# taz.de -- Russische Deserteure in Deutschland: Flucht vor dem Töten | |
> Tausende Russen haben in Deutschland Asyl beantragt, weil sie den | |
> Kriegsdienst verweigern. Gewährt wird es nur wenigen, obwohl ihnen die | |
> Einberufung droht. | |
Bild: Der russische Desserteur Daniil, fotografiert in Kulmbach | |
Ilja Jaschin ist auf Tour. Der russische Regimekritiker fährt | |
deutschlandweit von Stadt zu Stadt, um mit Menschen aus der | |
postsowjetischen Community zu diskutieren. Über den Krieg in der Ukraine, | |
[1][die zerstreute – und zerstrittene – Exilopposition.] Und natürlich auch | |
über Putin. | |
An diesem Abend Ende Februar drängen sich etwa 150 Leute in den | |
Gemeindesaal der Nürnberger Lorenzkirche. Es sind Junge und Alte, viele | |
sind erst seit dem Krieg hier, einige leben schon seit Jahrzehnten in | |
Deutschland. Kurz vor dem Ende der Diskussion steht ein junger Mann auf. Er | |
erzählt, dass er seit zwei Jahren in Bayern lebt, dass sein Asylantrag aber | |
abgelehnt worden sei, obwohl er gegen diesen Krieg ist und vor ihm geflohen | |
ist. Und dass er so viele Russen kennt, denen das Gleiche passiert ist. | |
Nach der Veranstaltung reden Jaschin und der Mann zu zweit miteinander. | |
Später wird der junge Russe sagen, dass der Oppositionelle ihm aufmerksam | |
zugehört habe, aber wirklich helfen könne er ihm natürlich nicht. Das | |
könnte nur der deutsche Staat. Doch der scheint sich nicht wirklich mit dem | |
Problem befassen zu wollen. | |
## Leeres Versprechen auf Asyl | |
6.300 Asylanträge haben russische Männer im wehrfähigen Alter zwischen 18 | |
und 30 Jahren seit Beginn des Kriegs gestellt. Nur 349 von ihnen haben | |
bislang Asyl erhalten. Es ist eine sehr kleine Zahl im Vergleich zu den | |
sehr großen Worten, die deutsche Politiker nach dem 24. Februar 2022 | |
aussprachen. In dem Bundestagsbeschluss zur Unterstützung der Ukraine | |
wurden [2][russische Soldaten aufgefordert, den Kampf zu verweigern] und | |
nach Deutschland zu fliehen – mit dem Hinweis auf mögliches Asyl in der | |
Bundesrepublik. Im Herbst 2022 wiederholten der damalige Bundeskanzler Olaf | |
Scholz und Bundesinnenministerin Nancy Faeser dieses Angebot. | |
Doch nach fast dreieinhalb Jahren gibt es immer noch kein wirkliches | |
Verfahren, um russische Deserteure aufzunehmen. Männer, die bereits vor dem | |
Einzug in die Armee geflohen sind, haben noch schlechtere Chancen auf Asyl. | |
Die Folge: Tausende von ihnen leben teilweise seit Jahren in Deutschland. | |
Ihre Zukunft ist ungewiss und sie leben in Angst vor einer möglichen | |
Abschiebung. | |
Daniil ist einer von ihnen. Der 30-Jährige ist der Mann, der Ilja Jaschin | |
von genau diesem Problem erzählt hat. Ende März sitzt er in einem Café im | |
beschaulichen Kulmbach, 110 Kilometer nördlich von Nürnberg gelegen. Er | |
wundert sich, dass so viele Leute an einem Montagmittag einfach Kaffee | |
trinken. „Müssen die nicht arbeiten?“ Er lacht. Er selbst hat heute frei. | |
Eigentlich heißt Daniil anders, aber er fürchtet sich davor, seinen echten | |
Namen zu veröffentlichen. Er hat noch Familie in Russland. Aber er möchte | |
seine Geschichte erzählen. Er wird drei Stunden lang sprechen und nur ein | |
einziges Mal eine kurze Pause machen. | |
## Damals hat er gelacht | |
Daniil lebt seit über zwei Jahren in Kulmbach. Er ist nicht nur vor dem | |
Krieg geflohen, sondern auch vor dem Regime. Schon Jahre vor seiner Flucht | |
war er politisch aktiv und kritisierte öffentlich die Politik. 2016 fanden | |
