# taz.de -- Debatte Grüne Inhalte: Fetisch Energiewende | |
> Winfried Kretschmann will eine Verengung aufs Ökologische. Nebenbei will | |
> er das Steuerkonzept seiner Partei begraben. Das ist einigermaßen | |
> verrückt. | |
Bild: Zweimal Realo - immer Realo. | |
Dass die Grünen in konvulsivischen Zuckungen ihr altes Spitzenpersonal | |
abgeschüttelt haben, verstellt den Blick auf die eigentlich wichtige Frage: | |
Müssen sich die Grünen inhaltlich ganz neu verorten? Die lautesten Rufe | |
nach Veränderung kommen aus Baden-Württemberg, also von dem Landesverband, | |
der mit Recht seit Jahren fordert, die Bundespartei müsse seine Wahlsiege | |
in der bürgerlichen Mitte stärker würdigen. | |
Winfried Kretschmann hat auf dem Länderrat am Wochenende eindringlich für | |
einen radikalen Kurswechsel geworben. Er möchte die Partei auf die | |
ökologische Transformation aller Lebensbereiche fokussieren. Die | |
Energiewende soll das zentrale Projekt sein, dem anderes untergeordnet | |
würde. Dabei müssten die Grünen die Wirtschaft als Partner begreifen, nicht | |
als Feind, forderte Kretschmann. „Nichts im Übermaß!“ Mit diesem Sinnspru… | |
des Orakels von Delphi erklärte er die eigenen Steuerpläne für unsinnig. | |
Weniger Zumutungen für die Wirtschaft und Gutverdiener, weniger | |
Konfrontation, mehr Versöhnung. Kretschmann möchte, dass die Grünen die | |
Mitte umarmen, nicht quälen. Und zusammen mit Unternehmen ein wunderschönes | |
Deutschland bauen, das der ganzen Welt zeigt, wie die Energiewende wirklich | |
funktioniert. | |
Leider hat diese Vision ein paar Webfehler. Um sie zu verstehen, ist | |
notwendig, das viel gescholtene Finanzkonzept kurz zu erklären. Der | |
scheidende Jürgen Trittin schob es an, die gesamte Partei stellte sich | |
dahinter. Mit gutem Grund: Erstmals in ihrer Geschichte setzten die Grünen | |
auf haushälterische Seriosität. Alle Wünsche sind gegenfinanziert, durch | |
Subventionskürzungen, aber auch durch Belastungen für Gutverdiener. | |
Trittins Vermächtnis verknüpft Einnahmen und Ausgaben logisch miteinander. | |
## Dann fehlt das Geld | |
Bei Kretschmanns Werbung für den Kurswechsel ist entscheidend, was er nicht | |
sagt. Für seine Hinwendung zur Mitte müssten die Grünen ihre Steuerpläne | |
drastisch entschärfen. Wie, das haben die Wirtschaftsverbände im Wahlkampf | |
mantraartig wiederholt: Die Vermögensabgabe müsste weg, die Erhöhung von | |
Erbschafts- und Abgeltungssteuer auch. Der Spitzensteuersatz wäre | |
verhandelbar; er hat nur symbolischen Wert und produziert kaum relevante | |
Staatseinnahmen. | |
Dann aber fehlte den Grünen in ihrem Finanzkonzept ein zweistelliger | |
Milliardenbetrag. Was dann? Neue Schulden? Das wäre angesichts der | |
Schuldenbremse so gar nicht realpolitisch. Bei der Bildung kürzen? Uncool. | |
Bei der Energiewende? Quatsch, das ist ja der Markenkern. Bleibt das | |
Soziale. Das ist der letzte große Kostenblock, den die Grünen auf sechs | |
Milliarden Euro taxieren – und der einen Aufschlag für Hartz-IV-Bezieher | |
und die Garantierente beinhaltet. | |
Die erste Binsenweisheit, die Kretschmann verschweigt, lautet also: Wer der | |
Wirtschaft oder der ökonomischen Oberschicht weniger zumuten will, muss bei | |
anderen sparen. Zum Beispiel bei der Supermarktverkäuferin, die 40 Jahre an | |
der Kasse saß und im Alter nicht mehr als das Existenzminimum bekommen | |
wird. Oder bei der langzeitarbeitslosen Alleinerziehenden, die sich am Ende | |
des Monats das Gemüse für ihr Kind bei der Tafel besorgt, weil das Geld | |
nicht reicht. | |
Selbstverständlich können die Grünen hoffen, dass solch lästige Themen der | |
jeweilige Koalitionspartner erledigt. Und wahrscheinlich wäre ein solcher | |
Kurs auch für ein paar mehr Prozentpunkte gut, weil die Verkäuferin im | |
Zweifel sowieso nicht grün wählt. Doch das Beispiel zeigt, dass es bei dem | |
Richtungsstreit auch um das Grundverständnis der Partei geht. Sind die | |
Grünen eine Scharnierpartei in der Mitte, die sich exklusiv auf Ökologie | |
konzentriert? Oder stehen sie, breiter aufgestellt, links davon? | |
## Gefahr der Themenverengung | |
Wie zerstörerisch die inhaltliche Verengung einer Partei wirken kann, hat | |
