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# taz.de -- Kevin Kühnert über Perspektiven der SPD: „Nur über meine Leich…
> Noch eine Groko nach der Wahl 2021? Dem erteilt der Juso-Chef eine
> Absage. Stattdessen freut er sich über Olaf Scholz, der nach links
> gerückt sei.
Bild: Will 2021 in den Bundestag: Kevin Kühnert
taz: Herr Kühnert, haben Sie sich nach rechts – oder hat Olaf Scholz sich
nach links bewegt?
Kevin Kühnert: Olaf Scholz und mit ihm die Politik der SPD in der Regierung
haben sich spürbar nach links bewegt. Normalerweise mussten sich
SPD-Spitzenkandidaten angeblich immer in die sogenannte Mitte begeben.
Scholz hat sich erkennbar nach links bewegt.
Wo?
Bei den großen Fragen. Europa geht beispielsweise völlig anders als vor
zehn Jahren mit der Krise um. Damals waren Hilfen an Südeuropa an
Rückzahlungen, Sozialabbau und den Verlust von Souveränität gekoppelt.
[1][Jetzt gibt es direkte Zuschüsse]. Das mag kein sexy Thema sein. Aber
das ändert [2][so ziemlich alles in der EU]. Das ist maßgeblich von Olaf
Scholz und dem französischen Finanzminister Bruno Le Maire betrieben
worden. Die Krisenpolitik in Deutschland folgt ähnlichen Maßgaben, auch
wenn da Luft nach oben ist.
Muss die SPD-Linke geradezu dankbar für die Coronakrise sein?
Schuldenbremse ausgesetzt, der Staat als Akteur …
Nein, das verbietet sich. Die SPD hat diesen Kurswechsel schon vor der
Coronakrise begonnen. Wir haben [3][beim Parteitag unser neues
Sozialstaatskonzept zur Überwindung von Hartz IV beschlossen] und Anfang
2020 in der Koalition massive Investitionspakete anvisiert. Was die Große
Koalition jetzt tut, etwa [4][die Verlängerung des Kurzarbeitergeldes] auf
zwei Jahre, ist richtig, hat aber mit der Pandemie zu tun.
Aber kleine Selbstständige fallen durch den Rost.
Unser heutiger Sozialstaat ist auf ihre Bedürfnisse noch nicht genug
vorbereitet. Es ist gut, dass Soloselbstständige jetzt einfacher und ohne
Vermögensprüfung Grundsicherung beziehen können. Aber gerade bei
[5][Soloselbstständigen] zeigt sich in dieser Krise, dass die
Schutzmaßnahmen des Sozialstaates noch überwiegend auf eine
Arbeitsgesellschaft ausgerichtet sind, die sich längst weiterentwickelt
hat. Die Trennung zwischen Selbstständigen und abhängig Beschäftigten ist
längst verwischt.
In Großbritannien funktioniert Hilfe für kleine Selbstständige besser.
Warum ist das hier so schwierig?
Vielleicht weil wir mit Selbstständigen das Bild vom Manager verbinden,
aber nicht den Betreiber einer Pommesbude, bei dem das Einkommen des
Firmeninhabers auch das Einkommen des einzigen Beschäftigten ist. Der und
die frei arbeitende Grafikdesignerin brauchen eine Absicherung für solche
Krisen. Der Sozialstaat muss auf der Höhe der Zeit sein. Erste Selbständige
holen wir jetzt in die gesetzliche Rente. Wir brauchen vermutlich auch eine
Art Kurzarbeitergeld für Selbstständige – über die kleine Gruppe der
Selbstständigen, die in Heimarbeit nur für eine Firma arbeiten, hinaus.
Wer zahlt für die Krise? Laut Olaf Scholz soll 2022 die Schuldenbremse
wieder gelten. Also Sozialleistungen dann runter?
