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# taz.de -- Peter Brandt über Willy Brandt: „Mein Vater hat sich nicht verst…
> Der Historiker Peter Brandt ist der älteste Sohn von Willy Brandt. Ein
> Gespräch über den Kanzler zu Hause, Wutausbrüche, Liebe und Verrat.
Bild: „Ich kann mich an kein Ereignis erinnern, bei dem mein Name mir wirklic…
sonntaz: Herr Brandt, ist es Ihnen auf die Nerven gegangen, Sohn eines
berühmten Vaters zu sein?
Peter Brandt: Natürlich. Es war mir lästig. Schon als Kind.
Warum?
Manchmal kamen Fotografen zu uns nach Hause. Wir mussten Familie spielen.
Das mochte ich nicht.
Sie ahnten also schon damals, dass Sie als Sohn von Willy Brandt etwas
Besonderes waren.
Als mein Vater 1957 Regierender Bürgermeister von Berlin wurde, hat mir
meine Lehrerin dazu gratuliert. Ich war neun Jahre und ganz verdattert. Das
war doch nicht mein Verdienst. 1962 kam Robert Kennedy zu Besuch nach
Berlin. Er wollte unbedingt uns Kinder treffen. Mein Mutter sagte: Das geht
nicht, die müssen in die Schule. Also schrieb Kennedy eine Entschuldigung,
dass Peter und Lars Brandt an Beratungen teilnehmen mussten, die für die
freie Welt und Berlin wichtig sind. Das war lustig. Aber leider hat die
Schule den Schrieb nicht akzeptiert.
Ihre Name hat Ihnen also keine wirklichen Vorteile gebracht?
Ich kann mich an kein Ereignis erinnern, bei dem er mir wirklich geholfen
hätte. 1974, als mein Vater als Bundeskanzler zurücktrat, war ich froh. Das
war natürlich nicht mein ganzer Blick auf diesen Rücktritt. Aber für mich
war es eine Erleichterung, nicht mehr Sohn des Kanzlers zu sein.
In den Sechzigern waren Sie Teil der Studentenbewegung, später in einer
trotzkistische Gruppe.
Ja, zehn Jahre lang.
Gab es deswegen Streit mit Ihrem Vater, dem Regierenden Bürgermeister von
West-Berlin, dann Außenminister und Bundeskanzler?
Selten. Ich erinnere mich daran, dass ich mit 16 Jahren einen Aufruf gegen
den Vietnamkrieg unterschrieb. Das war kurz vor der Bundestagswahl 1965,
mein Vater war SPD-Kanzlerkandidat. Da ist er ausgerastet, was bei ihm fast
nie vorkam. Er selbst hat nicht verlangt, dass ich die Unterschrift
zurückziehe, aber die Leute aus seinem Umfeld haben das getan. Ich habe die
Unterschrift dann zurückgezogen, aber in meinem Schreiben begründet, warum
ich alle Argumente gegen den Krieg der USA dort trotzdem richtig fand. So
habe ich die Rücknahme zu einem rein äußerlichen, formalen Akt gemacht. Und
ich habe danach beschlossen: Das war das letzte Mal, dass ich etwas
zurücknehme.
Es gab 1968 einige in der SPD, die wollten, dass Sie kaltgestellt werden.
Hat es zu einem Zerwürfnis geführt, dass Ihr Vater Bundeskanzler und Sie
Trotzkist waren?
Nein.
Ihr Vater war in den 30er Jahren in der linkssozialistischen SAP. Er ist
vor den Nazis nach Norwegen geflohen und hätte dort im Exil fast mal Leo
Trotzki getroffen …
Ja, aber er hatte politisch zu wenig übrig für die Trotzkisten. Sie waren
ihm zu eng, zu dogmatisch. Er hatte da den richtigen Instinkt.
Eigentlich haben Sie und ihr Vater einen ähnlichen politischen Werdegang:
vom Linkssozialismus zur Sozialdemokratie.
Wenn Sie so wollen. Wobei ich nie so weit Richtung Mitte gegangen bin wie
er. In den achtziger Jahren haben wir uns politisch recht gut verstanden.
Ich hatte den Trotzkismus hinter mir, er war kritisch gegenüber der
US-Weltmachtpolitik unter Reagan und auch wieder mehr gegenüber dem
Kapitalismus.
