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# taz.de -- Ein Jahr vor der Berlin-Wahl: Alle beim Wahlkampf
> In einem Jahr, im September 2021, wird in Berlin neu gewählt. In den
> Parteien aber hat die Qual der Wahl längst begonnen​.
Bild: Alle schon beim Wahlkampf? Leere im Plenarsaal des Berliner Abgeordnetenh…
Zwölf Monate, zwölf Umfragen, zwölfmal eine teils satte Mehrheit für eine
Koalition aus SPD, Linkspartei und Grünen. Da konnte die CDU auf
Bundesebene zuletzt boomen wie lange nicht mehr – in Berlin unterstützen
laut Befragungen seit August 2019 konstant 56 bis 57 Prozent der Wähler die
drei Parteien links der Mitte. Bloß jüngst im Juli waren es nur 53 Prozent
– aber damit immer noch mehr als bei der Abgeordnetenhauswahl 2016. Also
alles schon gelaufen für eine Neuauflage im September 2021? Bloß noch zu
klären, ob diese Koalition dann grün oder rot geführt ist? Nein, ganz und
gar nicht.
Ein Jahr noch bis zur Wahl, genauer: bis zu den Wahlen, denn parallel zur
Abgeordnetenhauswahl ist ja auch die zum Bundestag angesetzt. Prägen wird
diesen Tag zudem der mutmaßlich gleichfalls anstehende Volksentscheid
„Deutsche Wohnen & Co. enteignen“. Viel wird zudem davon abhängen, ob es
tatsächlich ab Januar einen Impfstoff gegen das Coronavirus geben wird, wie
das Robert-Koch-Institut, alles andere als ein Lautsprecher, jüngst
angekündigt hat, wie zügig dann geimpft werden kann – und wie schnell
Corona danach in den Hintergrund rückt und ganz anderes nach vorne. Wenn
nicht mehr vorrangig Krisenmanagement von Merkels ruhiger Hand gefragt ist,
wäre wieder Platz für Themen, bei denen CDU und CSU vorher weit weniger gut
aussahen, etwa beim Umweltschutz.
Viel hängt aber auch daran, wie es in der rot-rot-grünen Koalition auf
Berliner Landesebene weitergeht. Bringt das Thema Enteignungen – von der
Linkspartei und als letztes Mittel auch von den Grünen unterstützt, von den
Sozialdemokraten aber mehrheitlich abgelehnt – das Bündnis in den letzten
Monaten noch auseinander? Wie sehr prägt der parallele Volksentscheid die
Entscheidung bei der Wahl in Berlin?
Offen ist auch: Wie sehr beeinflusst der viel zitierte Bundestrend den
Ausgang der Abgeordnetenhauswahl? Schon bei Umfragen ist oft zu beobachten,
dass die Befragten sich merklich wenig an der landespolitischen Performance
der Parteien orientieren, sondern sich vorrangig vom Agieren der großen
Namen auf Bundesebene leiten lassen. Macht Angela Merkel in der Coronakrise
eine gute Figur, steigen die Werte der Berliner CDU, ohne dass die
währenddessen durch nennenswerte eigene Initiativen aufgefallen wäre. Und
mit den Grünen auf Bundesebene, die ohne eigenen Fehler in Umfragen
absackten, weil sie als Oppositionspartei in der Krise weniger als sonst im
Fokus sind, verloren auch die Berliner Grünen an Rückhalt: Sie sackten von
25 Prozent im Februar auf 19 Prozent im Juli ab.
Mit parallelen Wahlen zu Bundestag und Landesparlament am selben Tag dürfte
sich dieses Phänomen verstärken – die Union mit Merz/Laschet/Söder auf
Bundesebene wählen, aber der Berliner CDU die Stimme verweigern, das dürfte
nicht so oft passieren.
Schließlich ist da noch die Frage: Hat die designierte neue
SPD-Landeschefin und absehbare Spitzenkandidatin Franziska Giffey überhaupt
Lust auf Rot-Rot-Grün? Würde sie, die Noch-Bundesministerin, sich als
einfaches Senatsmitglied einordnen, falls die Grünen bei der Wahl vor der
SPD landen? Oder würde sie ein Bündnis mit CDU und FDP auszuloten
versuchen, um die Sozialdemokraten im Roten Rathaus zu halten und selbst
Regierungschefin zu werden? Was natürlich voraussetzt, dass die SPD vor der
CDU landet und die FDP überhaupt im Abgeordnetenhaus bleibt und nicht an
der Fünfprozenthürde scheitert.
