# taz.de -- Hype um Big Data: Big Brothers große Schwester | |
> Die Stasi wollte noch jedes Individuum „kennenlernen“. Heutige | |
> Geheimdienste machen sich diese Mühe nicht mehr: Sie glauben „Big Data“ | |
> sei die Lösung. | |
Bild: Kameras: Erlauben den Blick in die Vergangenheit, jedoch nicht in die Zuk… | |
BERLIN taz | „Warum macht ihr keinen Aufstand in den Straßen?", fragte der | |
Sicherheitsexperte und Internetaktivist [1][Jacob Appelbaum] sein Publikum | |
[2][bei einer netzpolitischen Veranstaltung in Berlin]. Kurz zuvor hatte | |
die Bundesregierung lapidar bekannt gegeben, dass der NSA-Whistleblower | |
Edward Snowden [3][in Deutschland kein Asyl] erwarten dürfe. | |
Appelbaum, weiß natürlich selber, dass die Straße nicht der angestammte | |
Lebensraum der Hackerkultur ist. Was er gleichzeitig sicher frustriert zur | |
Kenntnis nehmen muss, ist [4][die relative Gleichgültigkeit] einer Mehrheit | |
gegenüber dem NSA-Skandal und ganz allgemein der Datensammelwut der | |
Sicherheitsbehörden. | |
Auch wenn den meisten Menschen die geheimdienstlichen Verflechtungen etwas | |
unheimlich sein mögen, wirklich stören wollen sie sich nicht daran. Angst | |
haben sie nicht vor ihrem Staat und der vermeintlichen Macht, die er | |
repräsentiert, sondern vor Unsicherheit und Ohnmacht. Im Terrorismus, der | |
doch kein Gesicht hat, findet diese Angst seine ideale Projektionsfläche. | |
Staatliche Kontrolle verspricht Sicherheit, besorgt um den Eingriff in die | |
eigene Privatsphäre brauchen wir nicht sein. Wir haben schließlich | |
[5][nichts zu verbergen]. | |
Viel wichtiger ist: Niemand in den Geheimdiensten interessiert sich für | |
mich, die Person X, meine Vorlieben und -leben. Niemand dort liest all die | |
E-Mails, transkribiert die Telefongespräche oder observiert die Grillpartys | |
im Schrebergarten. Jene gesammelten Metadaten meiner Mails und Telefonate | |
auf den NSA-Servern ermöglichen statt dessen, eine Norm festzulegen, ein | |
Mehrheitsverhalten, von dem im Interesse unser Sicherheit relevante | |
Abweichungen gesucht werden können. Mit jeder unverschlüsselt verschickten | |
Einladung zur Gartenparty kommen wir dem internationalen Terrorismus | |
genauer auf die Spur. | |
## Jenseits der Wahrnehmungsschwelle | |
Die Einwände, dass die Speicherung der Daten einzelner Personen eben nicht | |
nur im Dienste der Statistik stünde, sondern im Zweifelsfall über Jahre | |
rückwirkend einen viel später entstehenden Verdacht gegen Person X | |
begründen können, ist natürlich korrekt. Jedoch sind die Fälle, in denen | |
das passiert so wenige, dass sie für die Mehrheitsbevölkerung praktisch | |
jenseits der Wahrnehmungsschwelle existieren. | |
Insofern hinkt der gern gewählte Vergleich zeitgenössischer datengestützter | |
Geheimdienstarbeit mit der Stasi tatsächlich. Der DDR-Geheimdienst hat | |
nämlich nicht die Abweichung von statistischen Normalwerten gemessen, | |
sondern die von einer artifiziell gesetzten ideologischen Norm. So hat er | |
sich tatsächlich noch für jede einzelne DDR-Bürgerin interessieren müssen; | |
ein überaus aufwendiges Unterfangen, das dazu kaum unbemerkt an den Zielen | |
von Observation, Zersetzung und Indoktrination vorüber gehen konnte. | |
Die heutigen, stillen Überwachungsmethoden dagegen sind in ihrem | |
Idealzustand vergleichsweise vorurteils- und diskriminierungsfrei. Der | |
Normalzustand wird „nur" gemessen, und nicht vorherbestimmt. Es gibt kein | |
eindeutig richtiges oder falsches Verhalten, nur eine statistisch messbare | |
Norm und Abweichungen davon. Wir bestimmen mit unserem Verhalten, wer die | |
anderen sind. | |
## Gelegentliche Kollateralschäden | |
Das Ausmaß der Überwachung wird für die Überwachten –uns alle– auf diese | |
Weise kaum erfahrbar. Weder ist sie selbst, noch sind ihre unmittelbaren | |
Folgen im Alltag ohne weiteres spürbar. Es ist gerade in der individuellen | |
Wahrnehmung ein großer Unterschied, ob geringste Abweichungen von einer | |
ideologischen Norm sofort sanktioniert werden, oder ob man angelegentlich | |
von einem Teenager in den USA hört, den ein missverständlicher | |
Facebookeintrag [6][für ein paar Monate hinter Gitter] bringt. | |
Einen Unterschied macht diese mathematische Herangehensweise auch rein | |
technisch. Wer es nicht darauf absieht, jede einzelne Regung jedes | |
einzelnen Menschen unmittelbar kontrollieren zu wollen, ist mit einer | |
Datensammlung und ein paar Programmiererinnen gut bedient. | |
Die Hoffnung, dass menschliche Unberechenbarkeit und Fehlbarkeit dabei | |
[7][Datenmüll in nicht penetrierbaren Mengen] produziere, unterschätzt die | |
Quantifizierbarkeit eben dieser Fehler und Unwägbarkeiten. Gewiss ist | |
