# taz.de -- Asyl für russische Kriegsverweigerer: „Die Leute werden total h�… | |
> Sie sind gegen den Krieg – und kommen aus Russland. Über den | |
> komplizierten Weg für Kriegsdienstverweigerer und Deserteure, Asyl zu | |
> bekommen. | |
Bild: Ein russischer Asylantragsteller in Finnland | |
BERLIN taz | Von Anfang an protestierte er gegen den russischen | |
Angriffskrieg gegen die Ukraine. T.S., wie sein Anwalt ihn öffentlich | |
nennt, stammt aus der am Ural gelegenen russischen Großstadt Tscheljabinsk | |
und ist Mitglied der sehr kleinen Russischen Maoistischen Partei. Noch | |
haben sehr [1][wenige russische Deserteure] und Kriegsdienstverweigerer in | |
Deutschland einen Antrag auf Asyl gestellt. Einer von ihnen ist S. | |
Nur Tage nach Beginn des russischen Angriffs habe S. in seiner Heimatstadt | |
an einer Demonstration teilgenommen, dabei ein Transparent mit der | |
Aufschrift „Maoisten gegen den Krieg“ und dem Kürzel seiner Partei | |
getragen, sagt Anwalt Peter Klusmann, der in Deutschland regelmäßig die | |
marxistisch-leninistische Kleinstpartei MLPD vertritt. Dort sei er | |
verhaftet und später wegen des „vorgeschobenen Vorwurfs“ des Widerstands | |
gegen Polizeibeamte zu einer Geldstrafe verurteilt worden. In Gewahrsam | |
habe er psychische Gewalt erfahren, an deren Folgen er noch immer leide. | |
Aus Sorge vor weiteren Repressionen habe S. Russland verlassen. Über einen | |
Umweg in die Türkei gelang ihm im Juli die Einreise nach Deutschland, | |
[2][wo er Asyl beantragte]. In der Zwischenzeit sei seiner Familie auch | |
seine Einberufung zum Wehrdienst zugestellt worden. S. sei also bei einer | |
Rückkehr in sein Heimatland gleich mehrfach gefährdet, erklärt sein Anwalt: | |
„Er ist den Behörden als Gegner des Putin-Regimes und des | |
völkerrechtswidrigen Angriffskrieges gegen die Ukraine bekannt, und er muss | |
mit einer sofortigen Heranziehung zum Wehrdienst unter den katastrophalen | |
Bedingungen der Teilmobilmachung und seinem Einsatz in einem | |
völkerrechtswidrigen Krieg rechnen.“ Zudem müssten seine Traumatisierung | |
und seine schwere depressive Erkrankung berücksichtigt werden. | |
## Derserteure erhalten „im Regelfall Schutz“ | |
Ob Verweigerer in Deutschland tatsächlich Chancen auf Asyl haben, ist | |
schwer zu sagen. Auch der Verein Connection oder die | |
Menschenrechtsorganisation Pro Asyl tun sich schwer mit einer Einschätzung | |
– fordern aber einen Asylanspruch vehement ein. Desertieren allein ist | |
nicht per se ein Grund für Asyl. Wenn Soldaten aber desertieren, weil sie | |
im Dienst Verbrechen oder menschenrechtswidrige Handlungen ausüben müssten, | |
haben sie nach deutschem und europäischem Recht Anspruch auf Asyl. | |
Das Bundesinnenministerium erklärte, dass bei russischen Deserteuren im | |
Falle ihrer Rückkehr „derzeit in der Regel von drohenden | |
Verfolgungshandlungen“ ausgegangen werden könne. In Zeiten, in denen schon | |
das Wort „Krieg“ für das Geschehen in der Ukraine strafbewehrt sei, könne | |
eine Desertation als „Ausdruck einer oppositionellen Überzeugung“ gewertet | |
werden. „Deserteure, die sich an Putins Krieg nicht beteiligen wollen“, | |
erhielten „im Regelfall internationalen Schutz“, so das | |
Bundesinnenministerium. | |
Komplizierter ist die Lage von Russen, die sich nicht unerlaubt von der | |
Truppe entfernen, sondern sich schon der Einberufung entziehen. Dabei | |
dürfte das die weitaus größere Gruppe sein, denn als Soldat unerlaubt das | |
Land zu verlassen, ist ungleich schwerer. Eine Anerkennungschance auf Asyl | |
haben Verweigerer bisher nicht – obwohl inzwischen sowohl der | |
