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# taz.de -- Geschichte eines Wehrmachts-Deserteurs: Langer Blick auf ein kurzes…
> Der Wehrmachts-Deserteur Heinrich Börner gehörte zu keiner der
> klassischen Verfolgten-Gruppen. Bodo Dringenbergs Romanbiografie ist
> deshalb lesenswert.
Bild: Aufgebaut 1990, abgebaut 2014: Dieses „Denkmal für den unbekannten Des…
„Er ist geboren worden, er hat eine Mutter gehabt“, sagt Bodo Dringenberg
knapp. „Er hat als Melker gearbeitet, er musste zum Militär, und er ist im
April 1940 im Alter von 21 Jahren erschossen worden.“ Das jeweils steht
unausweichlich fest. Das kurze Leben des Heinrich Börner, Vater nicht
verzeichnet; aufgewachsen und gestorben in Hannover, hingerichtet auf der
Garnisonsschießanlage Vahrenwald. „Romanbiografie“ steht als
Genrebezeichnung auf dem Buchumschlag. Und diese besondere Form entspricht
auch dem Werdegang seines Autors Bodo Dringenberg.
Dieser, Jahrgang 1947, wächst am Rande des Ruhrgebiets auf. Er kommt 1972
nach Hannover – und bleibt. Er studiert unter anderem Sprachgeschichte,
forscht zur Geschichte von Namen, etwa ob ‚Hannover‘ von ‚vom hohen Ufer�…
kommen könnte (kommt es nicht). Er forscht, wie sich aus dem
Niederdeutschen ein frühes Hochdeutsch entwickelt, forscht zur Entwicklung
der Stadtsprache Hannovers; dass man da zum Experten auch für
Lokalgeschichte wird, bleibt nicht aus. Er findet zum literarischen
Schreiben, veröffentlicht einen Schwung Regionalkrimis. Schreibt auch für
den Hörfunk, gern lange Stücke, die vom Erzählen leben.
Über den einstigen Leiter des Hannoverschen Stadtarchivs Karljosef Kreter
kommt er schließlich zum Netzwerk „Erinnerung und Zukunft“. Das engagiert
sich bei Straßenumbenennungen und beim Verlegen von Stolpersteinen. Als der
Künstler Günter Demnig eingeladen ist, in die Stadt zu kommen, und man
überlegt, für wen dann [1][Stolpersteine] verlegt werden sollen, stößt man
in den Unterlagen mit den Opfern auf den Namen von Heinrich Börner – über
den kaum etwas bekannt ist.
Bodo Dringenbergs Interesse ist mehr als geweckt; und Kreter versorgt ihn
mit den wenigen Personenstands- und Meldedaten, die zu finden sind. „Mich
hat gereizt, das Leben eines jungen Mannes zu erzählen, der zu keiner der
klassischen Verfolgten-Gruppe gehörte, und trotzdem hat er sich nicht mit
seinem Militärdienst in der Wehrmacht abgefunden, sondern hat sich diesem
entzogen und ist dafür bestraft worden“, sagt Dringenberg.
Noch etwas hat ihn beim Schreiben bewegt: „Die meiste Literatur wird von
Gebildeten für Gebildete geschrieben, die das dann lesen.“ Ihn aber reizte
die mögliche Biografie eines Menschen, der keine höhere Schulbildung hatte
und der nach allem, was man vermuten kann, als einfacher Melker eher kein
intellektuelles Leben geführt hat.
„Ich habe mich gefragt: Kann ich das schreiben? Und funktioniert das?“ Er
skizziert das Spannungsfeld, dem er sich öffnete: „Mein Protagonist ist
nicht dumm, er ist wahrnehmungsstark. Er hat ein sehr gutes Gedächtnis,
aber er kann mit politischen Theorien, mit Metaphysik oder auch Religion
nichts anfangen.“ Kein Intellektueller sei er, aber auch kein
Anti-Intellektueller.
Begleitet wie geprägt wird diese fiktive, zugleich in sich schlüssige
Lebensgeschichte durch die realen Brüche und Umbrüche, die sich in Hannover
entlang der [2][Weimarer Jahre] vollziehen: die wirtschaftlichen Krisen,
die politische Radikalisierung auch auf den Straßen, der sich abzeichnende
und dann sich vollziehende Durchmarsch der [3][Nationalsozialisten].
Ein kleines, nicht unwichtiges Detail: Dringenberg lässt seinen
Protagonisten Mitte der 1920er-Jahre als Erstklässler auf die Fröbel-Schule
gehen, eine Schule, die sich dezidiert gegen die Prügelstrafe aussprach und
etwas Ähnliches wie den heutigen Projektunterricht praktizierte.
