# taz.de -- Ein Jahr vor der Berlin-Wahl: Alle beim Wahlkampf | |
> In einem Jahr, im September 2021, wird in Berlin neu gewählt. In den | |
> Parteien aber hat die Qual der Wahl längst begonnen. | |
Bild: Alle schon beim Wahlkampf? Leere im Plenarsaal des Berliner Abgeordnetenh… | |
Zwölf Monate, zwölf Umfragen, zwölfmal eine teils satte Mehrheit für eine | |
Koalition aus SPD, Linkspartei und Grünen. Da konnte die CDU auf | |
Bundesebene zuletzt boomen wie lange nicht mehr – in Berlin unterstützen | |
laut Befragungen seit August 2019 konstant 56 bis 57 Prozent der Wähler die | |
drei Parteien links der Mitte. Bloß jüngst im Juli waren es nur 53 Prozent | |
– aber damit immer noch mehr als bei der Abgeordnetenhauswahl 2016. Also | |
alles schon gelaufen für eine Neuauflage im September 2021? Bloß noch zu | |
klären, ob diese Koalition dann grün oder rot geführt ist? Nein, ganz und | |
gar nicht. | |
Ein Jahr noch bis zur Wahl, genauer: bis zu den Wahlen, denn parallel zur | |
Abgeordnetenhauswahl ist ja auch die zum Bundestag angesetzt. Prägen wird | |
diesen Tag zudem der mutmaßlich gleichfalls anstehende Volksentscheid | |
„Deutsche Wohnen & Co. enteignen“. Viel wird zudem davon abhängen, ob es | |
tatsächlich ab Januar einen Impfstoff gegen das Coronavirus geben wird, wie | |
das Robert-Koch-Institut, alles andere als ein Lautsprecher, jüngst | |
angekündigt hat, wie zügig dann geimpft werden kann – und wie schnell | |
Corona danach in den Hintergrund rückt und ganz anderes nach vorne. Wenn | |
nicht mehr vorrangig Krisenmanagement von Merkels ruhiger Hand gefragt ist, | |
wäre wieder Platz für Themen, bei denen CDU und CSU vorher weit weniger gut | |
aussahen, etwa beim Umweltschutz. | |
Viel hängt aber auch daran, wie es in der rot-rot-grünen Koalition auf | |
Berliner Landesebene weitergeht. Bringt das Thema Enteignungen – von der | |
Linkspartei und als letztes Mittel auch von den Grünen unterstützt, von den | |
Sozialdemokraten aber mehrheitlich abgelehnt – das Bündnis in den letzten | |
Monaten noch auseinander? Wie sehr prägt der parallele Volksentscheid die | |
Entscheidung bei der Wahl in Berlin? | |
Offen ist auch: Wie sehr beeinflusst der viel zitierte Bundestrend den | |
Ausgang der Abgeordnetenhauswahl? Schon bei Umfragen ist oft zu beobachten, | |
dass die Befragten sich merklich wenig an der landespolitischen Performance | |
der Parteien orientieren, sondern sich vorrangig vom Agieren der großen | |
Namen auf Bundesebene leiten lassen. Macht Angela Merkel in der Coronakrise | |
eine gute Figur, steigen die Werte der Berliner CDU, ohne dass die | |
währenddessen durch nennenswerte eigene Initiativen aufgefallen wäre. Und | |
mit den Grünen auf Bundesebene, die ohne eigenen Fehler in Umfragen | |
absackten, weil sie als Oppositionspartei in der Krise weniger als sonst im | |
Fokus sind, verloren auch die Berliner Grünen an Rückhalt: Sie sackten von | |
25 Prozent im Februar auf 19 Prozent im Juli ab. | |
Mit parallelen Wahlen zu Bundestag und Landesparlament am selben Tag dürfte | |
sich dieses Phänomen verstärken – die Union mit Merz/Laschet/Söder auf | |
