| # taz.de -- Essay zur Großen Koalition: Der Schlaf der Demokratie? | |
| > Eine Große Koalition kann erfahrungsgemäß ganz agil sein – wenn die | |
| > Opposition ihre Chancen ergreift. Die Not- sollte aber keine Dauerlösung | |
| > werden. | |
| Bild: Gab es alles schon mal: eine große Koalition ist wahrscheinlich | |
| BERLIN taz | Wahrscheinlich wird Deutschland demnächst von einer Großen | |
| Koalition regiert – mangels Alternative. Die Grünen haben sich im Wahlkampf | |
| links von der SPD positioniert. Nun in einem jähen Reißschwenk mit CDU und | |
| CSU zu koalieren, wäre mehr als gewagt. Es wäre eine Überrumpelung der | |
| eigenen Klientel mit roher, opportunistischen Machtpolitik. Zudem scheint | |
| CSU-Mann Horst Seehofer bis zur letzten Patrone gegen ein schwarz-grünes | |
| Bündnis kämpfen zu wollen. | |
| Schwarz-Grün und erst recht Rot-Rot-Grün sind interessanter, auch weil sie | |
| den Reiz des Neuen haben – realistisch sind sie noch nicht. Die Große | |
| Koalition scheint also die letzte Ausfahrt vor Neuwahlen zu sein – und die | |
| will jenseits von FDP und AfD niemand. | |
| Die Große Koalition ist das, was immer geht, wenn andere Mehrheiten | |
| blockiert sind. Sie ist die Rückversicherung des parlamentarischen Systems | |
| für den Ausnahmefall. Was spricht also gegen eine Allianz von Angela Merkel | |
| und Sigmar Gabriel? Es gibt drei prinzipielle, immer wieder variierte | |
| Einwände gegen eine Regierung von Christ- und Sozialdemokraten. Der erste | |
| lautet: Die Große Koalition ist eine unzulässige Machtansammlung, die die | |
| checks and balances des politischen Systems aushebelt und die Demokratie | |
| lahmlegt. | |
| Das ist ein gewichtiges Argument. | |
| ## Furcht aus den 60er Jahren | |
| Aber stimmt es? Die Furcht, dass die Große Koalition antidemokratische | |
| Nebenwirkungen hat, stammt aus den sechziger Jahren. Damals, 1966 bis 1969, | |
| war die FDP die einzige, verschwindend kleine Opposition im Parlament. | |
| Zudem spielten Union und SPD mit der Idee, ein Mehrheitswahlrecht | |
| einzuführen. Damit wären die Liberalen kalt zerstört worden, SPD und Union | |
| hätten ihre Macht auf Jahrzehnte hin zementiert. | |
| Die Große Koalition wurde, auch wegen der Notstandsgesetze 1968, zum Symbol | |
| für die Furcht, dass die Deutschen mit der geschenkten Demokratie doch | |
| nichts anfangen konnten. Das ist heute ein historisches Detail. Und auf die | |
| Große Koalition folgte 1969 nicht Lethargie, sondern Aufbruch. Willy Brandt | |
| lüftet den erstarrten CDU-Staat gründlich durch. | |
| Auch die Merkel-Müntefering-Regierung versetzte die Demokratie keineswegs | |
| ins Koma. Es gab eine schillernde, wache Opposition. Die Linkspartei | |
| rechnete der SPD gnadenlos ihre Fehler vor, die Liberalen traten als | |
| gläubige Marktradikale auf, die von sieben Jahren Schröder/Fischer | |
| erschöpften Grünen brauchten Zeit,um sich zu sammeln. Es gab von 2005 bis | |
| 2009 kein autoritäres Durchregieren, keine machtarrogant von oben | |
| verordnete Grundgesetzänderungen, keinen Schlaf der Demokratie. | |
| Große Koalitionen verdienen, wegen ihrer Machtfülle, mehr Misstrauen. Das | |
| stimmt ganz besonders diesmal. Denn die Opposition, die nur noch aus | |
| Linkspartei und Grünen bestehen würde, wäre bedenklich schwach. Sie hätte, | |
| weil sie weniger als ein Viertel der Abgeordneten stellt, noch nicht mal | |
| das Recht, einen Untersuchungsausschuss und eine Sondersitzung zu | |
| beantragen. Deshalb muss die Geschäftsordnung des Bundestags geändert | |
| werden: Gerade eine Große Koalition braucht eine handlungsfähige, | |
| schlagkräftige Opposition. Ob Union und SPD das begreifen, wird ein erster | |
| Lackmustest. | |
| ## Immobil war die Merkel-Müntefering-Regierung nicht | |
| Der zweite Einwand lautet: Die Große Koalition ist unkreativ und verwaltet | |
| nur den Stillstand. | |
| Doch die Bilanz der Merkel-Müntefering-Regierung war so mies nicht. Es | |
| stimmt: In der Gesundheitspolitik entstand aus gegensätzlichen Ideen, der | |
| neoliberalen Kopfpauschale der Union und der egalitären Bürgerversicherung | |
| der SPD, ein seltsames Drittes: der Gesundheitsfonds. Mit dem wurde niemand | |
| froh. Doch in der Familienpolitik, bei Elterngeld und Vätermonaten, | |
| schwenkte die Union auf rot-grünen Kurs ein. Offenbar erleichterte die | |
| Große Koalition der Union den Abschied von ihrem vermufften Familienbild. | |
| Vor allem: In der Krise 2008 setzte die SPD gegen die zögernde Kanzlerin | |