In Ihrem aktuellen Buch „Mit anderen Augen“ beschreiben Sie eine Szene aus
dem Jahr 1972. Maoisten störten eine SPD-Versammlung und Willy Brandt,
damals Bundeskanzler, sagte später zu Ihnen: Natürlich mussten wir die von
den Ordnern der Partei rauswerfen lassen, aber „ich sah in unglaublich gute
Gesichter“.
Dieser Satz passte zu ihm. Er hatte gerade triumphal die Wahl gewonnen, da
war es wohl auch leicht, großzügig zu sein. Aber er hat grundsätzlich
andere Positionen als legitim akzeptiert: Das galt für Linksradikale ebenso
wie für Konservative. Wir wohnten zum Beispiel in den Fünfzigern in
Berlin-Schlachtensee in einem Reihenhaus. Unser Nachbar war Hans Eberhard
Bohnbach, ein sehr konservativer Katholik. Mit dem war mein Vater
befreundet.
Willy Brandt ist eine Sehnsuchtsfigur, noch immer, vielleicht sogar mehr
als früher …
Ja, es gibt teilweise richtige Erlösungshoffnungen.
Warum er? Was macht ihn brauchbar für Projektionen?
Ich weiß nicht, ob ich da der geeignetste Analytiker bin. Aber er hatte
eine große Gabe, Menschen das Gefühl zu geben, verstanden zu werden. Und
zwar bei unterschiedlichsten Personengruppen, bei Betriebsräten ebenso wie
bei Professoren. Er musste dafür kein Theater spielen. Er hat mir mal von
dem Landwirtschaftsminister Josef Ertl erzählt, der zum rechten,
nationalliberalen Flügel der FDP gehörte. Nach einem Gespräch mit Ertl
sagte mein Vater zu mir halb amüsiert: „Der hält mich jetzt für einen
’nationalen Mann‘ und lässt nichts mehr auf mich kommen.“
War das ein Trick?
Nein, eben nicht. Er hat sich nicht verstellt. Er hat nur andere Aspekte
seiner Persönlichkeit nach vorne gerückt.
Diese Offenheit war das Besondere an ihm?
Ja, er war bescheiden und selbstbewusst, er war versöhnend und kämpferisch,
freiheitlich und egalitär, Patriot und Kosmopolit. So haben ihn die Leute
wahrgenommen. Ich glaube, das Geheimnis seines Erfolges war, dass diese
Mischung genau in die Zeit passte. In die Phase, in der sich die
Sozialdemokratie öffnete und in eine Volkspartei verwandelte. Und er konnte
Menschen begeistern. Ich habe das 1972 ein paarmal erlebt. Das konnte
allerdings auch beängstigend sein.
Wieso?
Ganz zugespitzt gesagt: In dem Willy-Wahlkampf 1972 herrschte manchmal eine
Atmosphäre, da hätte er rufen können: „Wollt ihr den totalen Frieden?“ A…
das war die Ausnahme. Was er als Redner konnte, hat der frühere
Kanzleramtsminister Horst Ehmke, der ein Schandmaul sein kann, mir mal so
beschrieben: „Wenn die Leute Willy Brandt reden hören, haben sie danach das
Gefühl, bessere Menschen zu sein.“
Weil er weich wirkte?
Er wirkte ehrlich. Man hat ihm geglaubt. Aber er konnte auch holzen.
Willy Brandt ist in der Bundesrepublik von Rechten bösartig angegriffen
worden – weil er in Norwegen im Widerstand gegen Hitler war.
Es gab infame Kampagnen. Franz Josef Strauß hat in den Sechzigern gesagt:
„Man wird ja Herr Brandt noch fragen dürfen, was er denn während des
Krieges gemacht hat. Wir wissen, was wir in Deutschland gemacht haben.“ Das
klingt heute bizarr. Aber so war es. Solche Angriffe haben ihn getroffen.
Und zwar doppelt.
Doppelt?