Bundesebene wählen, aber der Berliner CDU die Stimme verweigern, das dürfte | |
nicht so oft passieren. | |
Schließlich ist da noch die Frage: Hat die designierte neue | |
SPD-Landeschefin und absehbare Spitzenkandidatin Franziska Giffey überhaupt | |
Lust auf Rot-Rot-Grün? Würde sie, die Noch-Bundesministerin, sich als | |
einfaches Senatsmitglied einordnen, falls die Grünen bei der Wahl vor der | |
SPD landen? Oder würde sie ein Bündnis mit CDU und FDP auszuloten | |
versuchen, um die Sozialdemokraten im Roten Rathaus zu halten und selbst | |
Regierungschefin zu werden? Was natürlich voraussetzt, dass die SPD vor der | |
CDU landet und die FDP überhaupt im Abgeordnetenhaus bleibt und nicht an | |
der Fünfprozenthürde scheitert. | |
Und was passiert, wenn es doch weniger Prozente als derzeit prognostiziert | |
werden für die jetzigen Koalitionsparteien, es also doch nicht erneut für | |
eine Mehrheit links der Mitte reicht? Bekommt dann eine grüne | |
Spitzenkandidatin von ihrer Basis freie Hand, um eine grün-schwarze | |
Koalition auszuloten? Oder noch schlimmer: eine schwarz-grüne? Dazu muss | |
diese Spitzenkandidatin gar keine Wirtschaftssenatorin vom Realo-Flügel | |
sein und Ramona Pop heißen, bei der linken Parteibasis für ein solches | |
Bündnis grundsätzlich verdächtig. Nein, auch Fraktionschefin Antje Kapek | |
pflegt solche Kontakte und war noch wenige Wochen vor dem Coronalockdown | |
mit CDU-Chef Kai Wegner eine Bio-Currywurst essen – man war nicht immer | |
einer Meinung, aber per du. | |
Viele Fragen, viele Unwägbarkeiten. Ein Jahr Vorlauf bis zum Wahltermin im | |
September 2021 scheint noch lang und eine US-Amerikanisierung hiesiger | |
Abstimmungen zu sein: Dort liegt schon zwischen dem ersten offiziellen | |
Vorwahltermin in Iowa zur Kandidatenauswahl und der eigentlichen | |
Präsidentenwahl am 3. November ein Dreivierteljahr, ganz zu schweigen vom | |
monatelangen Warmlaufen der Bewerber zuvor. Doch neu ist das eigentlich | |
auch in Berlin nicht: Bei der Abgeordnetenhauswahl 2011 war es schon gut | |
anderthalb Jahre vorher das liebste Gesprächsthema in der Landespolitik, ob | |
Renate Künast, damals Bundestagsfraktionschefin, grüne Spitzenkandidatin | |
würde. | |
Wie dem auch sei: Er hat begonnen, der Kampf ums Rote Rathaus, das nach | |
Wunsch von Künasts Parteifreunden grün werden soll. (sta) | |
## Die SPD: Was will diese Frau? | |
Wer wird die SPD im kommenden Jahr in den Wahlkampf führen? Seit Januar | |
scheint diese Frage eigentlich beantwortet. Nachdem | |
Bundesfamilienministerin Franziska Giffey und der Fraktionschef im | |
Abgeordnetenhaus, Raed Saleh, den Regierenden Bürgermeister Michael Müller | |
als Landesvorsitzenden abgelöst haben, wird Giffey zur Spitzenkandidatin | |
gekürt. So weit die Theorie. | |
Die Praxis ist komplizierter. Denn sie hat damit zu tun, ob Giffey nicht | |
nur als Spitzenkandidatin, sondern bereits als Regierungschefin in den | |
Wahlkampf ziehen, Müllers Nachfolge also schon vor der Wahl antreten will. | |
Bislang sieht es nicht danach aus: „Giffey will keine Probleme erben“, | |
heißt es aus ihrem Lager. Das böte die Möglichkeit, nach der Wahl einen | |
„klaren Cut zu machen“. | |