Person X in ihrem eigenen Leben unverwechselbar individuell. Spätestens | |
ihre Teilhabe an der Welt, die ganz wesentlich durch speicherbare | |
Kommunikation geschieht, folgt Normen und Gewohnheiten, die sie mit einer | |
Anzahl anderer Menschen teilt. Mehr braucht Big Data nicht, als den | |
statistisch verwertbaren Teil unserer Leben. | |
Diese Quantifizierbarkeit macht uns zu Zielen von Werbung und eben auch zu | |
Einträgen in den endlosen Zahlenreihen der NSA. Während George Orwells Big | |
Brother noch ein finsterer Psychologe war, der das Individuum brechen | |
wollte, ist seine Nachfolgerin eine Mathematikerin, die gar kein Individuum | |
mehr kennt, sondern nur noch die statistischen Norm und eben Abweichungen | |
davon. | |
## Projektionen gegenwärtigen Wissens | |
Was Big Data im Bereich der Sicherheitspolitik jedoch verschleiert, ist, | |
dass die Quantifizierbarkeit vergangenen Geschehens oder Verhaltens eben | |
keine „sichere" Vorhersage, zum Beispiel über Terroranschläge zulässt. | |
Zukünftiges bleibt zwangsläufig unscharf. Wahrscheinlichkeiten, auf welcher | |
Berechnungsgrundlage auch immer, bleiben immer nur Projektionen | |
gegenwärtigen Wissens, die sich genauso gut erfüllen, wie auch nicht | |
erfüllen können. | |
Auch kommerzielle Datensammler operieren in genau diesem Raum des Zweifels. | |
Im Gegensatz zur geheimdienstlichen Überwachung interessieren sie sich aber | |
gerade nicht für die Abweichung von der statistischen Norm. Produkte werden | |
für einen Massenmarkt entwickelt, Bedürfnisse zu kleiner Minderheiten | |
werden aus geschäftlicher Vernunft heraus nicht berücksichtigt. Was für die | |
[8][Einzelne die Welt bedeuten kann], ist statistisch nicht der Rede wert. | |
Der Mehrheit ist das so gleichgültig wie die Überwachung. Hinreichend gut | |
versorgt lebt sie so ein Leben, dass weitestgehend frei von spürbarer | |
staatlicher Repression in geordneten Bahnen verläuft. Geheimdienste und | |
Konzerne informieren sich so im Interesse dieser Mehrheit über deren | |
durchschnittliches Leben. Die durchaus vorhandene [9][qualifizierte Kritik | |
von Netzaktiven] und Bügerrechtsbewegten wird immer hörbarer, hat diese | |
Ruhe [10][aber bisher kaum nachhaltig stören] können. | |
## Legitimität statt Legalität | |
Das Recht des Individuums, nicht erfasst zu werden und für abweichende | |
Meinungen nicht behördlich überwacht zu werden ist zwar ein hohes, aber | |
auch ein sehr abstraktes und damit schwer vermittelbares Gut. Irgendwo auf | |
dem Weg in die Informationsgesellschaft (und nach allem was wir wissen, | |
auch schon sehr viel früher) haben die westlichen Demokratien entschieden, | |
dieses Gut nachrangig zu behandeln. | |
Sie folgen dabei nicht ihren eigenen Gesetzen, sondern wie Angela Merkel es | |
im Interview mit der Zeit ausdrückt, einer [11][davon losgelösten Abwägung | |
von Verhältnismäßigkeit]. Dass hier also Legitimität Legalität ersetzt, | |
sollte ein Warnschuss für alle Rechtspositivisten sein, die glauben, dass | |
Gesetze wirksam Normen setzen könnten, denen auch ein Machtapparat (im | |
Zweifelsfall mit anwaltlicher Hilfe) brav Folge leisten würde. | |
Genauso ist die datengestützte Geheimdiensttätigkeit Anlass zur Sorge für | |
jene, die formal wie inhaltlich zu stark von der statistischen Norm | |
abweichend kommunizieren, reisen, kurz: leben. Im Zweifelsfall werden sie | |
sich nicht unbedingt auf den Schutz durch die Mehrheit verlassen können. | |
Ihre Ohnmacht gegenüber staatlichem Zugriff ist real und keineswegs ein | |
Hirngespinst. | |
Die so bestehende Benachteiligung von gewählten und zufälligen | |
Minderheitenpositionen und die mangelnden Aufstände dagegen demonstrieren, | |
wie unsolidarisch unsere Gesellschaft konstituiert ist. Das zu ändern ist | |
keine Frage guter Anwälte oder ausgefuchster Kryptografie (wenn auch beides | |
[12][seinen praktischen Nutzen] haben kann), sondern eine von | |
[13][politischem Willen und Durchsetzungsfähigkeit]. | |
14 Jul 2013 | |
## LINKS | |
[1] http://twitter.com/ioerror | |
[2] http://vimeo.com/69570248 | |
[3] /!119179/ | |
[4] /!119344/ | |
[5] http://jetzt.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/572852/Was-heisst-hier-nichts-z… | |
[6] http://www.theregister.co.uk/2013/07/08/texas_teen_jailed_for_facebook_comm… | |
[7] /!118058/ | |
[8] http://www.theregister.co.uk/2013/07/06/it_design_youre_not_data_youre_a_hu… | |
[9] http://www.faz.net/aktuell/hans-peter-friedrich-und-die-nsa-affaere-geheimd… | |
[10] http://mspr0.de/?p=3624 | |
[11] http://www.zeit.de/politik/deutschland/2013-07/interview-zeit-merkel-nsa | |
[12] /Technikphilosoph-ueber-Spaehprogramme/!119636/ | |
[13] /!119463/ | |
## AUTOREN | |
Daniél Kretschmar | |
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