Ja, weil er selbst gegenüber jenen, die Teil des NS-Systems gewesen waren,
großzügig war. Dass er Kiesinger nicht mochte, hatte nur am Rande mit
dessen NSDAP-Mitgliedschaft zu tun. Es gab ja auch in der SPD einige wie
Karl Schiller, die früher in der NSDAP gewesen waren. Der
SPD-Verkehrsminister Lauritz Lauritzen war SA-Mann gewesen. Große Teile der
SPD-Führung im Ruhrgebiet waren in der Waffen-SS gewesen. Viele empfinden
das heute anders. Mein Vater hatte damals den Standpunkt: Wer Verbrechen
begangen hat oder führender Nazikarrierist war, mit dem wollen wir nichts
zu tun haben. Aber bei allen anderen kommt es darauf an, was sie daraus
gelernt haben. Er hatte viel Verständnis für seine Altersgenossen. Er
selbst war in die sozialistische Arbeiterbewegung hineingeboren worden,
daher imprägniert gegen die Nazis. Er rechnete sich das aber nicht als
moralisches Verdienst an. Er bemühte sich, andere Biografien zu verstehen.
Umso härter hat ihn die Kampagne gegen ihn, den „Rot-Spanien-Kämpfer“, den
„Exilanten“, getroffen.
Sie schreiben, dass Ihr Vater auch scheu, einsam und verletzlich war. Woher
kam das?
Aus der Kindheit. Er selbst hat das auch so gesehen. Er ist nicht nur ohne
Vater, den er nicht kannte, sondern jahrelang fast auch ohne Mutter
aufgewachsen, weil die so viel arbeiten musste. Er war in einer
Pflegefamilie, dann bei den Großeltern. Später erfuhr er, dass dieser
Großvater nicht sein leiblicher war. Er ist in „einem familiären Chaos“
groß geworden, so hat er es später bezeichnet. Das war nicht völlig
ungewöhnlich. Es gab im Arbeitermilieu öfter solche unübersichtlichen
Familienverhältnisse. Aber was ihm fehlte, war ein Grundgefühl
persönlicher, fester Verankerung, von familiärer Sicherheit. Und er musste
früh, mit 15, 16, für sich selbst sorgen.
Viele Zeitgenossen haben ihn privat als unnahbar beschrieben. Empfanden Sie
das auch?
Nicht als ich Kind war. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich als
Kind keinen Zugang zu ihm hatte. Kinder sind direkt, unmittelbar. Damit
konnte er sehr gut umgehen. Ich habe eine Halbschwester, Ninja, die acht
Jahre älter ist und in Norwegen groß wurde. Sie gehörte immer zur Familie.
Mein Vater hat ihr, als er nach 1945 von Norwegen nach Deutschland
zurückkehrte, viele Briefe geschrieben, erklärt, was er dort tut, warum er
weggegangen ist. Das sind sehr zu Herzen gehende Briefe. Schwieriger wurde
es erst, als wir, die Kinder, größer wurden. Das fiel ihm schwerer.
Warum?
Vielleicht weil er selbst so früh für sich verantwortlich war. Das hat er
auch von seinen Kindern erwartet.
Nicht gerade einfach.
Es hatte zwei Seiten. Viel väterliche Zuwendung gab es nicht mehr. Auf der
anderen Seite akzeptierte er, was wir wollten. Im Grunde war es bei uns zu
Hause viel normaler, als man es sich vielleicht von außen vorstellte. Er
war ein normaler Vater. Matthias, mein jüngster Bruder, hat das anders
erlebt. 1966 wurde mein Vater Außenminister, später Kanzler. Er war
abgehobener, noch weniger zu Hause. Und älter, ein alter Vater. Das macht
auch einen Unterschied.
Mochten Sie ihn?
Ja, sehr. Man spricht ja auch von Liebe zwischen Eltern und Kindern. Das
kann ich ebenfalls so sagen. Allerdings ist Liebe immer kompliziert. Ich
habe nie zu seinen kritiklosen Bewunderern gehört. Davon gibt es viele.
Aber ich habe auch nie gesagt: Es war alles ganz schrecklich.
Gibt es eine Erinnerung, die Ihnen besonders nahe ist?
Er war ein gelassener Mensch, künstliche Aufregung war ihm fremd. Ich habe
ihn aber einmal wütend, aufgelöst erlebt. Das war 1962, als Peter Fechter
von DDR-Grenzern an der Mauer erschossen wurde. Er war fassungslos. Er
sagte: Können die nicht in die Luft schießen? Und es gibt noch ein zweites
Bild, auch 1962, das sich mir eingeprägt hat. Er kam ein paar Wochen später
nach Hause und sagte eines Abends: Ich muss jetzt mal ernst mit dir reden.
