| # taz.de -- taz-Serie Marzahn-Hellersdorf: Die Freiheit im siebten Stock | |
| > Am 8. Juli 1977 wurde die erste Platte in der Großsiedlung Marzahn | |
| > gesetzt. Brigitte und Günther Klich gehörten zu den Ersten, die eine | |
| > Wohnung im Plattenbau bezogen. | |
| Bild: Brigitte und Günther Klich in ihrer Wohnung im 7. Stock eines Hochhauses… | |
| Günther Klich steht auf seinem Balkon im 7. Stock eines Hochhauses in der | |
| Poelchaustraße in Marzahn. Der weite Blick nach Süden: Zehngeschosser. Die | |
| glitzernden Kronen großer Pappeln. Himmel, viel Himmel. Aber über die | |
| schöne Aussicht hat Günther Klich schon oft gesprochen. | |
| Lieber plaudert der 70-jährige Mann mit dem lässigen dunklen Blouson überm | |
| dunklen T-Shirt von seinem Efeu. Den hat er hier schon vor Jahren | |
| gepflanzt. Oft heißt es, der Efeu bringt Insekten und Vögel und Dreck, oder | |
| der Efeu zerfrisst die Fassaden. Doch das ist Günther Klich egal. Erstens, | |
| weil er es besser weiß. Und zweitens, weil er und seine Frau Brigitte Klich | |
| seit fast 40 Jahren in dieser Wohnung leben. Sollte wirklich einmal eine | |
| Beschwerde laut werden, so würde sie das nicht aus der Ruhe bringen. | |
| „In der DDR waren Mieter quasi Eigentümer“, mischt sich Günther Klichs | |
| Ehefrau Brigitte aus dem Wohnzimmer ins Gespräch ein. Ihr weißer Bubikopf | |
| wirkt mondän, ihre weite Leinenhose elegant. „Wer einmal eine Wohnung | |
| hatte, der war auf Dauer versorgt“, lächelt sie schelmisch. | |
| Brigitte und Günther Klich wohnen seit 1979 in Marzahn. Damit gehören sie | |
| zu den sogenannten Erstbeziehern dieses Bezirks mit der größten Siedlung in | |
| industrieller Plattenbauweise auf dem Gebiet der DDR. Über 4.000 Wohnungen | |
| entstanden 1977 und 1978 allein am Springpfuhl, dem ältesten Teil der | |
| Großsiedlung, wo die Klichs wohnen. 4.000 Wohnungen für alle, mit ähnlich | |
| großen Zimmern, ähnlich großen Küchen und ähnlich kleinen | |
| Quadratmeterpreisen. | |
| ## Immer gern hier gewohnt | |
| Das waren Wohnungen, in denen es schwer war zu repräsentieren. Wohnungen, | |
| in denen man kaum eine Chance hatte, sich hervorzutun. | |
| Anders als die Bewohner sozialen Wohnungsbaus im Westen, die sich oft eher | |
| abgeschoben fühlten, heißt es von den Erstbeziehern in Marzahn, sie hätten | |
| hier alles mitgestaltet. Sie hätten immer gern hier gewohnt. Zu DDR-Zeiten | |
| sowieso, aber auch noch nach der Wende, als der Bezirk immer leerer wurde | |
| und die Presse Marzahn als „Vorstadthölle“ beschrieb. | |
| Und in letzter Zeit, wo der Bezirk dank Internationaler | |
| Gartenbauausstellung – kurz IGA – und steigender Mieten in der Innenstadt | |
| wieder aufgewertet wird, heißt es, atmen diese Erstbezieher auf. Selbst | |
| wenn viele nach Marzahn ziehen, die neue Probleme mit sich bringen. In | |
| keinem anderen Bezirk außer Treptow-Köpenick schnitt die AfD bei den | |
| letzten Berlin-Wahlen besser ab. Nirgends wurden mehr Gewalttaten mit | |
| rechtsradikalem Hintergrund gezählt, seit die Flüchtlinge kamen. | |
| Wie aber steht es mit den Klichs? | |
| Schon, wer deren Wohnung betritt, spürt, dass die Menschen, die sich hier | |
| eingerichtet haben, viel übers Wohnen nachgedacht haben. Keine | |
| Aneinanderreihung von kleinen Buchten, die man sich unter Wohnen in der | |
| Platte vorstellen mag, sondern tiefes Durchatmen. Weiße Wände, schlichte | |
| Möbel aus Holz und Leder. Kein Schnickschnack, keine Trockenblumen, dafür | |
| geschätzt 5.000 Bücher in Regalen. Bücher zum Lesen, nicht zum Vorzeigen. | |
| Bücher mit angestoßenen Ecken, mit abgegriffenen Umschlägen. Bildbände. | |
| Literatur aus der DDR. Auch Neuerscheinungen wie der dicke Roman von Frank | |
| Witzel, der den Deutschen Buchpreis gewonnen hat. | |
| ## Gewachsene Nachbarschaft | |
| Günther Klich setzt sich an den Sofatisch, die 69-jährige Brigitte Klich | |
| nimmt im Schneidersitz auf dem Lehnstuhl Platz. Der Schock, als sie die | |
| Besichtigungskarte für die Wohnung in Marzahn bekamen, war groß, erzählt | |
