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# taz.de -- Kommentar Grüne Wahlkampffehler: Das Richtige falsch verkauft
> Die Grünen traten mit dem ehrlichsten Programm an und wurden bestraft.
> Ihr Problem: Sie hatten keine schlüssige Erzählung für das breite
> Publikum.
Bild: Wahlkampf mit Grünen-Frontmann Jürgen Trittin: Zu viele technische Deta…
Sind die Steuerpläne schuld am Absturz der Grünen, wie es
Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann kritisiert? Ja.
Und nein. Es ist kompliziert.
Empirisch haltbar ist die Behauptung zunächst nicht. Der mediale
Scheinwerfer richtete sich zum ersten Mal Ende April voll auf das Steuer-
und Finanzkonzept, vor und nach dem Programmparteitag der Grünen.
Kretschmann wetterte in einem großflächigen Interview gegen die eigenen
Pläne, andere Grüne machten begeistert mit. Sie gaben so die willkommenen
Kronzeugen für CDU, FDP und marktliberal orientierte Journalisten. Die
Wähler störte das kaum, die Grünen legten in Umfragen leicht zu.
Was dann folgte, war eine monatelange, hemmungslose Kampagne von
Lobbyverbänden und interessierten Medien, welche die moderaten Belastungen
für wenige Gutverdiener in eine Attacke auf die gesamte Mittelschicht
umdeuteten.
Die allermeisten Grünen verstanden die Welt nicht mehr. Moment, sie waren
doch immer die Guten gewesen? Eben noch lagen sie mitten im ökologisch
denkenden Mainstream, im Bio Company-Gefühl, von allen geliebt und
geschätzt. Eben noch träumten sie von kuscheligen 15 Prozent, nicht ganz
Volkspartei, aber doch beinahe. Und plötzlich wurden sie als Vernichter des
bundesdeutschen Wohlstandes angefeindet.
## Selbstzweifel und Einsamkeit
Auf diese brutale Schärfe war die Partei schlecht vorbereitet. Es fehlten
grüne Experten - welcher Landespolitiker macht schon Steuerpolitik? Es
fehlten aber auch strategische Partner.
Die Gewerkschaften blieben stumm. Von der Linkspartei, die ähnliches will,
grenzten sich die Grünen früh ab, denn mit Linken spricht man nicht. Nie.
Auch zivilgesellschaftliche Bündnisse wie „umFAIRteilen“ begriffen die
Grünen zu wenig als freundschaftliche Partner.
Am wenigsten überraschend war noch, dass der zu Stimmungswechseln neigende
SPD-Chef am Ende seine Abneigung gegen Belastungen für Gutverdiener
entdeckte. Plötzlich standen die Grünen sehr alleine da.
Selbstzweifel, Einsamkeit und sehr entschlossene Feinde, das ist eine
ungute Mischung. Zumal der politische Gegner offenbar die Grünen als
entscheidenden Hebel entdeckte, um eine Mehrheit links der Mitte zu
verhindern. Die Sozialdemokratie erledigte das ja von selbst.
Das strategische Tableau der Grünen, das von Anfang an auf einer wenig
aussichtsreichen Machtoption, nämlich einer tief verunsicherten SPD
basierte, war diesem Ansturm nicht gewachsen. Deshalb ist es richtig, wenn
die Grünen die Strategiefrage jetzt neu diskutieren. Es ist höchste Zeit.
Sie sollten sich nur in alle Richtungen öffnen, nach links und in die
Mitte, und sich nicht in den uralten Kämpfen festbeißen, ob nun
ausschließlich die Schwarzen oder die Dunkelroten genehm seien. Solche
Scheindebatten sind im Jahr 2013 nicht mehr zeitgemäß.
## Grüne waren zu ehrlich
Zurück zu den Steuern: Angesichts der bösen Gemengelage haben sich die
Grünen ganz gut gehalten, sie gewannen diesen Kampf zumindest
intellektuell. Wirtschaftsforscher und Fachjournalisten bestätigten die
Sicht, die grüne Spitzenleute - übrigens: nicht nur Jürgen Trittin -
mantrahaft vortrugen.
Die grünen Steuerpläne entlasten den allergrößten Teil der Menschen, sie
ermöglichen mehr Investitionen in Schulen, Kitas oder in die Energiewende.
Sie sind fair und richtig.