Und was passiert, wenn es doch weniger Prozente als derzeit prognostiziert
werden für die jetzigen Koalitionsparteien, es also doch nicht erneut für
eine Mehrheit links der Mitte reicht? Bekommt dann eine grüne
Spitzenkandidatin von ihrer Basis freie Hand, um eine grün-schwarze
Koalition auszuloten? Oder noch schlimmer: eine schwarz-grüne? Dazu muss
diese Spitzenkandidatin gar keine Wirtschaftssenatorin vom Realo-Flügel
sein und Ramona Pop heißen, bei der linken Parteibasis für ein solches
Bündnis grundsätzlich verdächtig. Nein, auch Fraktionschefin Antje Kapek
pflegt solche Kontakte und war noch wenige Wochen vor dem Coronalockdown
mit CDU-Chef Kai Wegner eine Bio-Currywurst essen – man war nicht immer
einer Meinung, aber per du.
Viele Fragen, viele Unwägbarkeiten. Ein Jahr Vorlauf bis zum Wahltermin im
September 2021 scheint noch lang und eine US-Amerikanisierung hiesiger
Abstimmungen zu sein: Dort liegt schon zwischen dem ersten offiziellen
Vorwahltermin in Iowa zur Kandidatenauswahl und der eigentlichen
Präsidentenwahl am 3. November ein Dreivierteljahr, ganz zu schweigen vom
monatelangen Warmlaufen der Bewerber zuvor. Doch neu ist das eigentlich
auch in Berlin nicht: Bei der Abgeordnetenhauswahl 2011 war es schon gut
anderthalb Jahre vorher das liebste Gesprächsthema in der Landespolitik, ob
Renate Künast, damals Bundestagsfraktionschefin, grüne Spitzenkandidatin
würde.
Wie dem auch sei: Er hat begonnen, der Kampf ums Rote Rathaus, das nach
Wunsch von Künasts Parteifreunden grün werden soll. (sta)
## Die SPD: Was will diese Frau?
Wer wird die SPD im kommenden Jahr in den Wahlkampf führen? Seit Januar
scheint diese Frage eigentlich beantwortet. Nachdem
Bundesfamilienministerin Franziska Giffey und der Fraktionschef im
Abgeordnetenhaus, Raed Saleh, den Regierenden Bürgermeister Michael Müller
als Landesvorsitzenden abgelöst haben, wird Giffey zur Spitzenkandidatin
gekürt. So weit die Theorie.
Die Praxis ist komplizierter. Denn sie hat damit zu tun, ob Giffey nicht
nur als Spitzenkandidatin, sondern bereits als Regierungschefin in den
Wahlkampf ziehen, Müllers Nachfolge also schon vor der Wahl antreten will.
Bislang sieht es nicht danach aus: „Giffey will keine Probleme erben“,
heißt es aus ihrem Lager. Das böte die Möglichkeit, nach der Wahl einen
„klaren Cut zu machen“.
Wie ein solcher Cut aussehen könnte, hat sich bereits angedeutet. Nachdem
Müller angekündigt hat, für den Bundestag kandidieren zu wollen, haben auch
Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci und Bildungssenatorin Sandra Scheeres
ihren Rückzug angekündigt. Auch Finanzsenator Matthias Kollatz schwimmen
die Felle davon. In der Partei wird gemunkelt, der Parlamentarische
Geschäftsführer der SPD-Fraktion im Abgeordnetenhaus, Torsten Schneider,
habe ein Auge auf dessen Amt geworfen. Selbst Andreas Geisel muss sich
Sorgen machen, denn das Amt des Innensenators wäre wohl die Krönung der
politischen Laufbahn von Raed Saleh.
So weit die Personalüberlegungen, die sich bis in den Dezember ziehen
dürften. Denn auf dem Parteitag am 31. Oktober soll zunächst nur der neue
Landesvorstand gewählt werden. Spannend wird es dann am 19. Dezember, wenn
erst über die Listenplätze für den Bundestag abgestimmt wird und dann
Giffey zur Spitzenkandidatin gekrönt werden soll.
Entscheidend dabei wird sein, welchen Listenplatz Michael Müller einnimmt.