in seinem Heimatdorf nahe der südlichen Großstadt Krasnodar Kommunalwahlen | |
statt. „Ein Freund von mir hatte die Idee, am Wahltag T-Shirts zu tragen, | |
auf denen kritische Parolen über das Regime gedruckt wurden.“ Daniil habe | |
sich gefürchtet, die möglichen Risiken erahnt. „Aber mein Wunsch, meine | |
Meinung zu äußern, war stärker.“ Die beiden Männer seien von der Polizei | |
festgenommen worden, Passanten hätten ihnen ins Gesicht gespuckt. „Damit | |
fing der Ärger an.“ | |
Die beiden wurden wieder freigelassen. Daniils Freund wurde jedoch von da | |
an ständig von der Polizei beobachtet. Daniil selbst erhielt ein | |
Ultimatum: „Entweder du gehst zur Armee oder du wirst in Zukunft große | |
Probleme bekommen.“ Ein Jahr lang steckte Daniil im tiefsten Ural fest, | |
aber die erhoffte Gehirnwäsche verlief bei ihm erfolglos. Nach seinem | |
Dienst nahm er weiter an Demos und Protestaktionen teil, etwa 2021 nach | |
[3][Alexei Nawalnys] Verhaftung. Wirkliche Konsequenzen konnte Daniil | |
vermeiden: „Damals ließ Putin noch kleine Freiheiten und Veränderungen zu.�… | |
Daniil dachte nicht oft an seine Zeit bei der Armee. Er vergaß auch, dass | |
er nach seinem Dienst einen kleinen Vermerk in den Wehrpass erhalten hatte. | |
Nur ein paar Sätze – die unter anderem der Grund dafür sind, weshalb er | |
heute in Deutschland lebt. „Nach dem Dienst musste ich mich beim | |
Militärkommissariat melden. Als die Offiziere meine Unterlagen sahen, | |
sagten sie: ‚Du hast ein höheres Dienstniveau, du bist Akademiker. Lass uns | |
in deinem Wehrpass vermerken, dass du im Falle einer Mobilisierung sofort | |
eingezogen und dich um die Mobilisierung der Soldaten hier vor Ort kümmern | |
wirst.‘ “ Er habe damals sein Einverständnis gegeben und gelacht: „Seid … | |
verrückt? Mit wem sollen wir denn einen Krieg anfangen? Mit | |
Außerirdischen?“ | |
## 48 Stunden | |
Knapp fünf Jahre später griff Russland die Ukraine an. Daniil erfuhr es am | |
frühen Morgen des [4][24. Februar 2022], als er rund 2.000 Nachrichten in | |
der Telegram-Gruppe seiner Freunde fand. „Ich fragte sie, was passiert sei, | |
und sie antworteten: Der Krieg ist ausgebrochen.“ Auch Jahre später ist | |
Daniil immer noch der Schock darüber anzumerken. Er sagt, die nächsten | |
sechs Monate nach diesem Tag habe er überhaupt nicht mehr in Erinnerung. Er | |
habe ununterbrochen die Nachrichten verfolgt, sich wie viele seiner Freunde | |
vor Fassungslosigkeit zu Hause verschanzt und gleichzeitig immer wieder | |
erlebt, wie nicht wenige Landsleute den Krieg feierten. Mit einigen | |
nahestehenden Menschen habe er aus diesem Grund den Kontakt abbrechen | |
müssen. „Seelisch war ich völlig deprimiert.“ | |
Im April sei er nach langer Zeit wieder in seiner alten Wohnung in | |
Krasnodar gewesen. Im Briefkasten habe er ein Schreiben des | |
Militärkommissariats gefunden, datiert vom 24. Februar: Er solle sich | |
sofort dort melden und seine neue Adresse hinterlassen. Daniil wurde | |
panisch, tauchte nicht mehr in der Wohnung auf. | |
Als die Mobilisierung am 21. September verkündet wurde, schaute Daniil | |
nach all den Jahren wieder in seinen Wehrpass – und fand darin den längst | |
vergessenen Vermerk. „Dort stand, dass ich mich im Falle einer | |
Mobilisierung innerhalb von zwei Tagen beim Militärkommissariat melden | |
muss.“ Er bekam Angst und dachte: „Wenn mich ein Polizist anhält und meinen | |
Wehrpass kontrolliert, dann werde ich sofort an die Front geschickt.“ | |
