebell an de… | |
| taz: Frau Poppe, wenn Sie hier aus Ihrer schönen Wohnung im Kollwitz-Kiez | |
| in Prenzlauer Berg aus dem Fenster sehen: Erinnert Sie noch etwas an die | |
| DDR? | |
| Ulrike Poppe: Nicht wirklich. Es sind dieselben Häuser, aber die Fassaden | |
| sehen anders aus. Schön ist es geworden. | |
| Und die Bewohner? | |
| Na ja, ein paar von denen, die schon immer hier gewohnt haben, sind noch | |
| da, auch viele meiner alten Freunde. Und die Hinzugezogenen sind nicht nur | |
| Großverdiener. Da zum Beispiel das Haus, in dem ich wohne, zum größten Teil | |
| mit öffentlichen Mitteln saniert wurde, gilt hier noch die | |
| Mietpreisbindung. | |
| Was halten Sie von Ihren neuen Nachbarn? | |
| Das Klima hier im Haus ist sehr angenehm. Zurzeit nistet im Efeu an einer | |
| Hofmauer ein Eichelhäherpaar und gerade sind vier Jungvögel geschlüpft. | |
| Alle Katzen müssen drin bleiben, bis die Vögel flügge sind. | |
| Und was ist mit den berüchtigten, hochmütigen Müttern vom Kollwitzplatz? | |
| Es gibt schon Mütter, die meinen, man müsste zur Seite springen, wenn sie | |
| mit ihrem Kinderwagen kommen, aber sicher nicht nur hier am Kollwitzplatz. | |
| Was hier auffällt ist, dass man sehr viele junge Mütter und Väter sieht. | |
| Die meisten sind ausgesprochen freundlich und hilfsbereit. Viele von ihnen | |
| haben es heute auf andere Weise schwer, ihr Leben zu organisieren, als wir | |
| damals. Immer diese kurzfristigen Jobs, Paare arbeiten oft in getrennten | |
| Städten. Wer zeitweise keine Arbeit hat, verschuldet sich schnell wegen der | |
| hohen Mieten. Früher war es möglich, auch mal ein paar Monate nicht zu | |
| arbeiten, weil Wohnen, Essen, Fahrgeld fast nichts kostete. Ein Leben mit | |
| sehr wenig Einkommen war möglich, allerdings auf niedrigem Niveau. | |
| Wie geht es denn den Kindern heute? | |
| In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat die Pädagogik einen | |
| gewaltigen Schritt nach vorn gemacht, weltweit. In meiner Kindheit war | |
| Gewalt in der Erziehung noch weit verbreitet, wurde aber bereits | |
| problematisiert. In der DDR war es in Kindergärten, Schulen und Heimen | |
| schon früh verboten, Kinder zu schlagen. Kinder hatten aber folgsam zu | |
| sein, sie mussten sich unterordnen, Disziplin lernen, und sie sollten nicht | |
| „verwöhnt“ werden. Dass Eltern mit Kindern spielen, dass man ihnen alles | |
| erklärt und ihren Widerspruch achtet, sie zu einem selbständigen Urteil | |
| befähigt: Das ist doch heute ganz anders als früher. | |
| Sie wollten Lehrerin werden? | |
| Ich hatte ein Lehrerstudium für Kunsterziehung und Geschichte begonnen und | |
| im dritten Studienjahr nach einem Praktikum in Marzahn aufgegeben. | |
| Warum? | |
| Die Klassen waren groß, über 35 Schüler. Nur den ganz autoritären Lehrern | |
| gelang es, sich Gehör zu verschaffen. Das schreckte mich ab. | |
| Anfang der 80er, als Sie immer stärker in die Opposition gingen und das | |
| Netzwerk „Frauen für den Frieden“ initiierten, gründeten Sie mit | |
| Gleichgesinnten den einzigen unabhängigen Kinderladen der DDR. | |
| Für fünf bis acht Kinder von befreundeten Paaren, in einer Ladenwohnung in | |
| der Husemannstraße. Wir haben die Wohnung renoviert, mit Möbeln bestückt, | |
| die wir übrig hatten, Geschirr zusammengetragen und Gardinen genäht. Dann | |
| haben wir eine gelernte Kinderkrankenschwester für die Betreuung gewonnen, | |