Die Schuldenbremse ist nicht abgeschafft worden, sondern ausgesetzt. Das
ist ein Fakt. Wer zahlt, das wird eine wichtige Auseinandersetzung des
Wahlkampfes werden. Die Union will den Gürtel enger schnallen, Friedrich
Merz jede sozialstaatliche Leistung auf den Prüfstand stellen. Die
Konsequenz aus der Krise muss sein, Resilienz, wie es jetzt überall heißt,
aufzubauen. Wir müssen sozialstaatlich Vorsorge treffen, bevor die nächste
Krise über uns hineinbricht.
Woher kommt ihr Vertrauen, dass wir nicht wieder den Olaf Scholz der
schwarzen Null erleben?
Ich halte nichts davon, als Gegenposition zur der ideologisch getriebenen
schwarzen Null pauschal mehr Staatsverschuldung zu fordern. Schuldenmachen
per se ist nicht links. Nachhaltiges und zukunftsorientiertes Investieren
ist links. Es geht aber vor den Ausgaben erst mal um die Einnahmen. Die
Politik der letzten 20 Jahre war geprägt durch Senkung des
Spitzensteuersatzes und die niedrige Kapitalertragssteuer …
… unter tätiger Mithilfe der SPD …
… ja, stimmt. Aber wir sind in der Lage, aus Fehlern zu lernen und haben
uns schon vor Corona auf dem Parteitag für die Reaktivierung der
Vermögenssteuer ausgesprochen. Auch Olaf Scholz meint: Die reichsten ein,
zwei Prozent der Bevölkerung sollten einen Beitrag zur solidarischen
Bewältigung der Krise und zur Verteilungsgerechtigkeit leisten. Die
Forderung verstecken wir nicht.
Olaf Scholz ist also ein Linker geworden. Bleibt die Frage, ob Sie nach
rechts …
Ich wusste, dass Sie darauf zurückkommen. Für Jusos und Parteilinke sind
die Kompromisse in den letzten Jahren oft übel ausgegangen. Es ging immer
darum, Wahlen in der ominösen Mitte zu gewinnen. In dieser Logik sind wir
oft an den Rand gedrängt worden. Jetzt bewegt die SPD sich in die richtige
Richtung, auch durch unseren Beitrag. Das freut mich erst mal.
Sie klingen ja sehr pragmatisch. Sie sind seit acht Monaten
Vizevorsitzender von 420.000 Genossinnen und Genossen. Hat Sie das
verändert?
Ich finde nicht.
Sie reden genauso wie vorher, als Sie nur Juso-Chef waren?
Ja klar.
[6][In Ihrer Rede beim Parteitag] haben Sie gesagt, dass Politik für Sie
kein Rollenspiel ist. Also: Ihr kriegt den Kevin, den ihr kennt. Sie waren
ein Scholz-Kritiker, jetzt verteidigen Sie ihn. Ist das kein Rollenwechsel?
Wo es nötig ist, werde ich Scholz auch weiterhin kritisieren – übrigens
immer zuerst im direkten Gespräch. Selbstverständlich will ich mehr
Verteilungsgerechtigkeit über Vermögensteuer hinaus. Und natürlich sollten
wir an der Forderung festhalten, den Spitzensteuersatz für wirkliche
Top-Verdiener zu erhöhen, und dafür sorgen, dass Erträge aus Kapital nicht
mehr geringer besteuert werden als Einkünfte aus Arbeit.
Verstehen Sie Linke, die der SPD noch immer misstrauen?
Misstrauen kann ein gesunder Reflex sein. Wer aber gar nicht erkennen will,
dass sich die SPD und mit ihr die Politik auch durch unser jahrelanges
Nerven verändert hat, wird zynisch und defätistisch. Wer nur sagt: Scholz
ist ein Neoliberaler, der den Sozialstaat abbaut, hat es sich in einer
vermeintlichen Gewissheit bequem gemacht und zuletzt vermutlich auch wenig
die Nachrichten verfolgt. Der Clou ist doch: Die richtige Politik wird
manchmal von den vermeintlich falschen Leuten gemacht.