Ab diesem Moment tickte für Daniil die Uhr: „Ich habe nur an eines | |
gedacht: dass ich 48 Stunden Zeit habe, um das Land zu verlassen.“ Keine | |
Sekunde lang habe er gezögert, zu fliehen, gemeinsam mit einem Bekannten. | |
Nach der Arbeit packte Daniil innerhalb einer Dreiviertelstunde einige | |
Sachen zusammen, schnappte sich seinen Reisepass. Er fuhr zu seiner | |
Familie, klingelte sie gegen 2 Uhr nachts aus dem Schlaf und sprach nur | |
fünf Minuten mit ihr. „Ich sagte, dass alles in Ordnung sei und ich bald | |
zurückkäme. Ich wollte nicht die Wahrheit sagen, denn sonst hätten sie mich | |
überredet zu bleiben.“ Seit dieser Nacht hat Daniil seine Familie kein | |
einziges Mal mehr gesehen. | |
## Georgien, Türkei, Deutschland | |
Seit Kriegsbeginn 2022 haben schätzungsweise zwischen 600.000 und 1 Million | |
Russen ihre Heimat verlassen, ein großer Teil davon sind junge Männer. In | |
den ersten Tagen der Mobilisierung flohen besonders viele von ihnen. Nach | |
Armenien, Kasachstan, Kirgistan. Und Georgien. | |
Daniil und sein Bekannter hatten keinen Plan. Sie gaben „Tiflis“ ins Navi | |
ein und fuhren los. Als sie in Wladikawkas, einer Stadt nahe der | |
georgischen Grenze, ankamen, war bereits der nächste Tag angebrochen. Sie | |
gerieten in einen Stau. „Die Polizei hielt alle Autos mit ortsfremden | |
Nummernschildern an und fragten die Insassen, wo sie hinwollten.“ Auf die | |
Schnelle sei Daniil nur eine angebliche Hochzeit eines Freundes | |
eingefallen. „Der Polizist antwortete: Ja, ja, heute fahren sie alle zu | |
einer Hochzeit.“ Er forderte Daniil auf, umzudrehen und wegzufahren. Mit | |
ihm diskutieren wollte Daniil nicht: „An diesem Tag war alles chaotisch, | |
es herrschte eine Art Gesetzlosigkeit.“ | |
Die beiden Männer lernten dann zufällig einen Taxifahrer kennen, der gegen | |
viel Geld versprach, die zwei an die Grenze zu bringen. Auch dieses Mal | |
wurden sie von der Polizei aufgefordert, wegzufahren. „Ich stand unter so | |
viel Stress. Ich war schon bereit, aufzugeben.“ Doch dann schlug der | |
Taxifahrer eine andere, weniger befahrene Route vor. Gegen 1 Uhr nachts | |
überquerten Daniil und sein Bekannter endlich die Grenze. | |
In Georgien traf Daniil andere Bekannte. Sie hatten zu dem Zeitpunkt eine | |
Telegram-Gruppe mit etwa 300 Mitgliedern, in der sie über mögliche | |
Fluchtwege nach Georgien informierten. Daniil teilte seine Route und die | |
Telefonnummer des Taxifahrers, verbrachte die ersten Tage ausschließlich | |
damit, mit Menschen zu chatten, die noch auf der Flucht waren. „Wir haben | |
mindestens zehn Menschen zur Flucht verholfen. Nach einiger Zeit konnten | |
wir das allerdings nicht mehr tun, weil wir keine aktuellen Daten und | |
Routen mehr hatten.“ | |
Stattdessen begannen sie damit, in der Gruppe über kriegsbezogene Fake News | |
aufzuklären. Es dauerte nicht lange, bis Daniil von seinem Cousin, der | |
noch in Daniils Heimatstadt lebte, die Nachricht erhielt, dass örtliche | |
Behörden und sogar der FSB sich für Daniil interessieren würden. Seine | |
Familie wurde von der Polizei aufgesucht. „Sie sagte, dass ich nach meiner | |
Rückkehr strafrechtlich verfolgt werden würde.“ Daniils Vater habe gesagt: | |
„Denk an uns, wir werden uns für dich verantworten müssen.“ Gleichzeitig | |
habe er immer mehr hasserfüllte und drohende Kommentare auf Social Media | |
erhalten. Ein Mann habe sogar geschrieben, dass er Anzeige gegen Daniil | |