Sollte die SPD nur noch vier Bundestagsmandate bekommen, könnte das bei
einem möglichen Direktmandat in Spandau bedeuten, dass nur drei
Listenplätze sicher sind. Bekannt ist, dass sowohl Müller als auch
Ex-Juso-Chef Kevin Kühnert in den Bundestag wollen. Sollte die SPD zudem
entscheiden, dass die Liste mit einer Frau beginnt (gesetzt ist hier Cansel
Kiziltepe aus Friedrichshain-Kreuzberg), würde es für Kühnert und Müller
nicht reichen. Aber auch, wenn die Liste mit einem Mann beginnt, ist nicht
sicher, wer diesen Platz einnehmen wird. Alle Versuche, sich mit Kühnert
abzusprechen, sind offenbar gescheitert.
Es könnte also gut sein, dass Müller am 19. Dezember leer ausgeht. Wird er
dann auch als Regierungschef zurücktreten? Das sei nicht geplant, heißt es
aus seinem Lager. Aber es könne sich natürlich die Situation ergeben, dass
Giffey früher ranmuss als geplant. Und das soll wohl heißen: Wählt mal
schön alle Müller auf Platz eins, sonst folgen dem 19. Dezember wieder mal
Chaoswochen in der Berliner SPD. Dazu könnten dann auch vorgezogene
Neuwahlen gehören. (wera)
## Die Grünen: Pop oder Kapek
Es dürfte gerade der exklusivste Klub Berlins sein. Sechs Mitglieder, dann
ist die Tür zu. Was das Treffen so attraktiv macht: Diese Sechs
entscheiden, inoffiziell zumindest, darüber, wer grüne Spitzkandidatin bei
der Abgeordnetenhauswahl wird und dadurch große Chancen hat, Berlins erste
Regierende Bürgermeisterin zu werden – als die SPD-Politikerin Louise
Schroeder Stadtoberhaupt war, hieß das noch Oberbürgermeisterin.
„Spitzenkandidatin“, weil in diesem Klub feststeht, dass eine Frau die
Grünen in den Wahlkampf führen soll. Offen ist aber, ob diese Frau
Fraktionschefin Antje Kapek sein soll oder erneut Wirtschaftssenatorin
Ramona Pop, die bereits bei der Wahl 2016 an der Spitze der
Grünen-Kandidatenliste stand.
Der exklusive Sechser-Klub hat dabei vor allem einen Zweck: die Sache im
Vorfeld des Grünen-Parteitags am 28. November zu klären und zu verhindern,
dass es dort zu einem Duell kommt, das die Partei spalten statt auf den
Wahlkampf einschwören könnte. Versteinerte Mienen der Unterlegenen und
ihrer Anhängerschaft sind nicht die Bilder, die nach Willen der führenden
Grünen von dem Parteitag ausgehen sollen.
Mitglieder des Auswahl-Klubs sind neben den beiden Kandidatinnen selbst –
die offiziell noch gar keine Ansprüche erhoben haben – die
Landesparteichefs Nina Stahr und Werner Graf sowie Kapeks
Co-Fraktionsvorsitzende Silke Gebel und der parlamentarische
Geschäftsführer der Abgeordnetenhausfraktion und frühere langjährige
Parteichef, Daniel Wesener. Und bislang halten in diesem Klub auch alle
dicht, die Kandidatinnen eingeschlossen.
Beide möglichen Spitzenkandidatinnen sind etwa gleich alt – Kapek wird im
September 44, Pop im Oktober 43 –, beide haben ihr ganzes politisches Leben
in Berlin verbracht. Für Kapek begann das als Kind: Auch ihr Vater Frank
war Mitglied des Abgeordnetenhauses. Pop wechselte im Studium nach Berlin,
war Bundesvorsitzende der Grünen Jugend und Teil eines Förderprogramms.