Ich war 13 und merkte: Das ist etwas Besonderes. Er sagte: Ich bleibe
vielleicht für länger weg, und du bist dann der Mann zu Hause. So redete
man ja damals. Ich war natürlich stolz. Später habe ich erfahren, worum es
ging …
… nämlich?
Er rechnete mit einem militärischen Blitzangriff der Sowjetunion auf
West-Berlin. Der Senat und die Westalliierten schmiedeten abenteuerliche
Pläne, wie sie reagieren würden. Das Besondere war, dass es bei ihm nicht
bei der Empörung über die Mauer blieb. Er fing damals an, die neue
Ostpolitik zu entwickeln.
Woher kam seine Gelassenheit?
Es war sein Naturell. Er hat das bei sich selbst als „mecklenburgische
Schwerblütigkeit“ bezeichnet.
Spielt auch das skandinavische Exil dabei eine Rolle?
Das Abgeklärte der Kultur dort hat diesen Zug bei ihm bestimmt verstärkt.
Die Leute dort machen nicht viel Gedöns. Auch in der politischen Sprache
herrscht nicht das Schrille, Scharfe, sondern ein moderater, offener Ton,
ohne dass das Widersprüchliche verschwiegen wird.
Willy Brandt ist 1933 mit 19 Jahren ins norwegische Exil gegangen – und hat
sich dort, auch weil er so jung war, schnell assimiliert. Er hat sogar als
Journalist für norwegische Zeitungen geschrieben.
Er war anpassungsfähig. Ältere und Arbeiter blieben im Exil oft Fremde. Er
nicht.
Wann ist er zum Antikommunisten geworden?
Das war ein Prozess. Er hat 1936 in Barcelona im Spanischen Bürgerkrieg
hautnah erlebt, wie die KP dort mit ihren sowjetischen Beratern gegen
Sozialisten und Anarchisten vorgegangen ist. Diesen stalinistischen
Säuberungen sind Bekannte von ihm zum Opfer gefallen. Der zweite Bruch war
der Hitler-Stalin-Pakt 1939. Danach stand er endgültig der Sozialdemokratie
näher als den Kommunisten.
Er war im Exil vitaler Teil der politischen Kultur in Norwegen. Herbert
Wehner war währenddessen stalinistischer Kader im Hotel Lux in Moskau. Hat
das die beiden später getrennt?
Das waren sehr unterschiedliche biografische Prägungen. Wehner war einer
der führenden deutschen Kommunisten in Moskau. Sein Bruch mit dem
Stalinismus musste hart sein. Mein Vater verabschiedete sich eher gleitend
von der Idee des revolutionären Sozialismus. Wobei mein Vater immer gesagt
hat: Wer nicht im Hotel Lux war, wer diese extreme Repression nicht erlebt
hat, kann darüber nicht urteilen.
Waren Wehner und Brandt in der SPD Gegner?
Sie hatten ein kompliziertes, aber kein durchgehend feindliches Verhältnis.
Beide wollten in den sechziger Jahren die neue Ostpolitik. Wehner wirkte
meistens schroff. Er hatte aber auch eine andere Seite. Meine Mutter sagte
immer: „Wenn Wehner schwedisch redet, klingt er milde und weich.“
Als Willy Brandt 1974 zurücktrat, gab er Wehner die Schuld: Er hätte ihn
verraten.
So sah er das. Das Verhältnis war zerstört. Er glaubte, Wehner hätte ihn
systematisch und auch noch im Zusammenwirken mit Ost-Berlin quasi gestürzt.
Das ist aber weder beweisbar noch plausibel. Mein Vater hat heute
gewissermaßen eine Lobby, Wehner kaum. Er ist fast zu einer Unperson
geworden. Das hat nichts mit historischer Gerechtigkeit zu tun.
20 Oct 2013
## AUTOREN
Stefan Reinecke
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Inflation
Die Linke
Willy Brandt
Rosa von Praunheim
Schwerpunkt Rot-Rot-Grün in Berlin
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