| sie. Sie mochten Mitte so gern. Die Nachbarschaft war gewachsen, wie bei | |
| Zille. Von der Müllerin bekamen sie den Schrank, vom Schreiner im Hinterhof | |
| ließen sie sich die Türen für die neue Wohnung machen. Die Schüssel für | |
| warmes Wasser und die für kaltes auf der Küchenbank, auch das Außenklo und | |
| die vereisten Leitungen im Winter machten ihnen nichts aus. | |
| In Marzahn dagegen: Da gab es am Anfang kaum Busse, wenige | |
| Einkaufsmöglichkeiten und Bohlen über den Schlamm statt Straßen und | |
| Bürgersteige. Und die Tochter, die damals schon 12 Jahre alt war, musste | |
| einmal die Woche zur Pantomime nach Mitte und abends wieder zurück. Für die | |
| Tochter ist Marzahn immer das Ende der Welt geblieben, sagt Brigitte Klich. | |
| Heute lebt sie im Süddeutschen und trifft die Eltern lieber irgendwo in der | |
| Stadt als in der Marzahner Wohnung. | |
| Und doch. Irgendwann wurde Marzahn eine Heimat für die Klichs. Denn auch | |
| sie haben Ende der 1970er mitgearbeitet. Sie wohnen hier in einer | |
| Genossenschaftswohnung, mussten etwas Geld einzahlen und den Rest | |
| erarbeiten. Manche nannten das „Muskelhypothek“. Heute zahlen die Klichs | |
| nur etwas mehr als 500 Euro Miete im Monat. | |
| Günther Klich erzählt gern davon, wie er zu den Arbeitseinsätzen musste, in | |
| den Baugruben Kabel vergraben, und auf welche Schwierigkeiten er stieß, als | |
| er begann, die Arbeitseinsätze selbst zu leiten. „Mutlos durfte man nicht | |
| sein“, sagt er. | |
| ## Nie mehr zurück nach Mitte | |
| Auch Brigitte Klich erinnert sich gern: An die Besichtigungen auf dem | |
| Bauplatz, an die Spaziergänge, als noch nicht alles voller Häuser war, als | |
| man rund ums Viertel noch große Feldblumensträuße pflücken konnte. | |
| Die Altbauwohnung in Mitte: Sie waren darin glücklich. Sie fahren noch oft | |
| in ihre alte Heimat, schauen sich Flohmärkte und Friedhöfe an, gehen in den | |
| gut sortierten Buchhandlungen und eleganten Kleidergeschäften einkaufen. | |
| Aber da wohnen? Die Klichs würden heute nicht einmal mehr zurück nach Mitte | |
| ziehen, wenn ihnen jemand dort eine Wohnung schenken würde. Sie haben in | |
| Marzahn zu sich selbst gefunden. | |
| Und das alles wegen ein paar Feldblumensträußen, die man heute gar nicht | |
| mehr pflücken kann? | |
| Man muss aber noch ein Stück weiter zurückgehen, wenn man verstehen will, | |
| wie frisch sich Marzahn einmal angefühlt haben muss für viele – und auch | |
| für das Ehepaar Klich. | |
| Die beiden entschuldigen sich kurz und kommen mit kleinen Tellern zurück. | |
| Es gibt Pumpernickel mit gutem Käse und scharfe Gürkchen für alle, denn | |
| das, was jetzt kommt, wird ein bisschen dauern. | |
| ## Fluchtgeschichten | |
| Wie viele ihrer Generation sind auch die Klichs von Fluchtgeschichten | |
| geprägt. Brigitte Klichs Mutter kam in den 1920er-Jahren aus Schlesien und | |
| als der Mann im Zweiten Weltkrieg fiel, da musste sie die beiden Söhne | |
| allein durch bekommen, als ungelernte Putzfrau. Dann die Beziehung zum | |
| russischen Offizier, der 1948 abgezogen wurde und seine Tochter Brigitte | |
| nie kennenlernen sollte. Die Einraumwohnung in der Ackerstraße, in der sie | |
| zu viert wohnten. Die Ausbildung Brigittes zur Schneiderin für Blusen, die | |
| sie nicht wollte. | |
| Auch Günther Klichs Eltern verließen Schlesien, er Zimmermann, sie Bäuerin, | |
| mit eigenem Grund und Boden dort. Dann der Krieg und die Flucht nach | |
| Potsdam, wo es Verwandte gab. Zunächst wohnten sie im Zirkuswagen. „Wenn | |
| wir nachts pinkeln gingen, machten die Ratten Männchen“, lacht er. Dann | |
| kauften sie bei Potsdam ein großes Haus mit 50 Obstbäumen. Die Eltern | |
| zahlten das Haus mit der Ernte ab. | |
| Es hat sich ihm eingebrannt, dass sie immer „Fremdlinge“ geblieben sind. | |
| Fremdlinge noch dazu, die sich so schnell ein eigenes Haus kaufen konnten. | |
| Kurz nachdem sich die beiden kennengelernt hatten, sie 18 und er 19 Jahre | |