Wie ein solcher Cut aussehen könnte, hat sich bereits angedeutet. Nachdem | |
Müller angekündigt hat, für den Bundestag kandidieren zu wollen, haben auch | |
Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci und Bildungssenatorin Sandra Scheeres | |
ihren Rückzug angekündigt. Auch Finanzsenator Matthias Kollatz schwimmen | |
die Felle davon. In der Partei wird gemunkelt, der Parlamentarische | |
Geschäftsführer der SPD-Fraktion im Abgeordnetenhaus, Torsten Schneider, | |
habe ein Auge auf dessen Amt geworfen. Selbst Andreas Geisel muss sich | |
Sorgen machen, denn das Amt des Innensenators wäre wohl die Krönung der | |
politischen Laufbahn von Raed Saleh. | |
So weit die Personalüberlegungen, die sich bis in den Dezember ziehen | |
dürften. Denn auf dem Parteitag am 31. Oktober soll zunächst nur der neue | |
Landesvorstand gewählt werden. Spannend wird es dann am 19. Dezember, wenn | |
erst über die Listenplätze für den Bundestag abgestimmt wird und dann | |
Giffey zur Spitzenkandidatin gekrönt werden soll. | |
Entscheidend dabei wird sein, welchen Listenplatz Michael Müller einnimmt. | |
Sollte die SPD nur noch vier Bundestagsmandate bekommen, könnte das bei | |
einem möglichen Direktmandat in Spandau bedeuten, dass nur drei | |
Listenplätze sicher sind. Bekannt ist, dass sowohl Müller als auch | |
Ex-Juso-Chef Kevin Kühnert in den Bundestag wollen. Sollte die SPD zudem | |
entscheiden, dass die Liste mit einer Frau beginnt (gesetzt ist hier Cansel | |
Kiziltepe aus Friedrichshain-Kreuzberg), würde es für Kühnert und Müller | |
nicht reichen. Aber auch, wenn die Liste mit einem Mann beginnt, ist nicht | |
sicher, wer diesen Platz einnehmen wird. Alle Versuche, sich mit Kühnert | |
abzusprechen, sind offenbar gescheitert. | |
Es könnte also gut sein, dass Müller am 19. Dezember leer ausgeht. Wird er | |
dann auch als Regierungschef zurücktreten? Das sei nicht geplant, heißt es | |
aus seinem Lager. Aber es könne sich natürlich die Situation ergeben, dass | |
Giffey früher ranmuss als geplant. Und das soll wohl heißen: Wählt mal | |
schön alle Müller auf Platz eins, sonst folgen dem 19. Dezember wieder mal | |
Chaoswochen in der Berliner SPD. Dazu könnten dann auch vorgezogene | |
Neuwahlen gehören. (wera) | |
## Die Grünen: Pop oder Kapek | |
Es dürfte gerade der exklusivste Klub Berlins sein. Sechs Mitglieder, dann | |
ist die Tür zu. Was das Treffen so attraktiv macht: Diese Sechs | |
entscheiden, inoffiziell zumindest, darüber, wer grüne Spitzkandidatin bei | |
der Abgeordnetenhauswahl wird und dadurch große Chancen hat, Berlins erste | |
Regierende Bürgermeisterin zu werden – als die SPD-Politikerin Louise | |
Schroeder Stadtoberhaupt war, hieß das noch Oberbürgermeisterin. | |
„Spitzenkandidatin“, weil in diesem Klub feststeht, dass eine Frau die | |
Grünen in den Wahlkampf führen soll. Offen ist aber, ob diese Frau | |
Fraktionschefin Antje Kapek sein soll oder erneut Wirtschaftssenatorin | |
Ramona Pop, die bereits bei der Wahl 2016 an der Spitze der | |
Grünen-Kandidatenliste stand. | |
Der exklusive Sechser-Klub hat dabei vor allem einen Zweck: die Sache im | |