die FDP eindrucksvoll vorgeführt. Es wäre fahrlässig, würden die Grünen ihr | |
komplettes Finanzkonzept ausgerechnet in dem Moment über Bord werfen, in | |
dem der Gegner erkennt, dass er ohne Steuererhöhungen nicht auskommen wird | |
– siehe CDU. | |
Und dennoch: Seit dem 22. September gibt es keine einfachen Antworten mehr | |
für die Partei. Grüne, die jetzt das komplizierte Steuerinstrumentarium für | |
sakrosankt erklären, obwohl es viele Menschen nicht verstanden haben, gehen | |
ebenso in die Irre wie Grüne, die den Fokus allein auf die ökologische | |
Transformation legen wollen. Es gibt aber noch ein weiteres Argument gegen | |
die Fetischisierung der Energiewende à la Kretschmann. | |
Die Grünen haben 420.000 WählerInnen an die CDU und 550.000 an die SPD | |
verloren. Weder die Christdemokraten noch die Kohlefreunde in der SPD | |
werden die Energiewende wirklich forcieren. Das heißt: Entweder war den | |
Ex-Grünen-Wählern das Projekt nicht so wichtig oder sie hatten das Gefühl, | |
es werde im Jahr 2013 sowieso von allen gewollt. | |
Beide Deutungen sind für die Grünen katastrophal. Diese Wahl hat also nicht | |
nur gezeigt, dass finanzielle Umverteilung in einem Wahlkampf nicht zu | |
verkaufen ist, selbst wenn sie vernünftig kalkuliert wurde. Sie hat auch | |
gezeigt, dass der Kampf für die Energiewende nicht mehr als | |
Alleinstellungsmerkmal für die Grünen taugt. Beim Atomausstieg war das | |
anders, da konnten sie sich noch darauf verlassen, das Original in der | |
politischen Landschaft zu sein. | |
## Die Lebewelt der Durchschnittsfamilie | |
Die Durchschnittsfamilie aus der Mittelschicht will, dass ihr Strom öko | |
ist, dass die Heizung sauber läuft und dass das Auto wenig Sprit | |
verbraucht. Technische Feinheiten wie die EEG-Umlage oder der Netzausbau | |
berühren nicht ihre Lebenswelt. Die CDU hat das erkannt und über | |
Strompreise geredet. Die Grünen hatten auf diese Simplifizierung keine | |
Antwort. | |
Die Energiewende ist eines der wichtigsten Projekte des 21. Jahrhunderts, | |
aber sie ist kein Garant für grünen Erfolg beim Wähler. Zudem wird es bis | |
2017 größtenteils geregelt sein, wenn auch nicht im grünen Sinne. | |
Angesichts dieser Lage eine neue Partei zu basteln, die komplett auf die | |
Energiewende setzt, ist einigermaßen verrückt. Kretschmann sollte bei | |
seinen Interventionen den Merksatz beherzigen, den er so gerne zitiert: | |
Nichts im Übermaß. | |
30 Sep 2013 | |
## AUTOREN | |
Ulrich Schulte | |
## TAGS | |
Bündnis 90/Die Grünen | |
Winfried Kretschmann | |
Energiewende | |
Energie | |
Grüne | |
Politik | |
Realos | |
Grüne | |
Grüne | |
Grüne | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Reformvorschlag zur Energiepolitik: Hoher Strompreis? Super! | |
Umweltberater der Bundesregierung wollen Kohlekraftwerke stilllegen. Dafür | |
nehmen sie höhere Belastungen für den Verbraucher in Kauf. | |
Kolumne Macht: Grüne Niedertracht | |
Jürgen Trittin ist nach der Wahlniederlage der Grünen wie ein Aussätziger | |
behandelt worden. Und zwar von seiner eigenen Partei. | |
Kolumne Gott und die Welt: Armut im Ökoparadies | |
Die Grünen wollen soziale Gerechtigkeit und die Rettung der Umwelt. Beide | |
Ziele miteinander in Einklang zu bringen, fällt ihnen schwer. | |
Kontroverse beim Grünen-Länderrat: Kursfahrt ins Ungefähre | |
Kretschmann suchte die Wahlkampffehler beim linken Flügel. Aber auch die | |
Realos sprachen nicht einstimmig, wie das Rededuell zwischen Andrae und | |
Göring-Eckardt zeigte. | |
Grüne nach der Bundestagswahl: Kretschmann will ein Partei-Präsidium | |
Die Länder sind in der Partei nicht genug repräsentiert, sagt der grüne | |
Ministerpräsident, Winfried Kretschmann. Er ist mit der Meinung nicht | |
allein. | |
Kommentar Grüne Wahlkampffehler: Das Richtige falsch verkauft | |
Die Grünen traten mit dem ehrlichsten Programm an und wurden bestraft. Ihr | |
Problem: Sie hatten keine schlüssige Erzählung für das breite Publikum. | |
Kommentar Konservative Grüne: Schluss mit der Weichspüler-Partei | |
Der grüne Schwenk zum Konservatismus ist Betrug am Wähler. Es sollte weiter | |
um Inhalte gehen und nicht nur ums Gewinnen. |