Dringenberg lehnt sich kurz zurück: „Es gab in Hannover damals keine
Fröbel-Schule. Aber es gab in Linden die Fröbelstraße, in der die
sogenannte ‚Weltliche Schule‘ lag.“ Und er bringt sein Hin- und Herswitch…
zwischen Tatsachen und ihren literarischen Ausdeutungen auf folgende
griffige Formel: „Es geht mir darum, dass die wenigen Fakten mit möglichen
Lebenserfahrungen und Gedanken sinnvoll verbunden werden.“
Entsprechend wirkt im Hintergrund auch eine autobiografische Ebene: „Mein
Vater war Soldat, mein Bruder war Zeitsoldat, ich musste mich dauernd mit
militärischen Sachen herumschlagen.“ Auch er selbst geht zwei Jahre zur
Bundeswehr, erkennt bald, dass er sich nicht für eine Offizierslaufbahn
eignet. „Ich habe hinterher überlegt zu verweigern, aber das kam mir dann
doch zu theatralisch vor“, lacht er. Wird wieder ernst und sagt: „Was mich
mit Börner verbindet, der bei den Haubitzen war: Ich war auch Artillerist,
kenne mich da aus; das ist Industriearbeit, so wie heute das Kämpfen mit
Drohnen Computerarbeit ist.“
## Geschichte aller Deserteure
Wie ein womöglich stiller, in sich gekehrter, vielleicht auch
eigenbrötlerischer junger Mann in die Fänge der Abrichtungsmaschinerie des
Männlichkeitsdrills gerät, das ist das Thema, das sich durch die
Romanbiografie zieht. Und es sei kein Zufall, wenn man zwischendurch an
[4][Klaus Theweleits Untersuchungen über den soldatischen Körper] denke.
Nicht das Leben in einer idealisierten Natur ist der angelegte Gegenpol, in
dem der Melker Heinrich Börner Ruhe und Zuflucht findet, sondern die
durchaus schwere und effiziente Landwirtschaft auf den Höfen vor der Stadt,
in der die Bauern und Großbauern das Sagen haben – und wo es dennoch
Momente für Rückzüge und auch von Glück gibt. „Was meinem Börner an den
Kühen so gefällt, die er jeden Tag melken muss, ist, dass sie nicht auf
Kommando Muhen können.“
„Alle Figuren, die namentlich auftauchen, sind historisch belegt“, sagt
Dringenberg noch. Das gilt etwa für den Arzt Dr. Paul Liepmann, der den
Protagonisten als Kind und Jugendlichen immer wieder behandelt und der
später im Verlauf des Romans wie seines realen Lebens ob seiner jüdischen
Herkunft seine Praxis aufgeben muss. „Liepmann war praktischer Arzt in
Hannover-Linden, auch für Frauenheilkunde zuständig. Er hat entsprechend
Entbindungen durchgeführt, und es gibt für mich eine gewisse
Wahrscheinlichkeit, dass Börners Mutter, die damals ebenfalls in Linden
lebte, bei ihm entbunden hat und Liepmann so Mutter und Sohn kennenlernte.“
Spannend auch eine Begegnung mit den Vagabunden, den politisch engagierten
„Landstreichern“, wie man sie damals nannte und auf die Dringenberg seinen
Helden treffen lässt, als er als junger Melker raus aufs Hannoversche Land
geht. Dabei lässt Dringenberg seinen Protagonisten auf einen Mann namens
Gregor Gok treffen, Herausgeber einer Zeitschrift mit dem Namen „Der
Kunde“, ein früher, wilder Vorläufer der heutigen Straßenmagazine. Auch Gok
ist eine interessante Figur: glühender, ungestümer Anarchist, kommt er 1930
nach einer Reise in die damalige Sowjetunion als strammer Kommunist zurück.
Eigentlich ein künftiger Themenstoff für Dringenberg.
## Viel positive Resonanz
Der aber hat zunächst andere Pläne, das kommende Buch ist längst geplant,
der Vertrag dafür jüngst unterschrieben: Zusammen mit dem Autor Rolf
Cantzen, mit dem er eine Biografie über den tschechischen Schriftsteller
Jaroslav Hašek verfasst hat, schreibt er an einem Buch über Desertation. Es
soll um die Geschichte der Deserteure von der Römer-Zeit über den
Feudalismus bis in die Zeit des Entstehens der Nationalstaaten und ihrer
Armeen gehen.
Dabei ist ihm eines wichtig: „Es wird kein Buch werden, das die Desertation
als Lösung aller Probleme feiert; es ist nicht gedacht als strategische
Anweisung, wie man Kriege verhindert.“ Und überhaupt: „Wenn etwas zur
Parole wird“, sagt Dringenberg, „wird es für mich als Autor uninteressant.…
Und Heinrich Börner? „Ich denke, ich habe zu ihm gefunden, was es zu finden
gibt“, sagt der Biograf nüchtern. Jetzt um jeden Preis weiter wo auch immer
nach irgendwelchen Unterlagen zu suchen – er schüttelt den Kopf. Aber dann
blitzt da doch ein urgründliches Interesse auf, gab es doch zu seinem Buch
gerade in Hannover und Umgebung viel positive Resonanz und gute Kritiken.
„Ich hatte gedacht, vielleicht liest irgendjemand den Namen ‚Heinrich
Börner‘, wird hellhörig und ihm oder ihr fällt irgendetwas dazu ein.“ Do…
bisher hat sich noch niemand gemeldet.
Hinweis: Wir haben das Geburtsjahr von Bodo Dringenberg dank eines
aufmerksamen Lesers korrigiert.
28 Dec 2023
## LINKS
[1] /20-Jahre-Stolpersteine/!5297251
[2] /Podcast-ueber-Alltag-in-der-Weimarer-Zeit/!5901554
[3] /Schwerpunkt-Nationalsozialismus/!t5007882
[4] /Theaterstueck-Maennerphantasien-am-DT/!5973853
## AUTOREN
Frank Keil
## TAGS
Schwerpunkt Zweiter Weltkrieg
Wehrmacht
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Roman
Armenien
Dokumentarfilm
Schwerpunkt Flucht
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