Bundesjustizminister als auch die Bundesinnenministerin und sogar der | |
Bundeskanzler erklärt haben, jenen Schutz anzubieten, die sich nicht an | |
einem völkerrechtswidrigen Krieg beteiligen wollen. | |
Das sehen andere EU-Länder anders. Vor allem die baltischen Staaten stehen | |
fliehenden Russen ablehnend gegenüber. So erklärte etwa die estnische | |
Außenministerin Kaja Kallas im September, ihr Land gewähre „russischen | |
Männern kein Asyl, die aus ihrem Land fliehen. Sie sollten sich lieber | |
gegen den Krieg stellen.“ Im Juni antwortete das Bundesinnenministerium | |
(BMI) auf eine Anfrage der Linken-Abgeordneten Martina Renner, bei | |
Wehrdienstverweigerern könne „im Einzelfall“ eine | |
„flüchtlingsschutzrelevante Verfolgung“ vorliegen oder die Bedingungen für | |
subsidiären Schutz erfüllt sein. | |
Fragt man im Ministerium nach dem Stand der Dinge, heißt es seit Wochen: | |
„Diejenigen, die in die Armee eingezogen werden sollen und den Kriegsdienst | |
verweigern, können ebenfalls Asyl beantragen. Für diese Personengruppe | |
überprüft das BAMF (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, d. Red.) | |
derzeit die Entscheidungspraxis und wird diese soweit erforderlich | |
anpassen.“ Den Betroffenen hilft das bislang nicht: Auf Nachfrage erklärt | |
das BMI Mitte Dezember, die Prüfung dauere immer noch an – und solle | |
„möglichst zeitnah abgeschlossen werden“. | |
## Knackpunkt Einreise | |
Diese Ungleichbehandlung von Deserteuren und Verweigerern sei ein Problem, | |
sagt Rudi Friedrich vom Verein Connection, der sich für | |
Kriegsdienstverweigerer einsetzt. „Im Rahmen der Teilmobilisierung in | |
Russland gab es regelrechte Razzien, Wohnhäuser wurden umstellt, um die | |
Leute mitzunehmen.“ Da sei es nur vernünftig, nicht zu warten, bis die | |
Einberufung auf dem Tisch liege. „Aber dann sind die Leute natürlich nicht | |
desertiert und können nicht mal nachweisen, dass wie wirklich einberufen | |
wurden. Dann wird es im Asylverfahren für sie, fürchte ich, sehr, sehr | |
schwierig.“ | |
Auch die Linkspartei im Bundestag forderte im September, kurz nach der | |
Teilmobilmachung, effektiven Schutz für Deserteure und | |
Kriegsdienstverweigerer. „Kriegsdienstverweigerung ist ein Menschenrecht“, | |
heißt es in dem Antrag. Die Bundesregierung solle „alle notwendigen | |
Maßnahmen auf nationaler und europäischer Ebene“ ergreifen, damit den | |
Betroffenen „eine sichere [3][Einreise in die EU] bzw. nach Deutschland | |
möglich ist und ihnen unkompliziert ein sicherer Schutz und | |
Aufenthaltsstatus erteilt wird“. | |
Die Einreise selbst ist in der Tat ein Knackpunkt. S. versuchte, in der | |
deutschen Botschaft in Ankara ein Visum für Deutschland zu beantragen. Auf | |
taz-Anfrage erklärt das BMI, dieser Schritt sei zumindest für langfristige | |
Visa möglich, „wenn die Beantragung an einer der deutschen | |
Auslandsvertretungen in Russland unzumutbar ist, etwa weil dort konkret die | |
Einziehung zum Kriegsdienst droht“. | |
Im Fall von S. habe die Botschaft in der Türkei sich für „nicht zuständig�… | |
erklärt und ihn an eine Auslandsvertretung in seinem Heimatland verwiesen, | |
berichtet sein Anwalt. „Das wäre gleichbedeutend mit der erheblichen | |
Gefährdung von Freiheit und Leben unseres Mandanten durch Inhaftierung, | |
Verfolgung und wahrscheinlich Einzug zum Militär bei einer Rückkehr nach | |
Russland!“ S. begab sich stattdessen in die Hände von Schleppern, um nach | |
Deutschland zu gelangen. | |
Wie viele Menschen Russland aus Sorge vor einer Einberufung bislang | |