erstattet habe. Daniil schränkte den Kontakt zu seiner Familie ein, um sie | |
zu schützen. Und erkannte, dass er in Russlands Nachbarland nicht mehr | |
sicher war. | |
Im Dezember 2022 floh Daniil weiter in die Türkei und flog von dort | |
Richtung São Paulo. Zwischenstopp: Frankfurt. Nach EU-Recht können | |
russische Bürger einen Flughafen in der EU nutzen, wenn sie einen | |
Interkontinentalflug machen. In Frankfurt stellte sich Daniil der Polizei | |
und sagte: „Asyl.“ | |
## Ist Daniil gefährdet? | |
Er kam in eine Unterkunft in Gießen, wo er viele andere russische | |
Geflüchtete traf. Im März 2023 wurde er dann weiter ins bayrische Kulmbach | |
geschickt, gleichzeitig wurde sein Asylantrag bearbeitet. Im Juni 2024 | |
wurde der Antrag jedoch abgelehnt. | |
Das entsprechende Schreiben des Bundesamt für Migration und Flüchtlinge | |
(Bamf) liegt der taz vor. Darin steht, dass Daniil seine Geschichte zwar | |
ausführlich belegen konnte. Allerdings bestünden Zweifel, inwiefern sein | |
politischer Aktivismus negative Konsequenzen nach sich ziehen könnte, | |
sollte er nach Russland zurückkehren. Außerdem bestünde keine besondere | |
Gefährdung, denn: „Es handelt sich beim Antragsteller um keinen bekannten | |
Politiker, Journalisten, Blogger, Menschenrechtler.“ Auch die | |
Wahrscheinlichkeit einer Einberufung wird infrage gestellt. | |
Als Daniil diese Zeilen las, habe er dies kaum glauben können und fühlte | |
sich wie gelähmt. „Ein paar Monate lang lag ich einfach nur da und starrte | |
die Decke an.“ Er kennt viele andere Russen, die Asyl erhalten hatten. Die | |
meisten sind deutlich unpolitischer als er – und daher wahrscheinlich auch | |
weniger gefährdet. Er sei sich sicher gewesen, dass er Asyl erhalten würde. | |
## Die Empfehlung des Bundesamts: Korruption | |
Die Argumentation des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge kann er | |
nicht nachvollziehen. Unter anderem steht im Ablehnungsschreiben, dass es | |
Möglichkeiten für ihn gegeben hätte, den Dienst zu umgehen, etwa durch | |
Korruption. Ihn mache es „wahnsinnig“, dass ein deutsches Ministerium so | |
etwas normalisiere. „Mit jedem Rubel, mit dem ich mich hätte freikaufen | |
können, hätte ich das System unterstützt und für die Raketen bezahlt, die | |
in der Ukraine fallen.“ Die Wut darüber sei in ihm so groß gewesen, dass er | |
es damals nicht einmal versucht hatte. „Korruption ist ein Glücksspiel: | |
Heute geht es gut, morgen schon nicht mehr.“ | |
Er fragt sich: Was wäre mit ihm passiert, hätte das Schmiergeld doch nicht | |
gereicht? „Wenn dir jemand eine Waffe an den Kopf hält und dich zwingt, | |
etwas zu tun, kannst du natürlich ‚Nein‘ sagen. Aber dann wirst du halt | |
umgebracht.“ | |
Daniil sagt, 95 Prozent der russischen Geflüchteten, die er kennt, | |
erhielten kein Asyl. Die aktuellen Zahlen sagen so ziemlich das Gleiche | |
aus. Und auch Experten, die sich mit Deutschlands Umgang mit russischen | |
Geflüchteten befassen. Einer davon ist Artem Klyga. Er berät seit Jahren | |
russische Männer, die niemals eine Waffe halten wollen. Der Jurist ist | |
spezialisiert auf Militärrecht, in Moskau half er jungen Männern dabei, den | |
allgemeinen Wehrdienst auf legale Weise zu umgehen, etwa durch einen | |
Zivildienst. | |
Seit März 2025 arbeitet Klyga für [5][Connection e. V.] Der Verein aus | |
Offenbach am Main steht der Friedensbewegung nahe und unterstützt vor allem | |
Deserteure. Klygas Aufgabe besteht darin, Menschen aus postsowjetischen | |