Doch dann begingen die Grünen einen Fehler, der absurd klingt, aber wichtig
ist. Sie waren einfach zu ehrlich. Ihre Spitzenkräfte stürzten sich in
Detaillistisches, sie dozierten über „die Abschmelzung des
Ehegattensplittings“, über Fachbegriffe also, die sowohl Journalisten
überforderten als auch die Mittelschichtsfamilie in Freiburg oder anderswo.
Bei Normalverdienern der bürgerlichen Mitte blieb ein Gefühl übrig, das mit
der Realität nichts zu tun hatte. „Die meinen mich!“ Und gegen Gefühle
kommt die Trittin'sche Rationalität, die immer etwas Oberlehrerhaftes hat,
nicht an.
Auch das letzte Argument der Grünen, man sei wenigstens ehrlich, wirkt
kümmerlich, wenn nebenher eine Pädophilie-Debatte den eigenen moralischen
Anspruch zertrümmert.
Bei dieser Wahl haben die Grünen brutal einen Effekt zu spüren bekommen,
den die taz-Autorin Ulrike Herrmann gut analysiert hat („Hurra, wir dürfen
zahlen“, Westend-Verlag): Die Mittelschicht sieht sich in Deutschland als
Teil der Elite. Und sie neigt dazu, sich mit der Oberschicht zu
solidarisieren, während sie sich von der Unterschicht abgrenzt. Umgekehrt
sieht sich die ökonomische Oberschicht als Teil der Mitte. Mitte, das will
in Deutschland jeder sein.
## Merkels Wohlfühl-Versprechen verfing
Man darf also zuspitzen: Die Familie in Freiburg, zwei Kinder, 70.000 Euro
brutto im Jahr, die den Grünen ihre Stimme wegen der Steuerpläne
verweigerte, wurde von sehr gut verdienenden Meinungsmachern für ihre
Interessen instrumentalisiert.
Die massive Wählerwanderung von den Grünen zur CDU (420.000 Stimmen)
liefert einen Hinweis darauf, dass die Furcht vor dem Griff in die eigene
Tasche durchaus eine Rolle spielte. Sie liefert übrigens auch einen Hinweis
darauf, dass die Energiewende längst nicht mehr als Alleinstellungsmerkmal
für die Grünen funktioniert, aber das ist ein anderes Thema. Mit der CDU
ändert sich nichts, dieses wolkige Wohlfühl-Versprechen der Kanzlerin
verfing.
Den Grünen kann nun man vorwerfen, dass sie zu sehr einen
Arbeiterklassen-Sound bedienten, der an der zufriedenen Mitte vorbei
zielte, wie es Ex-Außenminister Joschka Fischer tut. Aber man kann ihnen
nicht vorwerfen, sie hätten die falschen Konzepte entwickelt. Ihr Programm
war komplett gegenfinanziert, es war präzise und ja, es war auch mutig.
Das ist eine erschütternde Erkenntnis dieser Wahl. Die Grünen traten mit
dem ehrlichsten Programm an, und sie wurden dafür am härtesten bestraft.
Eine solche Mechanik passt gut in postdemokratische Verhältnisse, sie ist
aber für eine so papierverliebte Partei, wie es die Grünen sind,
katastrophal.
## Bitte keine Details
Die Wähler wollen es offenbar nicht so genau wissen. Sie möchten nicht
gequält werden mit Details. Die Grünen müssen von Angela Merkel lernen, so
verrückt das klingt. Etwas unschärfer bleiben, das Schmerzhafte nur
andeuten, und es dann im Zweifel einfach tun. Merkels CDU macht es bei den
Steuern ja gerade wieder vor.
Als wichtigste Erkenntnis des Grünen-Debakels bleibt jedoch etwas anderes.
Die Menschen wollen von Politik vor allem ein Versprechen. Sie wollen, dass
durch Politik etwas besser wird in ihrem Leben. Die Grünen haben auf 327
Seiten ein sehr gutes Programm aufgeschrieben, wissend, dass die niemand
lesen würde.
Aber sie hatten keine schlüssige Erzählung für das breite Publikum. Die
Story fehlte. Die Grünen verkauften ein wirres Puzzle, etwas technische
Energiewende hier, etwas Bildung da, etwas Soziales dort.
Nur eine einzige Sache haben sie den Wählern wirklich ausführlich erklärt -
wie teuer dieses Puzzle ist.
26 Sep 2013
## AUTOREN
Ulrich Schulte
## TAGS
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