verlassen haben oder gar von der Truppe desertiert sind, ist unbekannt. | |
Klar ist nur: Nachdem im September die Teilmobilisierung angekündigt wurde, | |
war der Ansturm auf die Land- und Flugverbindungen außer Landes groß. Das | |
Magazin Forbes berichtete von 700.000 Menschen, die in den zwei Wochen | |
darauf das Land verließen – darunter aber zum Beispiel auch Tourist*innen. | |
Der Verein Connection geht von 150.000 Menschen aus, die Russland wegen | |
Militärdienstverpflichtungen verlassen haben. | |
Wie viele Deserteure und Kriegsdienstverweigerer aus Russland bisher in | |
Deutschland Asyl beantragt haben, lässt sich nicht sagen. Bis Ende November | |
dieses Jahres wurden 2.313 Erstanträge auf Asyl von russischen | |
Staatsbürger*innen gestellt. Aus welchen Gründen, das gibt die | |
Statistik nicht her. | |
Sie hätten bisher „einige Hundert Anfragen“ von Russen zum Thema Asyl in | |
Deutschland bekommen, sagt Rudi Friedrich vom Verein Connection. Die | |
meisten Ratsuchenden hielten sich noch in Russland oder in Nachbarländern | |
auf. Er schätzt, dass unter denen, die bereits Asyl in Deutschland | |
beantragt haben, etwa 300 im militärdienstpflichtigen Alter sind. „Davon | |
sind einige sicher auch regimekritisch aktiv, das dürfte im Asylverfahren | |
gewichtiger sein.“ Auch der Anwalt von S. setzt im Asylverfahren nicht | |
allein auf seine Kriegsdienstverweigerung, sondern auch auf sein Engagement | |
bei den Maoisten und gegen den Krieg. | |
Die meisten, die bei ihnen Rat suchen, erkundigten sich erst mal nach | |
anderen Wegen als dem des Asyls, sagt Friedrich. „Das sind zum Teil sehr | |
gut ausgebildete Leute. Über eine lange und ungewisse Zeit im Asylverfahren | |
hängen zu müssen, das wäre für viele schlimm.“ Mit den richtigen | |
Voraussetzungen können Russ*innen alternativ ein Visum zur Erwerbsarbeit | |
oder für ein Studium beantragen. Die Bundesregierung hat sich darauf | |
verständigt, wegen ihres Engagements gegen den Krieg besonders gefährdeten | |
russischen Oppositionellen, Journalist*innen und vergleichbaren | |
Personengruppen eine Aufnahme nach Paragraf 22 Aufenthaltsgesetz zu | |
ermöglichen – also eine humanitäre Aufenthaltserlaubnis „zur Wahrung | |
politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland“. Bislang hat das BMI | |
964 solcher Fälle zugestimmt, davon entfallen 395 auf Familienangehörige | |
der Bedrohten. | |
Deserteure und Kriegsdienstverweigerer fallen allerdings nicht unter die | |
Definition, wie ein BMI-Sprecher auf Anfrage bekräftigt. „Es wäre wichtig, | |
die humanitären Visa auf Militärdienstentzieher auszuweiten“, sagt | |
Friedrich. Er fordert von der EU ein deutlich stärkeres Engagement für | |
jene, die nicht in Russlands völkerrechtswidrigem Krieg kämpfen wollen. „Es | |
ist frustrierend. Einerseits ruft der Präsident des Europäischen Rats, | |
Charles Michel, russische Soldaten explizit zum Desertieren auf. Echte | |
Schutzangebote aber und Unterstützung bei der Flucht bleiben aus. Die Leute | |
werden total hängen gelassen.“ | |
Auch für S.’ Anwalt Klusmann ist die Sache klar: Seinem Mandanten müsse als | |
Oppositionellem und Kriegsdienstgegner der Flüchtlingsstatus zuerkannt | |
werden. Und, so fordert Klusmann: „Die Bundesregierung muss ihre | |
Ankündigung, den russischen Kriegsverweigerern effektiven Schutz zu | |
gewähren, jetzt endlich in die Tat umsetzen.“ | |
19 Dec 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Kriegsdienstverweigerer-aus-Russland/!5881426 | |
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## AUTOREN | |
Dinah Riese | |
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