Ländern zu beraten, die vor dem Krieg geflohen sind und in Deutschland Asyl | |
suchen. Die Ablehnungsschreiben des Bundesamts für Migration und | |
Flüchtlinge kennt er inzwischen auswendig. | |
Die Formulierungen seien „schablonenhaft“: „Das Bamf vertritt seit Langem | |
den Standpunkt, dass es in Russland keine Mobilisierung mehr gibt und dass | |
die allgemeine Wehrpflicht das Risiko der Einberufung nicht erhöht.“ Klyga | |
hat das Bundesamt mehrfach darauf aufmerksam gemacht, dass eine | |
Mobilisierung tatsächlich nach wie vor besteht. „Es wird erst dann keine | |
Mobilisierung mehr geben, wenn der Krieg vorbei ist.“ | |
Erst im März dieses Jahres wurden wieder 160.000 wehrpflichtige Männer | |
eingezogen. Am Krieg nehmen offiziell nur Vertrags- und Zeitsoldaten teil, | |
allerdings gibt es Berichte darüber, dass auch Wehrpflichtige im russischen | |
Grenzgebiet kämpfen. | |
## Welche Gründe sind genug? | |
Welche Gründe sind hinreichend für das Bamf, um von einer potentiellen | |
Verfolgung und Bestrafung russischer Männer ausgehen zu können, sollten | |
diese zurückkehren? Weshalb erhalten viele von ihnen einen negativen | |
Asylbescheid? Die taz hat das Bamf mit diesen Fragen konfrontiert. Die | |
Antwort ist vage: Es handele sich immer um eine Einzelfallprüfung. | |
Klyga ist im September 2022 selbst aus Angst vor einer [6][möglichen | |
Einberufung] geflohen. Die Polizei sei besonders darauf bedacht gewesen, | |
ihn und zwei seiner Kollegen an die Front zu schicken. Kurz nach | |
Kriegsbeginn hatte Klyga eine öffentliche Erklärung gegen den Krieg | |
unterzeichnet. | |
Der Jurist nahm zehn verschiedene Züge quer durch Kasachstan, nach einer | |
Woche kam er in Taschkent, der usbekischen Hauptstadt, an. Georgien | |
erschien ihm zu gefährlich: „Damals gab es dort viele politische | |
Aktivisten. Ich wollte nicht dort sein, wo es russische Spione und | |
Sicherheitsdienste geben könnte.“ Zudem ist Usbekistan weiter von Russland | |
entfernt. | |
Im Februar 2023 beantragte Klyga mithilfe einer Menschenrechtsorganisation | |
ein humanitäres Visum für drei Jahre bei der deutschen Botschaft. Seit März | |
2023 lebt er in Deutschland. Klyga ist ein Sonderfall, nur wenige Russen | |
haben Anspruch auf so ein Visum. Meist handelt es sich dabei um | |
Oppositionelle oder Menschenrechtler wie Klyga. | |
„Deutschland hat viel für die Russen getan, die wegen des Kriegs geflohen | |
sind“, sagt der Militärrechtsexperte. „Kein anderes Land hat so viel für | |
russische Geflüchtete getan – noch dazu bereits kurz nach Kriegsbeginn, als | |
es kaum jemandem in den Sinn kam, ausgerechnet jetzt den Russen zu helfen.“ | |
Dennoch kritisiert er das Asylverfahren. Die Position des Bamf sei | |
politisch motiviert. Und hinsichtlich der Deserteure gäbe es überhaupt | |
keine Anstrengungen. Im Gegensatz zu den Tausenden Männern wie Daniil, die | |
noch vor dem Einzug geflohen sind, wagen auch immer wieder aktive Soldaten | |
die Flucht vor der Front. „Wir reden hier von nicht einmal hundert | |
Menschen. Als wir im Jahr 2023 damit begannen, das Thema groß zu machen, | |
befand sich die damalige deutsche Regierung in einer Krise. Es gab keinen | |
Raum, um sich mit dieser Frage zu beschäftigen.“ Er bezweifelt, ob die neue | |
Regierung sich mit dem Problem befassen wird. | |
Aktuell stellt lediglich Frankreich Reisepapiere für russische Überläufer | |
aus. Gleichzeitig gibt es immer mehr Länder, etwa Armenien und Kasachstan, | |