Vorfeld des Grünen-Parteitags am 28. November zu klären und zu verhindern, | |
dass es dort zu einem Duell kommt, das die Partei spalten statt auf den | |
Wahlkampf einschwören könnte. Versteinerte Mienen der Unterlegenen und | |
ihrer Anhängerschaft sind nicht die Bilder, die nach Willen der führenden | |
Grünen von dem Parteitag ausgehen sollen. | |
Mitglieder des Auswahl-Klubs sind neben den beiden Kandidatinnen selbst – | |
die offiziell noch gar keine Ansprüche erhoben haben – die | |
Landesparteichefs Nina Stahr und Werner Graf sowie Kapeks | |
Co-Fraktionsvorsitzende Silke Gebel und der parlamentarische | |
Geschäftsführer der Abgeordnetenhausfraktion und frühere langjährige | |
Parteichef, Daniel Wesener. Und bislang halten in diesem Klub auch alle | |
dicht, die Kandidatinnen eingeschlossen. | |
Beide möglichen Spitzenkandidatinnen sind etwa gleich alt – Kapek wird im | |
September 44, Pop im Oktober 43 –, beide haben ihr ganzes politisches Leben | |
in Berlin verbracht. Für Kapek begann das als Kind: Auch ihr Vater Frank | |
war Mitglied des Abgeordnetenhauses. Pop wechselte im Studium nach Berlin, | |
war Bundesvorsitzende der Grünen Jugend und Teil eines Förderprogramms. | |
Ihre Mentorin dabei: die damalige Bundesministerin Renate Künast, 2011 | |
selbst grüne Nummer 1 bei der Abgeordnetenhauswahl. Pop ist die Reala, | |
Kapek ist als Kreuzbergerin dem linken Parteiflügel zuzuordnen. Pop musste | |
im Dezember einen Tiefschlag verdauen, als ein Grünen-Parteitag die von ihr | |
unterstützte Bewerbung für die große Auto-Schau IAA ablehnte – hat aber als | |
Senatorin in der Coronakrise mehr Medienpräsenz denn je. (sta) | |
## Linke: Auf den Deckel kommt's an | |
Es ist manchmal schon fast beängstigend, wie leise die Berliner Linkspartei | |
ihre Personalien ordnet. Das war beim Generationenwechsel an der | |
Fraktionsspitze so und bei der Nachbesetzung des Postens der | |
Stadtentwicklungssenatorin. Auch die Spitzenkandidatur für die | |
Abgeordnetenhauswahl im September 2021 wird keine Ausnahme darstellen: | |
Kultursenator Klaus Lederer dürfte es werden. Im Dezember, so ist es | |
geplant, soll ein Parteitag darüber entscheiden. | |
Und selbst wenn Corona diese Kür unmöglich machen sollte: Niemand in der | |
Partei macht dem 46-Jährigen aktuell die Poleposition streitig – obwohl | |
Lederer nicht mehr Landeschef ist. Das war auch auf dem letzten Parteitag | |
im August zu beobachten: Neben der Parteivorsitzenden Katina Schubert, die | |
das Amt vor knapp vier Jahren von Lederer übernahm, hatte nur der | |
Kultursenator einen längeren Auftritt. | |
Es gelang ihm in diesen 30 Minuten, zugleich das Profil der Partei zu | |
betonen und die Koalition strahlend dastehen zu lassen. Der Mietendeckel, | |
eine krisenfeste Daseinsfürsorge, die Stärkung der öffentlichen Hand – | |
dafür werde sich die Linke weiterhin einsetzen; dank Rot-Rot-Grün sei die | |
Wende zu einer sozialeren Stadtentwicklung gelungen. Die Verlierer der | |
Krise sind laut dem Kultursenator die Hartz-IV-EmpfängerInnen – und die | |
vielen Solo-Selbstständigen, für die Lederer früh ein bundesweit | |
beispielhaftes Förderprogramm aufgelegt hatte. Überhaupt gelingt es ihm mit | |
