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# taz.de -- Folgen der NSA-Enthüllungen: Am idealen Gefängnis bauen
> Die Botschaft ist eindeutig: Die Geheimdienste wissen alles. Aber was
> folgt daraus für die Überwachten – Durchschnittsbürger wie Terroristen?
Bild: Wo das ideelle Gefängnis zur physischen Realität wird: Guantanamo.
„America knows everything“ – Amerika weiß alles. Das bekommt Johannes
Niederhauser von einem US-Grenzbeamten ins Gesicht gesagt. Der junge
Hobbymusiker und gelegentliche Autor für das Vice-Magazin hatte
nachgefragt, woher der Beamte bestimmte Informationen über ihn habe. Am
Flughafen in Minneapolis wurde er [1][nach eigenen Angaben über mehrere
Stunden verhört] – und dann nach Europa abgeschoben.
Wenigstens ist er nicht in einem kenternden Boot auf hoher See sich selbst
überlassen worden. So kann Niederhauser sich über seine vergleichbar
privilegierte Ausgangssituation noch freuen und dann ein wenig fluchen über
die Unbequemlichkeit eines verwehrten Grenzübertritts. Dass aber ein
beliebiger Grenzposten persönlichste Daten (darunter mutmaßlich den Inhalt
privater Emails) anscheinend auf Knopfdruck abrufen kann, darüber sollte
Niederhauser sich ernsthaft Sorgen machen.
Totale Überwachung hat nämlich nicht nur den praktischen Auftrag Daten zu
sammeln und auszuwerten. Darüber hinaus sendet ihre Existenz alleine auch
eine Botschaft. „America knows everything“ – das ist die Botschaft der NSA
an den Rest der Welt. Ob deutsche Sicherheitsbehörden sich nur bescheidener
geben oder tatsächlich signifikant weniger wissen als ihre amerikanischen
Partnerdienste wissen wir nicht.
Überhaupt wissen wir sehr wenig. [2][Andy Müller-Maguhn] ([3][CCC]), der
den Spiegel in Bezug auf die Snowdenfiles berät, schätzt ein, dass „etwa 5
%“ des Materials bisher veröffentlicht seien. Er verweist auf eine
[4][Webseite, die halbernst vorrechnet], dass bei der aktuellen
Publikationsgeschwindigkeit vom Guardian et al noch gut 26 Jahre bis zur
kompletten Offenlegung vergehen würden.
## Beispiellose Hetzkampagne
Zurückgehalten werden von den beteiligten Medien unter anderem solche
Daten, die nach ihrer Einschätzung Einzelpersonen und operative Vorgänge
gegen terroristische Organisationen gefährden. Doch selbst diese
vorsichtige Publikationspolitik ist den Geheimdiensten und regierungstreuen
britischen Medien noch viel zu weitgehend.
[5][In einer beispiellosen Kampagne] beschreiben sie den Guardian als eine
Bande vaterlandsloser Gesellen, die keinen Gedanken an die Sicherheit
Großbritanniens verschwendeten. [6][Eine Solidaritätsnote internationaler
Zeitungen] für das Hausblatt der liberalen und sozialdemokratischen
britischen Linken folgte prompt.
Der Gedanke, dass der Enthüllungen nun langsam mal genug sei, ist nicht
ganz neu und wurde [7][schon eher, auch von liberaler Seite, geäußert].
Tatsächlich stellt sich abseits ohnehin fragwürdiger sicherheitspolitischer
Abwägungen die Frage: Welchen Zweck kann die ausgewählte Veröffentlichung
einzelner Dokumente noch verfolgen. Die Kernbotschaft dürfte inzwischen
überallhin durchgedrungen sein.
Johannes Niederhauser jedenfalls hat die Botschaft am Flughafen in
Minneapolis verstanden. „America knows everything.“ Er beschreibt wie ihn
seit dem Erlebnis Übelkeit beim Anblick von Uniformierten überkommt, wie
Angstschweiß ihn selbst auf einem innereuropäischen Flug plagt.
Angst, Übelkeit, Ohnmacht: Dafür braucht es nicht einmal die unmittelbare
Konfrontation mit der Macht. Paradoxerweise genügt es völlig, die Sektion
„[8][The NSA Files]“ im Guardian zu lesen. Eine bessere PR kann der
disziplinierende Staat kaum bekommen.
## Permanente Selbstkontrolle
Michel Foucault greift die [9][Idee des Panopticons], des idealen, weil
effizienten, Gefängnisses auf und wendet sie als Modell zur Beschreibung
der westlichen Gesellschaft an. Die Insassen des Gefängnisses können
jederzeit beobachtet werden, ohne zu wissen, ob sie im konkreten Moment im
Blick des Wärters sind. Der sitzt in seinem Turm (oder eben gerade nicht),
und seine Arbeit, die Disziplinierung der Insassen wird von denen selber
erledigt. Aus Angst vor der Überwachung und folgender Sanktionen bei
Regelverletzungen internalisieren sie den Überwacher. Es ist ein perfektes
System der permanenten Selbstkontrolle.