| alt, begannen sie, sich in ein anderes Leben hineinzuarbeiten. Bei ihr war | |
| es zuerst die Stelle in einer Bibliothek, dann eine Fortbildung, das | |
| „geliebte Studium“, Bibliothekswissenschaft. Ein Fernstudium mit | |
| gelegentlichen Ausflügen nach Leipzig, vor allem aber „lesen, lesen, | |
| lesen“. 1979 übernahm sie die Leitung der Bibliothek an der Kunsthochschule | |
| Weißensee. Dort blieb sie bis zum Ruhestand, bis 2008. Ein Traumjob, sagt | |
| sie bis heute. | |
| ## Traum von der Gleichheit | |
| Auch er hat viel erreicht: Die Lehre im Chemiekombinat Leuna, danach bis | |
| zum Abteilungsleiter im Forschungsbereich des VEB Berlin Kosmetik. | |
| Die DDR hat den Klichs viel ermöglicht. Auch fanden sie den Traum von der | |
| Gleichheit schön, der nie Wirklichkeit wurde. Aber in die Partei sind sie | |
| trotzdem nie eingetreten. Brigitte Klich hätte den Kontakt zum Bruder | |
| abbrechen müssen, der nach Kanada ausgewandert war. Ein Staat, der sich | |
| derart in die Privatangelegenheiten seiner Bürger mischt, er hätte nicht | |
| der Staat der Klichs werden können. | |
| Anders als viele in ihrer Generation, die an der Wende zerbrochen sind, | |
| erinnern sich die Klichs wohl auch deshalb gern an diese turbulente Zeit, | |
| als die DDR zu Ende ging. Sie sind beweglich geblieben, so, wie sie immer | |
| beweglich waren. | |
| Brigitte Klich schwärmt vom Bestandsaufbau in ihrer Bibliothek nach 1989, | |
| als sie plötzlich gutes Geld für neue Bücher zur Verfügung hatte, die sie | |
| dann in einem Buchladen in Charlottenburg ausgab. Günther Klich wundert | |
| sich noch heute, dass er nach der Abwicklung des alten Betriebs noch einmal | |
| ein Fernstudium wagte, erst Betriebswirtschaft, danach Steuerrecht, dann | |
| Steuerberatung in einem Büro, später Selbständigkeit. „Wir haben die | |
| Freiheit nach der Wende aus vollen Zügen genossen“, sagen beide Klichs | |
| heute. | |
| ## Eine Geschichte der Emanzipation | |
| Die Klichs haben die Fluchtgeschichten der Eltern noch in den Knochen. | |
| Dieses Gefühl, das ihre Eltern gehabt haben müssen, als sie merkten: Ihre | |
| Ankunft war von vielen um sie herum nicht gerade erwünscht. Was empfinden | |
| da die Klichs, wenn heute wie damals in Marzahn Menschen versuchen | |
| anzukommen, Menschen aus Syrien oder Afghanistan? | |
| Günther Klich, der höfliche Mann mit viel Haltung, zögert keinen Moment, | |
| als er sagt: „Hier hat sich zum Glück keiner aus dem Fenster gelehnt, als | |
| die gegen die Flüchtlingsheime demonstriert haben.“ | |
| Die Klichs mögen keine Leute, die sich die Welt aus Vorurteilen zusammen | |
| zimmern. Sie halten es lieber weiterhin mit der Neugier, mit der sie ihr | |
| ganzes Leben angegangen sind. Geholfen haben sie den Flüchtlingen bis jetzt | |
| zwar nicht. Aber sie finden die Leute freundlich und zurückhaltend und | |
| begegnen ihnen mit derselben Freundlichkeit und Zurückhaltung. | |
| Die Geschichte der Klichs ist die einer Emanzipation. Von alten dunklen | |
| Wohnungen, wie sie arme Leute um die Jahrhundertwende bewohnten, aber auch | |
| von alten Einfamilienhäusern mit großen Gärten, von denen arme Leuten um | |
| die Jahrhundertwende träumten. Die Klichs hätten das Haus der Eltern bei | |
| Potsdam haben können, als sie es verkauften. Sie wollten es nicht. „Wir | |
| wollten frei sein“, sagensie. | |
| ## Wie ein weißes Blatt Papier | |
| Frei von den Geschichten, die auch deshalb an einem kleben, weil alles um | |
| einen herum immer wieder diese Geschichten erzählt. | |
| Marzahn dagegen erzählte noch keine Geschichten. Keine Geschichten von oben | |
| und unten, keine Geschichten von fremd und vertraut. Es muss auf die Klichs | |
| eher wie ein weißes Blatt Papier gewirkt haben. | |
| Die Luft, das Licht und die karge Wohnung der Klichs: All das passt sehr | |
| gut zu ihnen. Sie konnten sich hier entfalten. | |
| 8 Jul 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Susanne Messmer | |
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