Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Streit über russische Deserteure: Zivilisatorisches Versagen
> Wer nicht kämpft, kann nicht töten – nicht nur deshalb sollte jeder, der
> nicht für Russlands Präsident Putin sterben will, überall aufgenommen
> werden.
Bild: Grenzübergang von Russland nach Georgien im September 2022
Ob die jungen Männer, die seit Wladimir Putins Verkündung der
Teilmobilmachung Ende September ihre sieben Sachen packen, um Russland zu
verlassen, wohl je etwas von Boris Vian gehört haben? Gut möglich,
schließlich wurde sein „Le Déserteur“ in Dutzende Sprachen übersetzt, au…
ins Russische. Jedenfalls kommt einem bei den Nachrichten über die
Zehntausende Russen, die versuchen, sich der Zwangsrekrutierung für den
Ukrainekrieg zu entziehen, das legendäre Chanson des französischen
Schriftstellers aus dem Jahr 1954 in den Sinn: „Bevor die Hähne kräh’n /
Verrammel ich die Türen / Ich will mein Leben spüren / Und mach’ mich auf
den Weg“, wie Wolf Biermann Vian ins Deutsche übersetzt hat. „Monsieur le
President / Ihr seid für’s Blutvergießen? / Allez! Lasst Eures fließen /
Das wär ’ne gute Tat!“
Wer nicht in der Ukraine kämpft, der kann nicht in der Ukraine töten.
Allein schon deshalb sollte jeder, der sich nicht von Putin verheizen
lassen will und durch Flucht die Kampfkraft und -moral der russischen
Truppen schwächt, überall mit offenen Armen aufgenommen werden. Zahlreiche
europäische Staaten haben jedoch stattdessen [1][ihre Grenzen für russische
Kriegsverweigerer geschlossen]. Was für ein zivilisatorisches Versagen!
Solch inhumanes wie unvernünftiges Vorgehen wünscht sich der neue
ukrainische Botschafter Oleksii Makeiev auch von der Bundesrepublik. Es
wäre „falsch von Deutschland, russische Deserteure aufzunehmen“, hat er
verkündet. Schließlich wollten die sich bloß „vor dem Militärdienst
drücken“ und „nur nicht im Krieg sterben“. Damit liegt Makeiev ganz [2][…
der Linie seines Vorgängers Andrij Melnyk], der bekundet hat, er hielte es
für eine „katastrophale Entscheidung“, wenn russischen Männern Asyl in der
Bundesrepublik gewährt würde, „NUR weil sie (…) keinen Bock auf ihre eige…
Ruhestätte in der Ukraine haben“.
Im Artikel 3 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte heißt es: „Jeder
hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person.“ Doch nach der
international gängigen Rechtsauffassung gibt das leider den wehrfähigen
Menschen noch nicht das Recht, sich zum Schutz ihres Lebens einem Krieg
durch Flucht zu entziehen. Selbst wenn sie sich dem militärischen Wahn
eines verbrecherischen Regimes verweigern wollen, reicht das als Asylgrund
alleine nicht aus. „Selbstverständlich ist jemand kein Flüchtling, nur weil
er aus Furcht, kämpfen zu müssen, oder aus Abneigung gegen den
Militärdienst desertiert ist oder den Dienst erst gar nicht angetreten
hat“, ist dazu im Handbuch des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten
Nationen (UNHCR) über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der
Flüchtlingseigenschaft zu lesen. So unmenschlich es ist: Die Furcht vor
Strafverfolgung und vor Bestrafung wegen Desertation oder der Weigerung,
einer Einberufung Folge zu leisten, stellen keinen Grund dar, um Anrecht
auf Asyl zu haben.
Kriegsverweigerung ist ein Menschenrecht. Auch wenn sie als solches nicht
allgemein anerkannt wird. Aber warum nicht? Weil Desertation in der ganzen
Welt als strafbare Handlung geahndet wird – nicht nur in autoritären
Regimen. Fahnenflüchtlinge will man nirgendwo haben. Weshalb auch Boris
Vians grandioses „Le Déserteur“ mehrere Jahre – und zwar während des
Algerienkrieges – in Frankreich verboten war. „Der Deserteur ist in allen
Armeen der schlimmste Feind, schlimmer als der Feindsoldat, denn er
widersteht dem Befehl zum Töten und nimmt lieber den eigenen Tod in Kauf“,
schrieb einst der Schriftsteller Gerhard Zwerenz, der einzige Deserteur,
der je dem Bundestag angehörte. Dabei ist selbst ein „gerechter“ Krieg
immer noch ein Krieg, niemand sollte dazu gezwungen werden, gegen seinen
Willen in ihn zu ziehen. Das gilt übrigens auch für jene Ukrainer zwischen
18 und 60 Jahren, die seit Kriegsbeginn ihr Land nicht mehr verlassen
dürfen, um für die Verteidigung herangezogen werden zu können. Kein Staat
hat das Recht, Menschen zum Töten anderer Menschen zu zwingen.