wenigen Ausnahmen, umfangreiche Unterstützung für die wegen Corona | |
siechende Kulturszene der Stadt zu organisieren und damit – ähnlich wie in | |
den anderen beiden linken Senatsressorts – die Klientel der Partei zu | |
bedienen. | |
„Unduldsam, beherzt, gerecht“, wirbt Lederer auf seiner Webseite für sich. | |
Ersteres – laut Duden unter anderem ein Synonym für intolerant und | |
unerbittlich – zeigt sich bei jeder seiner schnellen, bisweilen | |
stakkatoartigen und immer wieder auch theoriegeschwängerten Reden, der | |
nicht unbedingt alle ZuhörerInnen folgen und folglich schwer widersprechen | |
können. Vielleicht wäre auch „ungeduldig“ das bessere Wort. Lederer ist | |
sich dieser Schwierigkeit bewusst und versucht sich zu bremsen. So auch | |
beim jüngsten Parteitag. Es gelang ihm nur kurz. | |
Dennoch hat es der Kultursenator, der zudem für Europa und die Religionen | |
zuständig ist, laut Umfragen zum beliebtesten Politiker der Stadt gebracht. | |
Doch damit Lederer den Sprung ins Rote Rathaus schafft, muss seine Partei | |
noch ein bisschen zulegen. Nach einem Zwischenhoch in Umfragen zur Mitte | |
der Legislaturperiode liegt die Linke seit einiger Zeit konstant hinter den | |
Grünen. Wobei unklar ist, wie stabil diese Erhebungen unter | |
Coronabedingungen sind. | |
Für Lederer wie für seine Partei wird es vor allem darauf ankommen, ob der | |
Mietendeckel vor dem Verfassungsgericht Bestand hat. Hält der maßgeblich | |
von der zurückgetretenen linken Stadtentwicklungssenatorin Katrin Lompscher | |
durchgesetzte Deckel, kann die Linke damit bei den mehr als 1,5 Millionen | |
MieterInnenhaushalten potenziell als progessive und mutig punkten. Kippt er | |
ganz oder teilweise, wird es darauf ankommen, ob die WählerInnen schon den | |
Versuch einer radikal anderen Mietenpolitik gutheißen oder das Scheitern | |
der Linken anlasten. (bis) | |
## CDU: An der Spitze ist es einsam | |
Es ist zuletzt ein bisschen still geworden um die Berliner CDU. Mit einem | |
überraschend anderen Ansatz in Sachen Umweltpolitik, einem unterhaltsamen | |
Online-Parteitag und einem Logo-Wechsel samt einer digitalen Kampagne | |
namens „#aufgehtsberlin“ hatten die Christdemokraten in der ersten | |
Jahreshälfte trotz Corona noch ein paar Lebenszeichen geben können. Sogar | |
„Guerilla-Aktionen“ hatte Generalsekretär Stefan Evers für die folgenden | |
Monate angekündigt – doch falls es sie gegeben hat, haben sie jedenfalls | |
bislang nicht für Aufmerksamkeit gesorgt. Und auch wenn die CDU weiter | |
offenlässt, wann sie und wen zum Spitzenkandidaten für die | |
Abgeordnetenhauswahl kürt – die Antwort darauf beschäftigt die | |
Landespolitik weit weniger als die bei den Grünen anstehende Entscheidung | |
zwischen Ramona Pop und Antje Kapek. | |
Zumal auch immer klarer zu sein scheint, dass Parteichef Kai Wegner selbst | |
die Spitzenkandidatur übernehmen wird – beziehungsweise übernehmen muss. | |
Klassischerweise hat die Partei drei Möglichkeiten: 1. jemand aus den | |
eigenen Reihen, am naheliegendsten den Landesvorsitzenden, 2. ein | |
Parteifreund von der Bundesebene oder 3. eine der CDU nahestehende | |