Wem werfen Sie das vor? Der NoGroko-Bewegung, mit der Sie 2017 ja zur
öffentlichen Figur geworden sind?
Allen, die sich angesprochen gefühlt haben. Es gibt gelegentlich eine
holzschnittartige Haltung in der gesellschaftlichen Linken. Da ist Olaf
Scholz ausschließlich derjenige, der sich [7][bei Polizeigewalt und
G20-Gipfel in Hamburg falsch verhalten hat]. Ja, da haben wir Jusos auch
deutliche Kritik geäußert. Aber sich an jedem kritikwürdigen Halbsatz von
Scholz vor drei, zehn oder 20 Jahren festzuklammern, und gleichzeitig die
wichtigen realen Weichenstellungen in Europa und beim Staatshaushalt
schulterzuckend zu ignorieren, finde ich inkonsequent.. Bei manchen gilt:
Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Das Problem ist doch nicht Kritik
an der SPD oder Scholz. Das Problem ist eine Form der Bräsigkeit, die
andauernd Veränderung fordert, aber sie nicht erkennt, wenn sie tatsächlich
passiert.
In der Cum-Ex-Affäre hat [8][Scholz verheimlicht, wie oft er den
Warburg-Banker getroffen hat]. Ist das kein Grund, ihm zu misstrauen?
Olaf Scholz hat zweimal im Finanzauschuss des Bundestags Rede und Antwort
gestanden. Wenn es jetzt offene Fragen gibt, wird er für weitere Anhörungen
zur Verfügung stehen. Er hat betont, dass es selbstverständlich keine
politische Einflussnahme zugunsten der Warburg Bank gab. Das hätte mich
auch sehr gewundert, weil er Cum-Ex-Geschäfte aufs Schärfste verurteilt und
eine striktere Finanzmarktregierung gefordert hat.
Ist eine Fortsetzung der Groko nach 2021 denkbar?
Nur über meine Leiche – also politisch gesehen. Die Groko funktioniert in
dieser Krise ganz okay, weil die Union nicht so viel im Weg rumsteht. Aber
alle grundlegenden Argumente gegen die Dauer-Groko sind noch immer richtig.
Sie gelten bei [9][Fridays for Future] als Hoffnungsträger, als jung,
offen, sympathisch. Dabei sagen Sie selten etwas zur Klimapolitik. Werden
Fridays-for-Future-Anhänger enttäuscht sei, wenn Sie mal was zur deutschen
Autoindustrie sagen?
Die SPD hat das im Juni konkret bei den Coronahilfen getan – nicht zur
Freude der Chefetagen der Autoindustrie. [10][Das Nein zu einer
Autokaufprämie für Verbrennungsmotoren] ist in der SPD nicht vom Himmel
gefallen. Es zeigt den politischen Richtungswechsel in der
Sozialdemokratie. Wir haben das getan, obwohl wir wussten, dass manche auch
in den Gewerkschaften das erst mal nicht nachvollziehen können, es aber
gleichzeitig nur wenige bei Fridays for Future gibt, die sagen: Geil, was
die SPD macht.
Bernie Sanders in den USA und Jeremy Corbyn in England [11][standen für die
Linkswende] in den Mitte-links-Parteien. Sie sind gescheitert. Was bedeutet
das für die SPD?
Ich sehe das differenzierter. Sanders ist nicht gescheitert. Er hat
zusammen mit [12][Alexandria Ocasio-Cortez] und anderen die Agenda der
Demokraten in den USA nachhaltig verändert, etwa bei der
Gesundheitsversorgung und den Hochschulgebühren. Wir müssen von dem Denken
Eins oder Null weg. Erfolg ist doch nicht nur: Eine Person setzt sich durch
und wird gewählt. Das ist unterkomplex.
Also sind Sie der Sanders der SPD?
Ich wollte doch nicht Kanzlerkandidat werden …
… in dem Sinne, dass Sie das Programm nach links verschoben haben.
