# taz.de -- Ausstellung von Vaginal Davis in Berlin: Schminke bringt Wahrheit h… | |
> Vaginal Davis, das ist die Genre sprengende Künstlerin und | |
> Universalgelehrte aus dem queeren Underground. Nun zeigt der Berliner | |
> Gropius Bau ihr Werk. | |
Diese Augen! Ein großes Paar von ihnen starrt dich an, oh Besucher_in. | |
Nein, nicht die von Bette Davis, sondern die von Namensvetterin Vaginal. | |
Und auch der 80er-Jahre-Bezug zielt bei Vaginal Davis nicht auf einen | |
mäßigen Pop-Hit. Vaginal trat in ihrer großen L.A.-Zeit mal in einer | |
Clubnacht auf, die „The Eyes of Laura Mars“ hieß – nach dem seinerzeit | |
legendären Horrorfilm (Drehbuch: John Carpenter), bei dem Faye Dunaway eine | |
Modefotografin spielt, die Morde voraussieht. | |
„Die Fotos, die sie in dem Film verwendeten, waren von Helmut Newton“, | |
erzählt mir Vaginal, als ich sie beim Aufbau ihrer Ausstellung im Berliner | |
Gropius Bau störe und aus ihr in weniger als einer Minute eine mittlere | |
zweistellige Zahl von Geschichten und Subgeschichten hervorsprudeln: über | |
die L.A.-Clubs der 80er und 90er, die semantischen Panoramen und Stadteile | |
von L.A,. die die Begriffe „queer“ und „gay“ in jener Zeit durchliefen,… | |
wann und wo sie mit grünen Achselhaar-Toupets aufgetreten ist. | |
Aber rechts und links des Haupteingangs zu ihrer großen Ausstellung prangen | |
die beiden Augen, schwarz auf durchsichtig, und fixieren dich. | |
## „My Pussy’s Still In Los Angeles.“ | |
Die Karriere von Vaginal Davis beginnt in den 1980er Jahren in Los Angeles, | |
seit über 20 Jahren lebt sie in Berlin (obwohl sie um 2012 einmal titelte: | |
„My Pussy’s Still In Los Angeles. I Only Live In Berlin“). Die Ausstellung | |
in dieser Stadt kann man aber nicht als Retrospektive bezeichnen, die die | |
zwei Hälften verbindet: Solche Massen an performativen Arbeiten, wie sie | |
Vaginal zwischen kleinen Clubbühnen, Cabarets, Konzertsituationen, | |
Fanzine-Redaktionen, Recording-Studios [1][und Bruce-LaBruce-Filmen | |
geliefert hat,] kann kein Rückblick einfangen oder rekonstruieren. | |
Hendrik Folkerts hat diese dennoch überquellende und sehr multimediale Show | |
ursprünglich für das Moderna Museet in Stockholm kuratiert, nun reist sie | |
über Berlin und irgendwann weiter nach New York. | |
Heimatstadt Los Angeles ziert sich noch, man erinnert sich dort vielleicht | |
noch zu deutlich an die Erschütterungen, die die kontroversen und | |
revolutionären Performances ihrer großen Tochter einst auslösten und dazu | |
beitrugen, so etwas wie einen Queercore-Underground in der Zeit aufzubauen, | |
als sich die dortige Hardcore-Punk-Welt nach außen hin noch überwiegend als | |
straight präsentierte (auch wenn schwule Männer wie der Screamers-Sänger | |
Tomata du Plenty sie losgetreten hatten). | |
In den 1980er und 90ern war sie zwar Gründerin von einigen Bands, die im | |
Hardcore-Kontinuum auftraten, den Afro-Sisters, Pedro, Muriel & Esther und | |
dann in den frühen 90ern Black Fag – immer noch einer der besten Bandnamen | |
aller Zeiten. Bei Black Fag war Bibbe Hansen, die Mutter von Beck, ihre | |
Mitstreiterin, davor war es oft der große Glen Meadmore, bekannt für eine | |
queere Country-Punk-Fusion mit zuweilen sehr komischen | |
Kinderzimmerinstrumenten. | |
## Schwarze Revolutionärinnen | |
Das Programm, das scheint schon in der Namensgebung auf, eine starke | |
Identifikation mit Schwarzen Revolutionärinnen (Angela Davis) und mit | |
weiblicher Körperlichkeit (Vagina), konnte problemlos die Schranke der | |
Genres überwinden: Hardcore Punk und Hardcore Porn, aber dann wieder | |