„Persönlichkeit des öffentlichen Lebens“ – etwa ein erfolgreicher | |
Unternehmer wie bei der Landtagswahl in Bremen 2019. | |
Von Variante 3 ist gar nichts zu hören, und dass Nummer 2 überhaupt immer | |
mal wieder im Gespräch ist, liegt an der nostalgischen Erinnerung daran, | |
dass es eben einmal so geklappt hat: Mit dem späteren Bundespräsidenten | |
Richard von Weizsäcker, vormals für die rheinland-pfälzische CDU im | |
Bundestag, holte die CDU 1981 mit 48 Prozent ihr bis heute bestes Ergebnis | |
bei der Berlinwahl und Weizsäcker wurde Regierender Bürgermeister. | |
Der zweite Versuch in diese Richtung fand eine Etage niedriger statt, als | |
sich 2006 Friedbert Pflüger versuchte, vormals parlamentarischer | |
Staatssekretär für Verteidigung – mit dem bis dahin schlechtesten | |
CDU-Ergebnis aller Zeiten von 21 Prozent, noch weniger als nach dem | |
Bankenskandal fünf Jahre zuvor. Das große Problem einer solchen externen | |
Lösung besteht zudem darin, zu erklären, wieso ein 12.000 Mitglieder großer | |
Landesverband in den eigenen Reihen niemanden für die Spitzenkandidatur | |
findet. | |
Geht es letztlich doch über die berlininterne Variante und wird es | |
Parteichef Wegner, dürfte er sich nicht um den Job gerissen haben. Denn | |
auch wenn die Christdemokraten Chancen haben, im Sog ihrer Bundespartei | |
wegen der zeitgleichen Bundestagswahl stärkste Kraft in Berlin zu werden: | |
Der CDU fehlen bislang potente Koalitionspartner zum Regieren, und | |
Rot-Rot-Grün hat trotz aller Probleme in allen Umfragen weiter eine | |
Mehrheit. Wegner – derzeit baupolitischer Sprecher der | |
CDU/CSU-Bundestagsfraktion – wäre dann zwar Fraktions- und Oppositionschef | |
im Landesparlament, aber er wäre eben auch wieder dort, wo er vor seinem | |
Wechsel in den Bundestag 2005 bereits sechs Jahren Abgeordneter war. | |
Eine führende Funktion in einer Regierungspartei auf Bundesebene mit | |
Gestaltungsmöglichkeiten eintauschen gegen fünf Jahre Opposition in einem | |
Landtag? Das wirkt nicht gerade reizvoll. Weiter im Bundestag zu schalten | |
und zu walten und wie jetzt parallel als Landesparteichef die Berliner | |
Dinge zu gestalten dürfte weit attraktiver sein. | |
Dass die Frauen in der CDU nicht laut nach der Spitzenkandidatur riefen, | |
dürfte viel mit dem Schicksal von Wegners Vorgängerin an der | |
Landesparteispitze zu tun haben, Kulturstaatsministerin Monika Grütters: | |
Statt ihr den Rücken zu stärken, als Wegner 2019 den Landesvorsitz für sich | |
forderte, schwenkte die Partei flugs auf ihn um. So etwas mag sich | |
vielleicht so schnell keine andere Christdemokratin antun. (sta) | |
## AfD: Führerprinzip greift noch nicht | |
Die AfD 2020 klingt irgendwie ganz schön nach 2016. Wahlkampfthemen für die | |
Abgeordnetenhauswahl in einem Jahr stünden noch nicht fest, heißt es auf | |
Nachfrage von einem Parteisprecher, vermutlich aber irgendwas mit „innerer | |
Sicherheit“ und „illegaler Masseneinwanderung“. Während andere Parteien | |
bereits in den Wahlkampfmodus schalten, ist die Berliner AfD mit sich | |
selbst beschäftigt. Was will man auch von einer Partei erwarten, die seit | |
