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# taz.de -- Serie Marzahn-Hellersdorf: Mehr als nur Wutbürger
> Marzahn-Hellersdorf hat ein Problem mit Rechten. Ein neues
> Forschungsprojekt schaut genau hin – und könnte so der Politik helfen,
> diesem Problem besser zu begegnen.
Bild: Kinder und Jugendliche im Bezirk haben mit Politik nicht viel am Hut, so …
Die Jugendlichen in Marzahn-Hellersdorf leben überwiegend gerne dort und
schätzen ihre Zukunftschancen positiv ein – mit Politik können sie aber
nicht viel anfangen, und wenn sie wählen gehen könnten, bekäme die AfD auch
hier mehr Stimmen als in anderen Teilen Berlins.
So lassen sich die am Dienstag vorgestellten Zwischenergebnisse einer
Studie zusammenfassen, an der ein Team von WissenschaftlerInnen der
Alice-Salomon-Hochschule seit März arbeitet. Es geht um „demokratieferne
Einstellungen in einer Kommune“, die Befragung von 75 Kindern und
Jugendlichen ist dabei nur der erste Schritt. In der zweiten Hälfte sollen
dann 300 Menschen aller Altersgruppen an der Studie teilnehmen. „Es gibt
viele Untersuchungen, die zeigen, dass es Menschen gibt, die mit Demokratie
nicht viel anfangen können“, sagt der Projektleiter Heinz Stapf-Finé, „wir
wollen aber auch untersuchen, warum das so ist“.
Dafür, so die ForscherInnen, sei eine Differenzierung nötig, die nicht nur
„Wutbürger“ und Demokraten kennt. Für das Projekt wird eine Unterscheidung
in sieben verschiedene Typen verwendet. So stehen die „zufriedenen
DemokratInnen“, die Demokratie sowohl als Idee als auch in ihrer Umsetzung
richtig finden, an dem einem Ende der Skala und am anderen Ende die
„DemokratiefeindInnen“, die nicht nur die Umsetzung, sondern auch die Idee
von Demokratie ablehnen. Dazwischen gibt es etwa die
„Demokratieentfremdeten“, deren Einstellung sich im Lauf der Zeit verändert
hat, oder die „kritisch-politischen DemokratInnen“, die der momentanen
Umsetzung von Demokratie skeptisch gegenüber stehen, aber an sich von der
Idee überzeugt sind und deswegen auch bereit, sich einzubringen. Und
schließlich noch die „rigiden Demokratieskeptischen“, wie hier die
sogenannten Wutbürger heißen.
Inwiefern sich diese Typen in der Bevölkerung von Marzahn-Hellersdorf so
wiederfinden, soll in den nächsten Monaten Gegenstand der Untersuchung
sein. Anlass für die Studie sind laut Stapf-Finé die Entwicklungen, die im
Bezirk seit etwa vier Jahren deutlich zutage treten: Nachdem es jahrelang
so ausgesehen hatte, als gelinge ein Zurückdrängen rechtsextremer und
antidemokratischer Positionen, sind diese mittlerweile wieder auf dem
Vormarsch.
Auch wenn der Bezirk dieser Entwicklung nicht mehr so rat- und machtlos
gegenüberzustehen scheint wie noch 2013: So richtig hat die
Kommunalpolitik immer noch keinen Umgang gefunden mit dem Wiedererstarken
solcher Einstellungen. Die Debatte wird dabei geprägt von zwei Polen: Hier
das Klischee vom unveränderbar braunen Bezirk, hinter dem jede
Gegenbewegung und jede zeitliche Entwicklung verschwindet, dort die
bezirkliche Imagepflege, die rassistische Ressentiments als Anwohnersorgen
verharmlost.
Das Forschungsprojekt der Alice-Salomon-Hochschule kann an dieser Stelle
einen wichtigen Beitrag leisten, weil es differenziert. Und weil ihm nicht
nur eine formale Definition, sondern ein komplexeres Verständnis von
Demokratie zugrunde liegt: Demokratie, so erklärt Stapf-Finé, sei eine
Frage von Machtverteilung, von Gesellschaftsorganisation und von
individueller Lebensweise zugleich. So sei ein Rechtsrock-Konzert auch dann
antidemokratisch, wenn es ordentlich angemeldet wurde, weil sich in ihm
eine antidemokratische Kultur ausdrückt. Eine solche Haltung macht etwa das
Engagement gegen die AfD zur demokratischen Pflicht – auch wenn die Partei
wie hier durch eine demokratische Wahl zweitstärkste Fraktion im
Bezirksparlament geworden ist.
Interessant ist, dass Stefan Komoß, Bezirksbürgermeister a. D. und
ebenfalls an der Studie beteiligt, bei der Vorstellung durchblicken lässt,
an dieser Stelle nicht ganz mitzugehen. Komoß, im Team dafür zuständig, aus
der Studie politische Handlungsempfehlungen abzuleiten, betont vor allem,
wie wichtig „Anerkennung“ und „Erzählen-Lassen“ im Bezirk sei. Nur
gegenüber dem äußeren Rand der Skala, den „Demokratiefeinden“ gelte das
nicht, als Beispiel nennt er hier NPD-Politiker.
## Den Spagat meistern
Für den schwierigen Spagat in Marzahn-Hellersdorf und anderswo in
Ostdeutschland, einerseits mit Ängsten vor sozialem Abstieg und
Repräsentationsverlust umzugehen und andererseits antidemokratischen
Positionen nicht noch mehr Einflussmöglichkeiten zu verschaffen, erscheint
diese Herangehensweise unterkomplex: Eine rechtsextreme Einstellung braucht
nicht zwingend ein Parteibuch, und nicht jedes Reden-Lassen ist per se ein
demokratischer Akt. Wer an solchen Orten Demokratie stärken will, braucht
dafür einen differenzierten Blick und eine Haltung – das Forschungsprojekt
könnte dafür in den nächsten Monaten wichtige Impulse geben.
18 Jul 2017
## AUTOREN
Malene Gürgen
## TAGS
Rechtsextremismus
Berlin Marzahn-Hellersdorf
Demokratieforschung
IGA 2017
Schwerpunkt AfD
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Soziale Brennpunkte
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Lesestück Recherche und Reportage
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