Ihre Mentorin dabei: die damalige Bundesministerin Renate Künast, 2011
selbst grüne Nummer 1 bei der Abgeordnetenhauswahl. Pop ist die Reala,
Kapek ist als Kreuzbergerin dem linken Parteiflügel zuzuordnen. Pop musste
im Dezember einen Tiefschlag verdauen, als ein Grünen-Parteitag die von ihr
unterstützte Bewerbung für die große Auto-Schau IAA ablehnte – hat aber als
Senatorin in der Coronakrise mehr Medienpräsenz denn je. (sta)
## Linke: Auf den Deckel kommt's an
Es ist manchmal schon fast beängstigend, wie leise die Berliner Linkspartei
ihre Personalien ordnet. Das war beim Generationenwechsel an der
Fraktionsspitze so und bei der Nachbesetzung des Postens der
Stadtentwicklungssenatorin. Auch die Spitzenkandidatur für die
Abgeordnetenhauswahl im September 2021 wird keine Ausnahme darstellen:
Kultursenator Klaus Lederer dürfte es werden. Im Dezember, so ist es
geplant, soll ein Parteitag darüber entscheiden.
Und selbst wenn Corona diese Kür unmöglich machen sollte: Niemand in der
Partei macht dem 46-Jährigen aktuell die Poleposition streitig – obwohl
Lederer nicht mehr Landeschef ist. Das war auch auf dem letzten Parteitag
im August zu beobachten: Neben der Parteivorsitzenden Katina Schubert, die
das Amt vor knapp vier Jahren von Lederer übernahm, hatte nur der
Kultursenator einen längeren Auftritt.
Es gelang ihm in diesen 30 Minuten, zugleich das Profil der Partei zu
betonen und die Koalition strahlend dastehen zu lassen. Der Mietendeckel,
eine krisenfeste Daseinsfürsorge, die Stärkung der öffentlichen Hand –
dafür werde sich die Linke weiterhin einsetzen; dank Rot-Rot-Grün sei die
Wende zu einer sozialeren Stadtentwicklung gelungen. Die Verlierer der
Krise sind laut dem Kultursenator die Hartz-IV-EmpfängerInnen – und die
vielen Solo-Selbstständigen, für die Lederer früh ein bundesweit
beispielhaftes Förderprogramm aufgelegt hatte. Überhaupt gelingt es ihm mit
wenigen Ausnahmen, umfangreiche Unterstützung für die wegen Corona
siechende Kulturszene der Stadt zu organisieren und damit – ähnlich wie in
den anderen beiden linken Senatsressorts – die Klientel der Partei zu
bedienen.
„Unduldsam, beherzt, gerecht“, wirbt Lederer auf seiner Webseite für sich.
Ersteres – laut Duden unter anderem ein Synonym für intolerant und
unerbittlich – zeigt sich bei jeder seiner schnellen, bisweilen
stakkatoartigen und immer wieder auch theoriegeschwängerten Reden, der
nicht unbedingt alle ZuhörerInnen folgen und folglich schwer widersprechen
können. Vielleicht wäre auch „ungeduldig“ das bessere Wort. Lederer ist
sich dieser Schwierigkeit bewusst und versucht sich zu bremsen. So auch
beim jüngsten Parteitag. Es gelang ihm nur kurz.
Dennoch hat es der Kultursenator, der zudem für Europa und die Religionen
zuständig ist, laut Umfragen zum beliebtesten Politiker der Stadt gebracht.
Doch damit Lederer den Sprung ins Rote Rathaus schafft, muss seine Partei
noch ein bisschen zulegen. Nach einem Zwischenhoch in Umfragen zur Mitte
der Legislaturperiode liegt die Linke seit einiger Zeit konstant hinter den
Grünen. Wobei unklar ist, wie stabil diese Erhebungen unter
Coronabedingungen sind.
Für Lederer wie für seine Partei wird es vor allem darauf ankommen, ob der
Mietendeckel vor dem Verfassungsgericht Bestand hat. Hält der maßgeblich
von der zurückgetretenen linken Stadtentwicklungssenatorin Katrin Lompscher
durchgesetzte Deckel, kann die Linke damit bei den mehr als 1,5 Millionen
MieterInnenhaushalten potenziell als progessive und mutig punkten. Kippt er
ganz oder teilweise, wird es darauf ankommen, ob die WählerInnen schon den
Versuch einer radikal anderen Mietenpolitik gutheißen oder das Scheitern
der Linken anlasten. (bis)
## CDU: An der Spitze ist es einsam
Es ist zuletzt ein bisschen still geworden um die Berliner CDU. Mit einem
überraschend anderen Ansatz in Sachen Umweltpolitik, einem unterhaltsamen
Online-Parteitag und einem Logo-Wechsel samt einer digitalen Kampagne
namens „#aufgehtsberlin“ hatten die Christdemokraten in der ersten
Jahreshälfte trotz Corona noch ein paar Lebenszeichen geben können. Sogar
„Guerilla-Aktionen“ hatte Generalsekretär Stefan Evers für die folgenden
Monate angekündigt – doch falls es sie gegeben hat, haben sie jedenfalls
bislang nicht für Aufmerksamkeit gesorgt. Und auch wenn die CDU weiter
offenlässt, wann sie und wen zum Spitzenkandidaten für die
Abgeordnetenhauswahl kürt – die Antwort darauf beschäftigt die
Landespolitik weit weniger als die bei den Grünen anstehende Entscheidung
zwischen Ramona Pop und Antje Kapek.