die einst viele Russen aufnahmen und diese jetzt abschieben. Auch | |
Deutschland schiebt – wenn auch nur vereinzelt – russische Geflüchtete ab. | |
## Auf keinen Fall zurück | |
Nach dem Ablehnungsschreiben und der monatelangen Schockstarre hat Daniil | |
mit seinem Anwalt Berufung eingelegt. Bis zu drei Jahre lang könnte das | |
weitere Verfahren dauern. Daniil hofft, dass er gewinnt. Im Januar dieses | |
Jahres hat das Berliner Verwaltungsgericht entschieden, dass russische | |
Wehrpflichtige einen Anspruch auf Schutz haben. Mehrere Personen hatten | |
gegen die negative Asylentscheidung des Bamf geklagt. | |
Sollte er dennoch kein Asyl erhalten, würde er andere Wege versuchen: zum | |
Beispiel, indem er eine Ausbildung beginnt. Seit Oktober letzten Jahres | |
arbeitet er als Kurierfahrer, mit dem Geld bezahlt er seinen Anwalt und | |
einen B2-Sprachkurs. Zurück nach Russland will Daniil auf keinen Fall. Er | |
kennt einige Russen, die nach einer Ablehnung freiwillig zurück in die | |
Heimat gegangen sind. Außer stundenlanger Verhöre hätte es keine | |
Konsequenzen für sie gegeben. | |
Allerdings seien das alles Leute gewesen, die zuvor sehr unauffällig, also | |
unpolitisch, gelebt hätten. „Ich hingegen habe an Kundgebungen teilgenommen | |
und in den sozialen Medien kritische Dinge über die Regierung geschrieben. | |
Es gibt sogar mehrere Posts von mir, in denen ‚Ruhm der Ukraine‘ steht.“ | |
Dass es nur leere Drohungen seien, die seine Familie erhalten hat, glaubt | |
er nicht. | |
Nach dem Gespräch verlässt Daniil das Café und steigt in den Lieferwagen, | |
mit dem er morgen wieder durch die bayerische Provinz fahren wird. Er wird | |
Pakete austragen und dabei ein wenig Smalltalk führen. Und sollte sich dann | |
jemand, wie so oft, nach der Herkunft seines Akzents erkundigen, wird | |
Daniil vielleicht seine Geschichte erzählen. | |
12 Jul 2025 | |
## LINKS | |
[1] /Russische-Opposition-nach-Nawalnys-Tod/!6066617 | |
[2] /Kriegsdienstverweigerer-aus-Russland/!5881426 | |
[3] /Beerdigung-von-Alexej-Nawalny/!5993312 | |
[4] /1000-Tage-Krieg-in-der-Ukraine/!6047079 | |
[5] /Kriegsdienstverweigerer-im-Ukraine-Krieg/!6071922 | |
[6] /Soldaten-der-russischen-Armee/!5904422 | |
## AUTOREN | |
Maria Mitrov | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Deserteur | |
Kriegsdienstverweigerung (KDV) | |
Wehrdienst | |
Russland | |
wochentaz | |
Asyl | |
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
GNS | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Russland | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Schwerpunkt Flucht | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++: Trump droht Russland mit Strafzöllen weg… | |
US-Präsident setzt auf Zölle gegen den Krieg und verkauft der Nato Waffen | |
für die Ukraine. Selenskyj benennt eine neue Regierungschefin. | |
Asylsuchende aus Russland: Mobilmachung als Fluchtgrund | |
Die Zahl russischer Asylsuchender in Deutschland steigt. Tun die Behörden | |
hierzulande genug, um deren Einberufung zu verhindern? | |
Asyl für russische Kriegsverweigerer: „Die Leute werden total hängen gelass… | |
Sie sind gegen den Krieg – und kommen aus Russland. Über den komplizierten | |
Weg für Kriegsdienstverweigerer und Deserteure, Asyl zu bekommen. | |
Streit über russische Deserteure: Zivilisatorisches Versagen | |
Wer nicht kämpft, kann nicht töten – nicht nur deshalb sollte jeder, der | |
nicht für Russlands Präsident Putin sterben will, überall aufgenommen | |
werden. |