Gleichwohl ist die Diskussion über [3][die russischen Kriegsverweigerer]
eine besonders aberwitzige. Denn sie ist nicht nur zynisch, sondern steht
auch im Widerspruch zur Rechtsauffassung des UNHCR. Danach gibt es für
Deserteure und Militärdienstflüchtlinge durchaus einen Flüchtlingsschutz,
wenn sich „die Art der militärischen Aktion, mit der sich der Betreffende
nicht identifizieren möchte, von der Völkergemeinschaft als den Grundregeln
menschlichen Verhaltens widersprechend verurteilt wird“.
Deutschland steht in einer besonderen historischen Verantwortung, nicht nur
den russischen Deserteuren und Militärdienstverweigerern Schutz zu
gewähren. Denn es sollte nie vergessen werden, wie unfassbar lange es
gedauert hat, bis dieser Staat jene nicht mehr als Aussätzige betrachtet
hat, die einst nicht für Hitlers Wehrmacht kämpfen wollten. Über 30.000
sogenannte Fahnenflüchtige, „Wehrkraftzersetzer“ oder „Kriegsverräter�…
die Nazi-Militärjustiz zum Tode verurteilt, mehr als 20.000 wurden
hingerichtet, Tausende kamen in Konzentrationslagern und Strafbataillonen
ums Leben. Weniger als 4.000 deutsche Deserteure überlebten den Zweiten
Weltkrieg. Und die Überlebenden mussten sich in der Bundesrepublik als
„Feiglinge“, „Verräter“ und „Volksschädlinge“ beschimpfen lassen.…
hob der Bundestag einen Teil der Unrechtsurteile auf. Es dauerte weitere
vier Jahre, bis das deutsche Parlament die Deserteure rehabilitierte.
Schließlich wurden 2009 pauschal die Urteile wegen „Kriegsverrats“
aufgehoben.
2018 starb mit 96 Jahren Ludwig Baumann, der letzte Wehrmachtsdeserteur.
Von den Nazis zum Tode verurteilt, hatte er Jahrzehnte für seine
Rehabilitierung kämpfen müssen. Zu seiner Motivation, als 20-jähriger
Marinegefreiter zu desertieren, sagte Baumann einmal: „Die Wahrheit ist:
Ich wollte nicht töten. Und ich wollte leben.“ Das reicht als Grund. Das
muss reichen. Auch heute.
10 Nov 2022
## LINKS
[1] /Aufnahme-russischer-Deserteure/!5880272
[2] /Kriegsdienstverweigerer-aus-Russland/!5881426
[3] /Kriegsdienstverweigerer-aus-Russland/!5882784
## AUTOREN
Pascal Beucker
## TAGS
Schwerpunkt Flucht
Ukraine-Konflikt
Deserteur
Russen
Soldaten
Schwerpunkt Zweiter Weltkrieg
Armenien
Dokumentarfilm
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Russland
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
## ARTIKEL ZUM THEMA
Geschichte eines Wehrmachts-Deserteurs: Langer Blick auf ein kurzes Leben
Der Wehrmachts-Deserteur Heinrich Börner gehörte zu keiner der klassischen
Verfolgten-Gruppen. Bodo Dringenbergs Romanbiografie ist deshalb
lesenswert.
Russischer Deserteur im Südkaukasus: Trügerische Sicherheit
Dimitrij Setrakow ist vor dem russischen Militärdienst nach Armenien
geflohen. Dort wurde der Soldat festgesetzt und an Russland ausgeliefert.
Dokumentarfilm „Die Liebe zum Leben“: Hartnäckig gegen das Unrecht
Ludwig Baumann desertierte 1942 aus der Wehrmacht, wurde verurteilt und
kämpfte ein Leben lang für seine Rehabilitation. Nun gibt es einen Film
über ihn.
Asyl für russische Kriegsverweigerer: „Die Leute werden total hängen gelass…
Sie sind gegen den Krieg – und kommen aus Russland. Über den komplizierten
Weg für Kriegsdienstverweigerer und Deserteure, Asyl zu bekommen.
Aufnahme russischer Deserteure: Macht hoch die Tür
Soll Europa russische Deserteure, Kriegsdienstflüchtlinge oder
Kriegsdienstverweigerer einreisen lassen? Natürlich, immer und sofort! Was
denn sonst?
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++: Protest gegen Mobilisierung
In mehreren russischen Städten kam es zu Festnahmen bei
Anti-Mobilisierungs-Protesten. Russland entlässt
Vize-Verteidigungsminister. Die Scheinreferenden gehen weiter.
Kriegsdienstverweigerer aus Russland: Ampel will Asyl für Deserteure
Nach Putins Teilmobilmachung soll die Aufnahme von Kriegsdienstverweigerern
vereinfacht werden. Noch-Botschafter Andrij Melnyk ist dagegen.
Deserteure in der Ukraine: Das Recht, Nein zu sagen
Männer im wehrpflichtigen Alter dürfen die Ukraine nicht verlassen. Doch
das Recht, nicht zu töten, muss auch und gerade im Krieg gelten.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.