| die von jeweils einem Elternteil unterstützt wurde. Wir haben auch | |
| wechselseitig gekocht und geputzt. Das war zwar alles aufwändig, aber ich | |
| glaube, dass es den Kindern dort besser ging als in den überfüllten | |
| Kinderkrippen. | |
| Der Laden bestand nur zwei Jahre, nicht wahr? | |
| Genau. Ende 1983 wurde ich mit Bärbel Bohley wegen „Verdachts auf | |
| landesverräterische Nachrichtenübermittlung“ verhaftet und verbrachte sechs | |
| Wochen in der Untersuchungshaftanstalt Hohenschönhausen. Ich war gerade | |
| zwei Tage in Haft, da rückte eines Morgens ein Lkw mit als Bauarbeiter | |
| verkleideten Staatssicherheitsleuten an. Sie zerschlugen die | |
| Schaufensterscheibe, räumten das Spielzeug, die Möbel, einfach alles raus, | |
| warfen es auf den Lkw zum Abtransport und mauerten dann absurder Weise auch | |
| noch das Schaufenster zu. | |
| Zu der Zeit waren Ihre Kinder noch sehr klein? | |
| Ja. Die Trennung von meinen Kindern war eigentlich das Schlimmste an der | |
| Haft. Ich wusste ja nicht, dass ich nach sechs Wochen wieder rauskommen | |
| würde. | |
| Sprechen Sie noch viel mit ihren Kindern über diese Zeit? | |
| Selten. | |
| Als Sie Anfang 1989 das Angebot bekamen, mit der ganzen Familie nach | |
| England zu gehen – war das auch als Mutter schwer, dieses abzulehnen? | |
| Ja, das Angebot war verlockend. Unsere Kinder hätten dort Abitur machen | |
| können, was ihnen sehr wahrscheinlich in der DDR verwehrt worden wäre. Wir | |
| hätten beruflich noch einmal von vorn anfangen können. Ich hatte ja mit | |
| Mitte 30 keinerlei Berufsabschluss. Aber unsere Freunde hätten wir damit im | |
| Stich gelassen. Wir haben immer dafür geworben, trotz aller Beschwernisse | |
| im Land zu bleiben, um dies zu verändern. Wenn wir uns da hätten bestechen | |
| lassen, das wäre fatal gewesen. | |
| Wie erklären Sie jungen Leuten heute die DDR? | |
| Ich versuche, sie an einem Beispiel den Vorteil der Demokratie herausfinden | |
| zu lassen. Ein Parkplatz soll gebaut werden, ausgerechnet dort, wo die | |
| Jugendlichen immer Fußball spielen. Ich frage sie, was sie unternehmen | |
| können, um den Parkplatzbau zu verhindern. Meiner Erfahrung nach kommt da | |
| eine Menge von Ideen: Zur Zeitung gehen, sich an den Abgeordneten wenden, | |
| demonstrieren, eine Bürgerinitiative gründen, Flugblätter verteilen und so | |
| weiter. Dann prüfen wir diese Aktivitäten unter DDR-Bedingungen. Das ist | |
| eine Möglichkeit, die Diktatur zu erklären. In der DDR konnten sich deshalb | |
| Eigenverantwortung und Eigeninitiative kaum entwickeln. Alle Erwartung | |
| richtete sich auf den Staat. | |
| Was war das Problem in den Kinderkrippen der DDR? | |
| Als ich eines Morgens das kleine Kind eines befreundeten Ehepaars zur | |
| Kinderkrippe brachte, musste ich das weinende Kind über einen Tresen | |
| reichen. Denn Eltern durften die Krippenräume nicht betreten. Ich war | |
| darüber entsetzt. Ein andermal habe ich durch ein Fenster in eine Krippe | |
| geschaut und beobachtet, wie die Kleinen um einen Tisch saßen, die Hände | |
| lagen flach auf der Oberfläche, kein Spielzeug, kein Laut und die | |
| Krippentante wischte den Fußboden und steckte ab und zu den Kindern einen | |
| Bonbon in den Mund, wenn sie still und brav waren. | |
| Warum war das so? | |
| Das war so, weil alle Arbeitskräfte in die Produktion sollten. Die | |