Das ganze funktioniert natürlich nur dann, wenn beim Insassen ein
Bewusstsein für die Überwachung besteht. Er muss wissen, dass da der Turm
ist, von dem aus theoretisch alles gesehen wird. Erst dann erfüllt die
Sicherheitsarchitektur ihren Zweck. Daher auch das Paradox der
Snowdenenthüllungen: Alles was sie uns bis jetzt mitgeteilt haben, ist,
dass da dieser Turm ist. Willkommen im idealen Gefängnis, das selbst noch
den dissidenten Akt der Enthüllung zweckdienlich absorbieren kann.
So stellt sich weniger die Frage danach, wo die öffentliche Empörung über
die enthüllte Totalüberwachung bleibt. Vielmehr ist zu klären, ob Menschen
ihr Handeln ändern, ob Dinge bereits ungesagt bleiben, aus Sorge den
Apparat für spätere Attacken mit Informationen zu bewaffnen. Solange die
geheime Überwachungsmaschinerie zumindest den Eindruck ihrer Totalität
vermittelt, ist diese Sorge schließlich nicht völlig aus der Luft
gegriffen.
Insofern muten die gebetsmühlenartig wiederholten Bekenntnisse auch
geheimdienstkritischer Publikationen zur Notwendigkeit der
Geheimdiensttätigkeit im Kampf gegen den internationalen Terrorismus
kurzsichtig an. Der Turm, der den unkontrollierten Einblick gewährt, ist
nicht gesetzlich regulierbar oder demokratisch zu kontrollieren. Er wird,
solange er da ist, zu Recht als Bedrohung wahrgenommen und beeinflusst so
das Leben der potentiell Überwachten. Für die geheime Überwachung gilt in
jeder Ausprägung, dass die Angst davor und der so erzeugte Anpassungsdruck
immer umfassend sind.
## Eine schöne homogene Gesellschaft
Dass, ganz nebenbei, „den“ Terroristen mit bekannten Überwachungsmethoden
ohnehin nicht beizukommen ist, [10][beschreibt neben vielen anderen der
Schriftsteller John Lanchester]. Auch ohne die Enthüllungen Snowdens war
sich Bin Laden, immerhin der meistgesuchte Terrorverdächtige der Welt, der
Überwachung so gewiss, dass er nicht einmal ein Festnetztelefon auf seinem
Grundstück im pakistanischen Abbottabad duldete.
Gegen wen kann sich die Überwachung also nur richten, wenn alle „Bösen“
schon längst wissen, dass sie nur in der Masse untertauchen müssen, um
nicht aufzufallen? Gegen wen? Wo wir anderen doch das selbe tun, und sei es
nur, um bei der Urlaubsfahrt zum Grand Canyon nicht nach Europa
zurückgeschickt zu werden. So bilden wir gemeinsam mit Verbrechern, Spionen
und Hobbymusikern eine schöne homogene Gesellschaft ohne Abweichungen, ohne
Reibung, ohne Dissens.
Welche Unterscheidungskriterien bleiben unseren Sicherheitsbehörden dann
aber noch, um aus dem unendlichen Datenmaterial, das letztlich nur ein
gleichförmiges Grundrauschen abgibt, Verdächtige herauszufiltern und so den
gewaltigen Apparat zu rechtfertigen? Die Religionszugehörigkeit vielleicht?
Die Hautfarbe? So füttern wir als Gesellschaft Geheimdienste und
Sicherheitsapparate durch und verschwenden Milliarden für Technologien, die
am Ende doch nur unsere Angst vor allen Anderen und Fremden bestätigen. Die
Endstationen für diese Anderen heißen dann Guantanamo und Lampedusa.
Am idealen Gefängnis, der homogenen Spießerhölle inklusive Einreiseverbot
für die Unerwünschten, können wir sicherlich billiger bauen als es NSA und
BND tun. Teurer, aber einer freien Gesellschaft angemessener, dürfte es
sein, das Licht in die Mitte des Panopticons zu richten und den Turm, der
da steht, voll auszuleuchten – um ihn schließlich einzureißen. Darauf
möchte man zwar keine 26 Jahre warten, aber [11][manchmal ist Geduld eben
alles].
20 Oct 2013
## LINKS
[1] http://www.vice.com/de/read/america-knows-everything
[2] http://de.wikipedia.org/wiki/Andy_M%C3%BCller-Maguhn
[3] http://berlin.ccc.de/~andy/
[4] http://cryptome.org/2013/10/26-years-snowden.htm
[5] http://www.theguardian.com/media/greenslade/2013/oct/09/theguardian-edward-…
[6] http://www.spiegel.de/netzwelt/netzpolitik/nsa-abhoerskandal-britische-zeit…
[7] http://www.slate.com/articles/technology/future_tense/2013/09/nsa_surveilla…
[8] http://www.theguardian.com/world/the-nsa-files
[9] http://de.wikipedia.org/wiki/Panopticon
[10] http://www.theguardian.com/world/2013/oct/03/edward-snowden-files-john-lan…
[11] http://www.jugendopposition.de/index.php?id=216
## AUTOREN
Daniél Kretschmar
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