unschuldig-schuldige revolutionäre Verspieltheit wie bei „¡Cholita!“ – | |
ihrer Version der weltberühmten puertoricanischen Kinder-Latin-Popband | |
Menudo. | |
Eine der Brücken war Vaginals überschlagfertiger Humor. Das auch in der | |
Museumsausstellung diesbezüglich entscheidende Wort ist das für sie | |
lustigste Wort der deutschen Sprache: „Hofpfisterei“. | |
Filme wie „Can I Be Your Bratwurst, Please?“ oder „Teddy’s Beastiary“… | |
dem sie Adorno und Adornos Tante spielt), aber vor allem auch einige sehr | |
bekannte Klassiker wie „Hustler White“ von Bruce LaBruce bildeten so etwas | |
wie ein neues Genre, in dem queerer Porn mit Undergroundkultur in einer | |
Weise zusammenkam, die sich bald auch in Musik und Performance wiederfand. | |
Vaginal war dabei in allen möglichen Funktionen entscheidend: als | |
Darstellerin, Autorin, Regisseurin, Bühnenbildnerin. | |
## Fern der etablierten Institutionen | |
[2][Als Set-Designerin, Programmmacherin, Kuratorin, Zeichnerin und | |
Gestalterin stand Vaginal der bildenden Kunst] schon immer nah – und deren | |
etablierten Institutionen ziemlich fern –, vor allem aber darf man nicht | |
vergessen zu erwähnen, dass sie sehr früh und bis heute schreibt und | |
gestaltet und publiziert. Als vor zwei Jahren in New York die Geschichte | |
der Fanzines in einer Ausstellung aufgearbeitet wurde, gab es ein eigenes | |
Kapitel, einen eigenen Raum für ihre Zines. | |
Darüber hinaus schrieb sie diverse Blogs und Netzpublikationen voll, mit | |
den unterschiedlichsten Textsorten: Ausgehprotokolle, Autotheoretisches, | |
Poesie und Journalismus, Interviews. Bei einer ihrer Ausstellungen legte | |
sie im Stile von Félix González-Torres einen gelben Papierstapel aus, von | |
dem sich die Besucher_innen eine oder ein paar Seiten mitnehmen durften. | |
Statt aber identische Blätter auszulegen, handelte es sich um eine | |
vierstellige Zahl von Seiten eines fortgesetzten, überaus spannenden | |
Journals, das mal ein Blog war („Speaking From The Diaphragm“). | |
Als Besucher hab ich den Frühsommer 2003 erwischt. Der 19. Juni 2003 | |
beginnt so: „Got invited to the Justin Timberlake show by Mr. Timber | |
himself. Who would have ever believed that he was a fan of mine? That boy | |
is fille with surprise and soooooo cute and put on an incredible show.“ Und | |
endet mit der Klassikerleseempfehlungspaket, das sie für einen Freund | |
zusammenstellte: „I took his copy of ‚Against The Grain (A Rebours)‘ by J. | |
K. Huysmans. He is not ready for that yet.“ | |
## Der wundersame Geist von Vaginal Davis | |
Das ist die Vielfalt, die man erleben kann, wenn man sich dem wundersamen | |
Geist von Frau Davis öffnet: ein Tag zwischen kalifornisch hellen Popsongs | |
und tiefer synästhetischer französischer Dekadenz. Das legt | |
Museumsausstellungen, die es in den letzten Jahren häufiger gab (auch schon | |
mal in kleineren Rahmen bei Gropius, 2019), nahe: Nur sie können so | |
weitreichende Materialvielfalt bändigen. Können sie es wirklich? | |
Wenn es ein Wort gibt, das Vaginal Davis beschreibt, wäre es Polymath oder | |
Polyhistor. Die Frau weiß alles. In den Gebieten Geschichte politischer | |
Radikalität, Hollywood und Los Angeles, over und underground, queere | |
Zeitgeschichte, allgemeine Kulturgeschichte der Welt und überhaupt alles, | |
nimmt sie es mühelos mit Steins Kulturfahrplan auf. | |
Zu jedem Film und auch zu jedem unvollendeten Filmprojekt kennt sie alle | |
Details samt der Gegengeschichte, dem Klatsch über die Gegengeschichte und | |
den Gründen, warum das alles nie veröffentlicht wurde. Und wer etwas mit | |