Zumal auch immer klarer zu sein scheint, dass Parteichef Kai Wegner selbst
die Spitzenkandidatur übernehmen wird – beziehungsweise übernehmen muss.
Klassischerweise hat die Partei drei Möglichkeiten: 1. jemand aus den
eigenen Reihen, am naheliegendsten den Landesvorsitzenden, 2. ein
Parteifreund von der Bundesebene oder 3. eine der CDU nahestehende
„Persönlichkeit des öffentlichen Lebens“ – etwa ein erfolgreicher
Unternehmer wie bei der Landtagswahl in Bremen 2019.
Von Variante 3 ist gar nichts zu hören, und dass Nummer 2 überhaupt immer
mal wieder im Gespräch ist, liegt an der nostalgischen Erinnerung daran,
dass es eben einmal so geklappt hat: Mit dem späteren Bundespräsidenten
Richard von Weizsäcker, vormals für die rheinland-pfälzische CDU im
Bundestag, holte die CDU 1981 mit 48 Prozent ihr bis heute bestes Ergebnis
bei der Berlinwahl und Weizsäcker wurde Regierender Bürgermeister.
Der zweite Versuch in diese Richtung fand eine Etage niedriger statt, als
sich 2006 Friedbert Pflüger versuchte, vormals parlamentarischer
Staatssekretär für Verteidigung – mit dem bis dahin schlechtesten
CDU-Ergebnis aller Zeiten von 21 Prozent, noch weniger als nach dem
Bankenskandal fünf Jahre zuvor. Das große Problem einer solchen externen
Lösung besteht zudem darin, zu erklären, wieso ein 12.000 Mitglieder großer
Landesverband in den eigenen Reihen niemanden für die Spitzenkandidatur
findet.
Geht es letztlich doch über die berlininterne Variante und wird es
Parteichef Wegner, dürfte er sich nicht um den Job gerissen haben. Denn
auch wenn die Christdemokraten Chancen haben, im Sog ihrer Bundespartei
wegen der zeitgleichen Bundestagswahl stärkste Kraft in Berlin zu werden:
Der CDU fehlen bislang potente Koalitionspartner zum Regieren, und
Rot-Rot-Grün hat trotz aller Probleme in allen Umfragen weiter eine
Mehrheit. Wegner – derzeit baupolitischer Sprecher der
CDU/CSU-Bundestagsfraktion – wäre dann zwar Fraktions- und Oppositionschef
im Landesparlament, aber er wäre eben auch wieder dort, wo er vor seinem
Wechsel in den Bundestag 2005 bereits sechs Jahren Abgeordneter war.
Eine führende Funktion in einer Regierungspartei auf Bundesebene mit
Gestaltungsmöglichkeiten eintauschen gegen fünf Jahre Opposition in einem
Landtag? Das wirkt nicht gerade reizvoll. Weiter im Bundestag zu schalten
und zu walten und wie jetzt parallel als Landesparteichef die Berliner
Dinge zu gestalten dürfte weit attraktiver sein.