| Betreuerinnen wurden schlecht bezahlt, also waren die Krippen personell oft | |
| hoffnungslos unterbesetzt. Manchmal war eine einzige Kindergärtnerin für 20 | |
| Kinder und mehr zuständig. Die konnte dann einfach nur Mindestversorgung | |
| leisten. | |
| Waren die Frauen in der DDR eigentlich weiter als die in der BRD? | |
| Sie waren unabhängiger, weil fast alle berufstätig waren – wenn sie auch | |
| durch die schlechter bezahlten frauentypischen Berufe weniger verdienten. | |
| Frauen haben in den achtziger Jahren etwa 30 Prozent weniger verdient in | |
| der DDR als Männer. Heute verdienen Frauen bundesweit etwa 23 Prozent | |
| weniger. | |
| Die Frauen waren unabhängiger, aber waren sie auch emanzipierter? | |
| Sie mögen im Durchschnitt etwas selbstbewusster gegenüber Männern gewesen | |
| sein. Wenn sie belästigt wurden, haben sie einfach zurückgehauen. Aber | |
| abgesehen davon war die DDR bekanntlich ein Staat, der seine Bürger | |
| entmündigt hat, Frauen wie Männer. Er hat sich angemaßt zu bestimmen, was | |
| seine Untertanen glauben sollen, wissen dürfen und tun müssen. Frauen und | |
| Männer wurden gleichermaßen entwürdigt. Deshalb war die Frauenbewegung in | |
| der DDR nicht männerfeindlich, nur kritisch bis ablehnend gegenüber allen | |
| Obrigkeiten. Wir „Frauen für den Frieden“ traten gegen Rüstungseskalation, | |
| Militarisierung der Gesellschaft und staatlichen Reglementierungsdruck auf. | |
| Wie erklären Sie sich, dass Sie sich immer so vehement gegen die DDR | |
| wehrten? | |
| Als wir in den 60er-Jahren einen Fernseher bekamen, habe ich mit meinem | |
| Vater jeden Sonntag den Weltspiegel gesehen. Aber warum ich zum | |
| Staatsgegner wurde, das hängt sicher auch mit vielen Zufällen zusammen. | |
| Sie sind ganz nah an der Grenze zu Westberlin aufgewachsen, in Hohen | |
| Neuendorf. Kann das eine Rolle gespielt haben? | |
| Als Kind erfuhr ich in meinem Dorf von Fluchtgeschichten und Verhaftungen. | |
| Ich hörte von unserem Haus aus die Schüsse und das Hundegebell an der | |
| Grenze. | |
| Noch bevor Sie „Frauen für den Frieden“ gegründet haben, arbeiteten Sie in | |
| einem Kinderheim und in einer psychiatrischen Klinik. | |
| Ich war etwa 22 Jahre alt und hatte von einer Nachbarin, die in einem Heim | |
| gearbeitet hatte erfahren, dass es in der DDR so etwas wie „asoziale | |
| Familien“ gibt. Offiziell gab es ja gar keine „Asozialität“. Man konnte | |
| darüber nichts lesen. Ich bewarb mich aus Neugierde im Durchgangsheim | |
| Alt-Stralau. Ich hatte damals viel über Summerhill gelesen und war | |
| begeistert von antiautoritärer Pädagogik. | |
| Was erlebten Sie dort? | |
| Es war ein Schock. Am Anfang hatte ich als sogenannte Zuführerin Kinder und | |
| Jugendliche in andere Heime oder Werkhöfe zu bringen. Auf den Wegen habe | |
| ich ihre Geschichten gehört, was sie in den Heimen erlebten und wie sie | |
| hin- und her geschoben wurden. Ich lernte Werkhöfe kennen und war entsetzt. | |
| Später war ich im Durchgangsheim für die Mädchen zuständig. | |
| Wie war es da? | |
| Wie im Knast. Die Fenster hatten Gitter. Die Kinder mussten sich ausziehen, | |
| durften keinen eigenen Gegenstand behalten, bekamen Anstaltskleidung. Das | |
| Reglement war militärisch: Morgens der Größe nach anstellen, Meldung | |
| machen. Es gab keine psychologische Betreuung. Ein Kind hörte einfach auf | |