der Person hatte, die es nicht veröffentlicht hatte. Klartext, Kritik des | |
Klartexts, Innuendo, Kritik des Innuendos, Meta-Innuendo. [3][Kenneth | |
Angers durchaus verdienstvolle Hollywood-Gegengeschichte „Hollywood | |
Babylon“] verhält sich zum Wissen von Frau Davis wie ein Einkaufszettel zu | |
„Zettel’s Traum“. | |
Sie bewahrt dieses Wissen aber nicht nur in ihrem Kopf auf, sondern auch in | |
ihrer Wohnung. Weswegen sie zwar einerseits von sich sagt, dass sie das | |
sei, was man auf Englisch hoarder nennt, auf Deutsch aber „Messie“, aber | |
dennoch immer alles findet, was für eine Collage gebraucht wird. | |
## Davis liebt „Wizard of Oz“ | |
Nun ist sie aber seit einer Weile nicht mehr nur aus Versehen auch eine | |
Installationskünstlerin, sie baut (nicht nur) für den Gropius Bau Kinos, | |
luxuriös exotisch verträumte Abspielstätten, Kabinette und Schlafzimmer, | |
sie malt auch. Während ich sie besuche, sind das Wandzeichnungen, frei nach | |
Motiven aus einer als Kind geliebten Buchversion des „Wizard of Oz“ von L. | |
Frank Baum. | |
Dem „Harry Potter meiner Kindheit“, wie sie, die in South Central Los | |
Angeles aufgewachsen und als Stipendiatin eines Programms für hochbegabte | |
Schülerinnen sich in die Welt der Oper stürzte, die Bedeutung der | |
Oz-Mythologie einstuft. Mit einer riesigen Palette aus Eyelinern, | |
Lippenstiften und anderen Make-up-Utensilien werden die schwarzweißen | |
Wandzeichnungen farbig geschminkt. | |
Das ist die Medienspezifik von Vaginal D: Schminke bringt die Wahrheit | |
hervor und ist überhaupt ihr bevorzugtes Material. Nur die bemalten Stellen | |
sind sichtbar, der Rest ist Wand. Und da sie weiße Wände nicht mag, sind | |
alle außer in dem ersten Raum einfallsreich, sagen wir: tingiert, der | |
Fußboden stellenweise aus schwarzen Vinyl. | |
Mit Oz geht es weiter (ein wichtiges Londoner Underground-Magazin hieß so, | |
das John Lennon und Yoko Ono, demnächst auch im G-Bau, einst als Electric | |
Oz Band mit der Benefiz-Single „God Save Oz“ unterstützten). Aber auch eine | |
Serie von anderen Objekten und Vitrineninstallationen tragen hier den Titel | |
„Naked on my Ozgoad“. | |
## Nackt auf dem Bock | |
Das bezieht sich auf die Skandalautobiografie, die die bubiköpfige, | |
feministische 20er-Jahre-Lulu- und [4][Neue-Sachlichkeit-Darstellerin | |
Louise Brooks] nach vielen Enttäuschungen mit dem Tonfilm und der | |
maskulinistischen Bourgeoisie geschrieben (und dann vor der | |
Veröffentlichung vernichtet) hat: „Naked on my Goat“. Der Titel stammt aus | |
der englischen Version der Walpurgisnacht aus dem Faust zwei: „Drum sitz | |
ich nackt auf meinem Bock / Und zeig ein derbes Leibchen.“ | |
Vaginal Davis hat den Goat (Ziegenbock, Greatest of all Times) allerdings | |
mit d geschrieben, „Naked on my Ozgoad“. Noch eine Nuance, von der es in | |
dieser Ausstellung eine mittlere sechsstellige Zahl gibt. Etwa mit einer | |
Sonderausstellung in der Ausstellung des Cheap-Kollektivs, mit der sie in | |
Berlin gearbeitet hat. | |
Dann ist da die Geschichte der HAG-Galerie, die Davis 82 bis 89 zu Hause | |
betrieben hat, verschiedene Installationen mit Sammlungen von | |
Publikationen, Bibliotheken und ein brandneues Printobjekt, das sie | |
gemeinsam mit einer litauischen Neodruckerei jetzt produziert hat. Dazu | |
gemalte Hommages an eine dreistellige Zahl anderer wichtiger Frauen. Im | |
Schnitt kennt man jede dritte, die anderen sollte man googeln. Hab ich | |
gemacht. Lohnt sich. | |
20 Mar 2025 | |
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## AUTOREN | |
Diedrich Diederichsen | |
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