Dass die Frauen in der CDU nicht laut nach der Spitzenkandidatur riefen,
dürfte viel mit dem Schicksal von Wegners Vorgängerin an der
Landesparteispitze zu tun haben, Kulturstaatsministerin Monika Grütters:
Statt ihr den Rücken zu stärken, als Wegner 2019 den Landesvorsitz für sich
forderte, schwenkte die Partei flugs auf ihn um. So etwas mag sich
vielleicht so schnell keine andere Christdemokratin antun. (sta)
## AfD: Führerprinzip greift noch nicht
Die AfD 2020 klingt irgendwie ganz schön nach 2016. Wahlkampfthemen für die
Abgeordnetenhauswahl in einem Jahr stünden noch nicht fest, heißt es auf
Nachfrage von einem Parteisprecher, vermutlich aber irgendwas mit „innerer
Sicherheit“ und „illegaler Masseneinwanderung“. Während andere Parteien
bereits in den Wahlkampfmodus schalten, ist die Berliner AfD mit sich
selbst beschäftigt. Was will man auch von einer Partei erwarten, die seit
über einem Jahr vergeblich versucht, einen Parteitag zu veranstalten? Und
so ist ihr Bild derzeit von Fraktionsintrigen und öffentlichem Streit
bestimmt.
Die Kandidatur für den Spitzenplatz zur Abgeordnetenhauswahl von
[1][Fraktionschef Georg Pazderski] wurde von seinen Fraktionsfeinden mit
dem [2][Durchstechen eines Brandbriefes] an nicht gerade befreundete Medien
beantwortet. Darin war von der Gutsherrenart des pensionierten
Bundeswehroberst zu lesen und von einer bis zur Arbeitsunfähigkeit
zerrütteten Fraktion. Ob der sich gern bürgerlich gebende Pazderski also
genug Zustimmung für eine Kandidatur erhält, ist offen. Denn er ist bei
vermeintlich gemäßigten AfDler:innen ebenso umstritten wie im nicht eben
kleinen rechtsextremen „Flügel“-Lager. Aus Parteikreisen heißt es, eine
Wiederwahl Pazderskis falle und stehe mit einer vorzeigbaren
Gegenkandidatur. Problem nur: Es gebe kaum vorzeigbare Kandidat:innen.
Einige AfDler:innen sahen in der sich konservativ-liberalen gebenden
Kristin Brinker eine geeignete Gegenspielerin zu Pazderski. Aus
Parteikreisen ist aber auch zu hören, dass sie gar nicht in die erste Reihe
wolle. Dazu dürfte auch der Kleinkrieg hinter den Kulissen beigetragen
haben: Brinkers Kritik an Pazderskis Führungsstil und dessen offenbar
undurchsichtigen Fraktionsfinanzen ist mittlerweile in einen Rechtsstreit
ausgeartet.
Dieser Streit überschattet den bislang größten Erfolg der AfD als
Oppositionspartei: Die parlamentarische Anfrage der als finanzpolitische
Sprecherin fungierenden Brinker zu den Nebeneinkünften der Senatsmitglieder
hatte zum [3][Rücktritt der linken Bausenatorin Katrin Lompscher] geführt.
Nicht zuletzt damit qualifizierte Brinker sich für einige AfDler:innen zur
geeigneten Gegenspielerin Georg Pazderskis.
Wie viel Kapital die AfD aus dem Sturz Lompschers bei Wähler:innen schlagen
kann, ist aber völlig offen: Denn bezeichnenderweise trat Brinker selbst
nur zehn Tage später von ihrem Amt als Vize-Fraktionsvorsitzende zurück.
Eine Antwort auf den Machtkampf in der AfD wird es frühestens im Oktober
geben. Denn dann soll endlich ein Landesparteitag stattfinden, der neben
der überfälligen Neuwahl des behelfsmäßigen Notvorstands auch die Frage
nach dem Spitzenpersonal für den Wahlkampf klären soll.
Das Einzige, was bei der AfD bis dahin kontinuierlich läuft, ist das
Anheizen ihres Facebook-Mobs. Dort regnet es rassistische Wut-Emojis, wenn
sich die rechte Partei über das rot-rot-grüne Berlin („verkehrspolitisches
Umerziehungslager“, „Dealer-Paradies Görli“) aufregt oder einzelne
Politiker:innen an den Pranger stellt. In Wählerstimmen bildet sich das
aber offenbar bislang nicht ab: In Umfragen stagniert die AfD in Berlin bei
10 bis 12 Prozent. (gjo)
5 Sep 2020
## LINKS
[1] /Pazderski-kandidiert-fuer-die-AfD-Berlin/!5698506
[2] /AfD-Berlin-rebelliert-gegen-Pazderski/!5694217
[3] /Ruecktritt-von-Berlins-Bausenatorin/!5700098
## AUTOREN
Stefan Alberti
Uwe Rada
Bert Schulz
Gareth Joswig
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