| Kurzarbeitergeld und ein groß angelegtes, antizyklisches | |
| Investitionsprogramm durch. Beides erwies sich als effektives, nötiges | |
| Mittel. Eine schwarz-gelbe Bundesregierung wäre dazu nicht in der Lage | |
| gewesen. Und ob Rot-Grün ein Programm, das als Linksetatismus hätte | |
| denunziert werden können, durchgesetzt hätte, ist fraglich. | |
| Kurzum: Immobil war die Merkel-Westerwelle-Regierung, nicht ihr Vorgänger. | |
| Ein Bündnis von Union und SPD ist nicht zwingend statisch, satt, | |
| selbstzufrieden. | |
| ## Kollateralschäden der Alternativlosigkeit | |
| Der dritte Einwand lautet: Eine Große Koalition ist eine Nährlösung für | |
| rechtspopulistische Parteien. Claus Leggewie führt das Beispiel Österreich | |
| an. Dort ist nach Jahrzehnten der Großen Koalition ein klientelistisches | |
| System gewachsen, gegen das Rechtspopulisten erfolgreich agitieren. In | |
| Österreich lassen sich die Kollateralschäden einer politischen Kultur ohne | |
| Alternative besichtigen, in der das Bündnis von Christ- und | |
| Sozialdemokraten auf Dauer gestellt wurde. Nur: Berlin ist nicht Wien. Und | |
| wer eine Flasche Wein trinkt, ist noch kein Alkoholiker. | |
| Rechtspopulisten sitzen in fast allen Nachbarländern Deutschlands in den | |
| Parlamenten. Mit dem unheilvollen Wirken Großer Koalitionen hat der | |
| EU-weite Aufstieg des Rechtspopulismus eher am Rande zu tun. Die Gleichung | |
| Große Koalition gleich schlagkräftige rechtspopulistische Parteien geht | |
| jedenfalls nicht auf. | |
| Welche Regierung eher geeignet ist, die Alternative für Deutschland aus dem | |
| Parlament zu halten, ist eine Frage wert. In der AfD sammeln sich | |
| Konservative, Gegner der Homoehe und des Feminismus. Sie fürchten | |
| Überfremdung durch Migranten und sehnen sich nach mehr Law and Order und | |
| einer noch nationalistischeren Europolitik. | |
| Die AfD ist Sammelbecken für Merkel-Opfer, denen die vorsichtige | |
| Liberalisierung der Union in Lebensstilfragen zu weit geht. Dass die Union | |
| diese Abspaltungstendenzen ausgerechnet in einem Bündnis mit den Grünen in | |
| den Griff bekommen wird, ist eine recht kühne Vermutung. | |
| ## Bloß nicht erstarren | |
| Allerdings gibt es eine Lähmungsgefahr, die eine Große Koalition zwar nicht | |
| verursacht, aber womöglich verstetigt: Das politische System steuert auf | |
| eine Blockade zu. Es spricht viel dafür, dass weder Rot-Grün noch | |
| Schwarz-Gelb künftig Mehrheiten bekommen. Im linken Lager müssen SPD und | |
| Linkspartei ihre ins Hysterische gesteigerten Antipathien aufgeben und | |
| regierungsfähig werden, während die Grünen künftig auch mit der Union | |
| regieren können müssen. | |
| Denn sonst droht in der Tat eine Erstarrung, eine dauerhaft erzwungene | |
| Große Koalition. Dafür brauchen Linkspartei und Grüne einige politische | |
| Kunstfertigkeit: die Opposition zu Schwarz-Rot zu sein, um gleichzeitig | |
| neue Anschlussfähigkeiten herzustellen. | |
| Es gibt derzeit keinen triftigen Grund, die Große Koalition zu | |
| dämonisieren. Sie wird zudem nur zustande kommen, wenn die Union bereit | |
| ist, dafür einen hohen Preis zu zahlen. Die SPD muss fordernd auftreten. | |
| Nur so kann sie zumindest die Hoffnung bewahren, dass sie bei den nächsten | |
| Wahlen nicht wieder so hart bestraft wird wie 2009. Die SPD muss deshalb | |
| ihre sozialen Kernforderungen durchsetzen: Mindestlohn, moderat höhere | |
| Steuern für Reiche, Solidarrente. | |
| Obwohl die SPD, anders als 2009, nun die entschieden kleinere Kraft in | |
| dieser Koalition wäre, sind die Ausgangsbedingungen für sie etwas günstiger | |
| als 2005. Damals setzte Franz Müntefering mit der Rente mit 67 halsstarrig | |
| die Agenda-Politik fort. Und als Erstes brach die SPD damals dreist ihr | |
| Versprechen, die Mehrwertsteuer nicht zu erhöhen. | |
| Die Sozialdemokraten scheinen endlich begriffen zu haben, dass sich kalte | |
| Verachtung der eigenen Klientel nicht auszahlt. Wenn die Sozialdemokraten | |
| es also geschickt anstellen, bringen sie Merkel in ein paar Kernfragen auf | |
| ihren Kurs. Die elastische Haltung der Union bei der Erhöhung des | |
| Spitzensteuersatzes deutet in diese Richtung. | |
| Es gibt Schlimmeres als eine von Merkel geführte Regierung, in der die SPD | |
| – zumindest für Erste – den Ton vorgibt. | |
| 28 Sep 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Stefan Reinecke | |
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