über einem Jahr vergeblich versucht, einen Parteitag zu veranstalten? Und | |
so ist ihr Bild derzeit von Fraktionsintrigen und öffentlichem Streit | |
bestimmt. | |
Die Kandidatur für den Spitzenplatz zur Abgeordnetenhauswahl von | |
[1][Fraktionschef Georg Pazderski] wurde von seinen Fraktionsfeinden mit | |
dem [2][Durchstechen eines Brandbriefes] an nicht gerade befreundete Medien | |
beantwortet. Darin war von der Gutsherrenart des pensionierten | |
Bundeswehroberst zu lesen und von einer bis zur Arbeitsunfähigkeit | |
zerrütteten Fraktion. Ob der sich gern bürgerlich gebende Pazderski also | |
genug Zustimmung für eine Kandidatur erhält, ist offen. Denn er ist bei | |
vermeintlich gemäßigten AfDler:innen ebenso umstritten wie im nicht eben | |
kleinen rechtsextremen „Flügel“-Lager. Aus Parteikreisen heißt es, eine | |
Wiederwahl Pazderskis falle und stehe mit einer vorzeigbaren | |
Gegenkandidatur. Problem nur: Es gebe kaum vorzeigbare Kandidat:innen. | |
Einige AfDler:innen sahen in der sich konservativ-liberalen gebenden | |
Kristin Brinker eine geeignete Gegenspielerin zu Pazderski. Aus | |
Parteikreisen ist aber auch zu hören, dass sie gar nicht in die erste Reihe | |
wolle. Dazu dürfte auch der Kleinkrieg hinter den Kulissen beigetragen | |
haben: Brinkers Kritik an Pazderskis Führungsstil und dessen offenbar | |
undurchsichtigen Fraktionsfinanzen ist mittlerweile in einen Rechtsstreit | |
ausgeartet. | |
Dieser Streit überschattet den bislang größten Erfolg der AfD als | |
Oppositionspartei: Die parlamentarische Anfrage der als finanzpolitische | |
Sprecherin fungierenden Brinker zu den Nebeneinkünften der Senatsmitglieder | |
hatte zum [3][Rücktritt der linken Bausenatorin Katrin Lompscher] geführt. | |
Nicht zuletzt damit qualifizierte Brinker sich für einige AfDler:innen zur | |
geeigneten Gegenspielerin Georg Pazderskis. | |
Wie viel Kapital die AfD aus dem Sturz Lompschers bei Wähler:innen schlagen | |
kann, ist aber völlig offen: Denn bezeichnenderweise trat Brinker selbst | |
nur zehn Tage später von ihrem Amt als Vize-Fraktionsvorsitzende zurück. | |
Eine Antwort auf den Machtkampf in der AfD wird es frühestens im Oktober | |
geben. Denn dann soll endlich ein Landesparteitag stattfinden, der neben | |
der überfälligen Neuwahl des behelfsmäßigen Notvorstands auch die Frage | |
nach dem Spitzenpersonal für den Wahlkampf klären soll. | |
Das Einzige, was bei der AfD bis dahin kontinuierlich läuft, ist das | |
Anheizen ihres Facebook-Mobs. Dort regnet es rassistische Wut-Emojis, wenn | |
sich die rechte Partei über das rot-rot-grüne Berlin („verkehrspolitisches | |
Umerziehungslager“, „Dealer-Paradies Görli“) aufregt oder einzelne | |
Politiker:innen an den Pranger stellt. In Wählerstimmen bildet sich das | |
aber offenbar bislang nicht ab: In Umfragen stagniert die AfD in Berlin bei | |
10 bis 12 Prozent. (gjo) | |
5 Sep 2020 | |
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[1] /Pazderski-kandidiert-fuer-die-AfD-Berlin/!5698506 | |
[2] /AfD-Berlin-rebelliert-gegen-Pazderski/!5694217 | |
[3] /Ruecktritt-von-Berlins-Bausenatorin/!5700098 | |
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