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# taz.de -- Kriegsdienstverweigerer aus Russland: Moralische Möchtegernexperten
> Wer sich abschätzig über russische Männer äußert, die vor Putins Krieg
> fliehen, macht es sich zu einfach. Aber auch ukrainische Ängste zählen.
Bild: Autoschlange an der finnisch-russischen Grenze am 28. September
Die letzten Tage lag ich mit Fieber im Bett und war dankbar dafür. Mal kurz
konnte ich eine Pause machen von all den moralischen Möchtegernexperten,
die sich seit einigen Tagen abschätzig über russische
Militärdienstverweigerer äußern und – würde es nach ihnen gehen – den
Männern die Möglichkeit auf Asyl verwehrt ließen und sie am liebsten gleich
an die Wand stellen würden.
Mein Herz bricht gerade an zwei Stellen. Ich verstehe die Ängste vieler
Ukrainer:innen, die Sorge haben, wenn sie deutschen Politiker:innen
zuhören, die die [1][Aufnahme dieser Kriegsdienstverweigerer fordern].
Sorge, weil sie Angst vor Retraumatisierung haben. Weil ungewiss ist, wer
diese Männer sind und welche Haltung sie zu diesem Krieg und der Ukraine
mitbringen. Diese Angst ist nachvollziehbar angesichts des Leids, das
Russen der ukrainischen Bevölkerung angetan haben.
Mein Herz bricht aber auch bei den Bildern mutiger Menschen, die gegen den
russischen Krieg und die Mobilmachung auf die Straße gehen, die verhaftet
und in Gefängnissen gefoltert werden; bei Nachrichten wie die über den
jungen russischen Dichter Artjom Kamardin, der für ein Anti-Kriegs-Gedicht
von Polizisten geschlagen und mit einer Hantel vergewaltigt wurde. Er wurde
zu zwei Monaten Haft verurteilt. [2][Ein Bild aus dem Gerichtssaal] zeigt
ihn mit Wunden im Gesicht. Mit seinen Händen formt er ein Herz.
An Menschen wie Artjom Kamardin sollte gedacht werden, wenn es von
deutschen Moralaposteln wieder heißt, die Menschen in Russland würden ja
nicht protestieren. In einer Gesellschaft, in der trotz wiederkehrender
Proteste immer alles schlimmer geworden ist, geht das Gefühl, eine
treibende Kraft politischer Veränderung sein zu können, irgendwann
verloren. Die Proteste in Russland mögen überschaubar sein, aber auch
deshalb, weil staatliche Repressionen so stark geworden sind, dass man es
sich zweimal überlegt: riskiert man Verhaftung, Gewalt, Folter?
Wir brauchen uns nichts vormachen: Die russischen Kriegsdienstverweigerer
werden nicht als Friedenstauben nach Europa geflogen kommen. Aber müssen
sie das, um Schutz vor Verfolgung und Kriegsdienstzwang zu erhalten? Sich
aktiv zu weigern an Menschenrechtsverletzungen und an einem
völkerrechtswidrigen Krieg teilzunehmen, auch weil man das persönliche
Leben schützen möchte, sollte in Europa Grund genug sein, Asyl bekommen zu
können. Oder pragmatisch gesprochen: Jeder russische Soldat weniger im
Krieg macht es für Putin schwerer, diesen weiterführen zu können – und
schützt somit die Ukraine.
## Humanitäre Frage
Warum schaffen es Länder wie Georgien, Armenien und Kasachstan, die bei
Weitem keine einfache Geschichte mit Russland verbindet, russische
Staatsbürger:innen aufzunehmen und ihre Notlage anzuerkennen, Europa
aber nicht? Über die eingereisten Russen sagte Kasachstans Präsident
Tokajew, sie seien in einer „ausweglosen Situation“. Man müsse für ihre
Sicherheit sorgen, das sei auch eine „humanitäre Frage“. In den ersten
sechs Tagen seit der Mobilmachung sind allein nach Kasachstan über 98.000
Russen eingereist. Spricht diese Zahl nicht für eine ablehnende Haltung
gegenüber dem Krieg?
Etwas ist dran an dem Bild der passiven russischen Bevölkerung, die den
Krieg schweigend hinnimmt. Natürlich schmerzt es da zu sehen, dass der
Krieg erst mit der Mobilmachung so richtig bei den Russen angekommen ist.
Viele haben den Krieg kaum gespürt, bis jetzt. Weil sie nun fürchten, ihre
Väter, Brüder, Großväter nicht lebend wiederzusehen. Der Krieg ist in ihren
Augen nichts Abstraktes mehr, auf das sie keinen Einfluss nehmen können.
Einige spüren jetzt – zwar viel zu spät – wie sie mit dem Krieg verbunden
sind. Vielleicht führt es sie aus ihrer Passivität.
1 Oct 2022
## LINKS
[1] /Asyl-fuer-russische-Kriegsverweigerer/!5880144
[2] https://twitter.com/brewerov/status/1575375373877088256?s=20&t=HErRUUWK…
## AUTOREN
Erica Zingher
## TAGS
Kolumne Grauzone
Russland
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
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Schwerpunkt Flucht
Kolumne Grauzone
Michail Gorbatschow
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