| zu sprechen. Manche waren aus dem Kofferraum gezogen worden beim | |
| Fluchtversuch der Eltern. Eine Krankenschwester zwang alle Mädchen ab | |
| sieben Jahren auf den gynäkologischen Stuhl. Auch ein Mädchen, das von | |
| seinen Brüdern sexuell missbraucht worden war. Das schrie und schrie. | |
| Andere kamen grün und blau geschlagen dort an. Manche blieben Jahre, was | |
| auch nicht den Gesetzen entsprach. Im Keller gab es eine Arrestzelle. | |
| Sie haben das nicht ausgehalten? | |
| Ich war nicht einmal ein Jahr da. Zwar habe ich immer wieder versucht, das | |
| Reglement dort etwas lockerer zu gestalten. Aber ich bin damit überhaupt | |
| nicht zurecht gekommen. | |
| Hat sich für Sie da ein Kreis geschlossen, als Sie als Brandenburgs | |
| Aufarbeitungsbeauftragte eine Anlaufstelle für die Heimkinder der DDR | |
| schufen? | |
| Ich weiß, wovon die Rede ist, wenn die ehemaligen Heimkinder von ihren | |
| Geschichten erzählen. Ich habe schon vor meiner Zeit als | |
| Aufarbeitungsbeauftragte in der Evangelischen Akademie mehrere Versuche | |
| unternommen, zum Thema Heimerziehung in der DDR Tagungen zu organisieren. | |
| Aber es ist mir nicht gelungen, weil es keine Wissenschaftler gab, die | |
| darüber gearbeitet haben. Und ich habe auch keine ehemaligen Erzieher | |
| gefunden, die zu sprechen bereit gewesen wären. Die Heimkinder in der DDR | |
| kamen erst 25 Jahre nach der Wende zu Wort und wurden öffentlich | |
| wahrgenommen. Das hängt auch damit zusammen, dass diese Menschen oft keine | |
| Lobby haben. | |
| Nun gehen Sie in Rente. Ist ein Ende der Aufarbeitung in Sicht? | |
| Viele Menschen, die in der DDR Leid und Unrecht erlebt haben, leben ja | |
| noch. Sie haben einen Anspruch auf Rehabilitierung. Es muss ihnen auch | |
| zukünftig geholfen werden, ihre Rechte durchzusetzen und sich durch diese | |
| komplizierten Verfahren hindurch zu finden. | |
| Wird das Nachdenken über die DDR je aufhören? | |
| Diktatur ist ja nicht nur ein Vergangenheitsthema. Wir müssen uns immer | |
| wieder fragen, wie wir die Demokratie lebendig halten und schützen können. | |
| Und wenn die letzten Zeitzeugen nicht mehr sind? | |
| Wir hören ja auch nicht auf, über die Nazizeit nachzudenken. Mein Vater hat | |
| erst, als er über 90 war, begonnen, über seine Kriegserfahrungen zu | |
| sprechen. Zum Glück haben wir das noch auf Tonband aufgenommen. Nun ist er | |
| gestorben und ich habe große Kisten voller Briefe und anderer Unterlagen zu | |
| Hause. Mein Vater war Historiker und hat nach seiner Pensionierung | |
| Familienforschung betrieben. Meine Großväter haben beide viel geschrieben, | |
| ich habe Tagebücher aus dem Ersten Weltkrieg, der Weimarer Republik und der | |
| Nazizeit. Das alles zu sortieren ist eins meiner Projekte, wenn ich in | |
| Rente bin. | |
| Sie werden sich also nicht in die Hängematte legen? | |
| Die DDR-Geschichte wird mich nicht loslassen. Ich räume aber auch gerne | |
| meinen Platz für Jüngere. Und ein bisschen Hängematte ist doch auch nicht | |
| zu verachten. | |
| Keine Angst vorm Loslassen? | |
| Ich freue mich aufs Ausschlafen, auf Zeit für die Enkelkinder, auf Malen | |
| und Gartenarbeit. Ich werde auch wieder Freundschaften pflegen, die in den | |
| letzten Jahren eher zu kurz kamen. | |
| 12 Jun 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Susanne Messmer | |
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