So verstanden – ja. Aber dieser Erfolg hat sehr viele Väter und Mütter …
Sanders verkörperte die Hoffnung auf einen radikalen Bruch mit dem
Finanzkapitalismus. Das ist gescheitert …
Ich sehe das anders. Es geht darum, die gesellschaftliche Hegemonie zu
verändern. Im Kongress wird eine neue Generation von demokratischen
Abgeordneten einziehen, die sich als parlamentarischer Arm verschiedener
sozialer Bewegungen verstehen. Die werden machtpolitisch eine Rolle
spielen, falls die Demokraten dort eine Mehrheit erringen. Da kann ein
echtes Bündnis von Bewegung und Partei entstehen, so wie wir Jusos oder
auch eine Politikerin wie Katja Kipping es sich wünschen.
[13][Sie wollen auch in den Bundestag]. Warum?
Um direkter als bisher an Veränderungen mitwirken zu können. Ich habe mich
für die SPD entschieden, weil ich nicht nur Aktivist sein will. Ich kann
gut mit Strukturen umgehen.
Reicht Ihnen die Partei nicht?
Ich bin stellvertretender Vorsitzender meiner Partei. Da geht es nicht mehr
so viel weiter …
Doch.
Ich sitze in einem – gedachten – SPD-Hochhaus mit 20 Stockwerken im 19.
Stockwerk. Oben wird der Blick nicht mehr viel großartiger. Die Frage ist
eine andere: Bin ich hier auf Dauer wirkmächtig genug für das, was mich
antreibt? In der parlamentarischen Demokratie sollten frei gewählte
Abgeordnete die entscheidenden Rädchen im System der Tagespolitik sein.
Meine Arbeit als Vizeparteichef besteht ja vielfach darin, bei Abgeordneten
und Regierungsmitgliedern für Ideen und Konzepte zu werben.
Gibt es Themen, in denen Sie Experte sind?
Wenn man als Bundestagsabgeordneter im Wahlkreis für 350.000 Leute
zuständig sein möchte, muss man ein bisschen Generalist sein. Ich kann ja
in der Bürgersprechstunde nicht sagen: Ah, sie sind Heilpraktikerin, da
kann ich Ihnen leider nicht weiterhelfen. Ich bin im SPD-Präsidium speziell
für Bauen und Wohnen sowie den Sport zuständig und habe zwei Jahre an dem
sehr detaillierten Sozialstaatskonzept mitgearbeitet. Ich bin in der Lage,
mich tief in Themen einzuarbeiten, ohne dabei Nerd zu sein.
Profilierung im Bundestag geht nur über Expertentum. Würden Sie da in
Richtung Bauen und Wohnen gehen?
Ich würde gern erst mal gewählt werden.
6 Sep 2020
## LINKS
[1] /Italien-nach-dem-EU-Gipfel/!5700627
[2] /Nach-dem-EU-Gipfel/!5701598
[3] /Linkswende-auf-dem-SPD-Parteitag/!5644342
[4] /GroKo-verlaengert-Kurzarbeitergeld/!5704445
[5] /Selbststaendig-durch-die-Corona-Krise/!5700553
[6] /Neuer-Vizechef-in-der-SPD/!5648114
[7] /Olaf-Scholz-vor-G20-Sonderausschuss/!5458949
[8] /Scholz-und-die-Cum-Ex-Affaere/!5709394
[9] /Schwerpunkt-Fridays-For-Future/!t5571786
[10] /Konjunkturpaket-ohne-Auto-Kaufpraemie/!5686554
[11] /Bernie-Sanders-schmeisst-Kandidatur-hin/!5677749
[12] /US-Politikerin-Alexandria-Ocasio-Cortez/!5700687
[13] /Bisheriger-Juso-Chef-gibt-Posten-auf/!5705392
## AUTOREN
Stefan Reinecke
Ulrike Winkelmann
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Schwerpunkt Bundestagswahl 2025
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