# taz.de -- Kenneth Anger wird 95: Luzifer sorgt für Technicolor | |
> Kenneth Anger bringt seit Jahrzehnten mühelos Pop, Film, Underground und | |
> Satanismus zusammen. Am 3. Februar wird der Regisseur 95 Jahre alt. | |
Bild: Kenneth Anger, „the world’s most monstrous moviemaker“ 2010 | |
„A film by Anger“. Seit diese handgeschriebenen Zeilen 1947 erstmalig als | |
Vorspann zu „Fireworks“ über die Leinwand liefen, sind 75 Jahre vergangen. | |
Man fasst es nicht. Die Bundesrepublik ist gerade mal so alt. Und der | |
Schöpfer dieses hemmungslos schwulen, dekadenten, kunstvollen wie | |
selbstironischen Filmkunstwerks, in dem sich der junge Protagonist alias | |
Anger tagträumerisch von muskulösen Matrosen verprügeln lässt und am Ende | |
mit einer Flasche Schampus als Riesenphallus Glanz und Gloria verspritzt, | |
der ist bald ein Jahrhundert auf der Erde. Hat ihr seitdem fast fortwährend | |
Kunstwerke auf Zelluloid beschert. | |
[1][Kenneth Anger] wird als Kenneth Wilbur Anglemyer 1927 in Santa Monica | |
geboren. Die Produktionsstätten der neuen Traumfabriken liegen nicht weit | |
entfernt. Angers Großmutter arbeitet als Kostümbildnerin, sie erzählt ihrem | |
Lieblingsenkel den neuesten Klatsch aus der magischen Stummfilmindustrie | |
(bemerkenswerterweise bleiben auch die Protagonisten in Angers Filmen bis | |
heute ohne Stimme). | |
Neben Film begeisterte sich der junge Kenneth für Okkultismus, der | |
Raketenforscher Jack Parsons führte ihn in diese Welt ein. Das war damals | |
durchaus hip in Südkalifornien – Kenneth Anger nahm die Sache aber ernster | |
als viele Zeitgenossen. Heute hat er den 11. Grad im OTO, dem Ordo Templi | |
Orientis, inne. Satanist, sagt Anger, sei er hingegen keineswegs: Er | |
bezeichnet sich selbst als paganist, also einen Neuheiden. | |
„Fireworks“ brachte dem jungen Künstler eine Einladung von Jean Cocteau | |
nach Paris ein – und wenn man ihm glaubt, dann hatte er das genau so | |
geplant (vielleicht machte er sich auch deshalb drei Jahre jünger, um den | |
Ruf des Wunderkinds zu festigen – Anger sagt, erst 1930 geboren zu sein). | |
Mehrere Jahre verbrachte Kenneth Anger in Europa, dessen Avantgarde ihn so | |
interessierte. Mit dem britischen Okkultisten Aleister Crowley freundete er | |
sich an; Crowleys ehemalige Abtei Thelema auf Sizilien verewigte Anger in | |
einem Dokumentarfilm. | |
## Skandale der Traumfabrik | |
In Paris schrieb er ein Buch, das später zum Bestseller wurde: „Hollywood | |
Babylon“. Eine zynisch unterhaltsame, finstere Zusammenstellung an wahren | |
bis schwer spekulativen Skandalen aus der Traumfabrik, die den | |
ätzend-süffisanten Tonfall der Boulevardblätter seinerzeit perfekt | |
imitiert. | |
Zurück in den USA freundet sich Anger mit dem [2][Sexualforscher Alfred | |
Kinsey] an. Auch seine Filme handeln weiter vom (männlichen) Begehren – | |
neben Pop- und Subkultur, alten und neuen Mythen, Warenfetisch und | |
menschlicher Urangst. Teuflisch werden Eros und Thanatos da miteinander | |
vermählt. Angers bis dato längstes Werk „Lucifer Rising“ erzählt eine | |
hypnotische Reise vom Epizentrum des New Age in Kalifornien über die | |
westfälischen Externsteine an den Nil, während „Scorpio Rising“ die | |
Anbetung des schnöden Mammons mit Hakenkreuzen, Jugendkult und schwarzer | |
Messe zusammenbringt. | |
Im Gegensatz zu einigen Weggefährten ist Anger aber nicht nur Entertainer, | |
sondern zeigt auch im größten Schrecken seinen Sinn für Humor: „ZAP, your | |
pregnant!“ heißt es am Ende des Initiationsfilms „Invocation of My Demon | |
Brother“, „That’s witchcraft!“. Die unbefleckte Empfängnis lässt grü… | |
Kenneth Anger lieferte Avantgarde in jeglicher Hinsicht: Gay Cinema und | |
Underground, Masochismus und Okkultismus, Mediensatire – tauchte alles in | |
seinen Werken auf, weit bevor es Einzug in Filmmainstream und Musikvideos | |
erhielt. Die Vermählung aus Popmusik und Film? Hat er schon in den 50ern | |
vorweggenommen. Generationen an Film- und SerienmacherInnen zehren von | |
seiner Ästhetik wie der Mühelosigkeit, mit der er Glanz und Horror in einem | |
Schnitt/Gegenschnitt zusammenbringt. Kenneth Anger verbreitete Angst und | |
Schrecken, bevor die Satanic Panic ihren Namen gefunden hatte. | |
## Je mehr Oberfläche, umso mehr Abgrund | |
Seine Filme folgten stets dem Credo: Je mehr Oberfläche, umso mehr Abgrund. | |
In der leuchtenden Magie hypnotischer Bilder verbirgt sich eine ungute | |
Ahnung, dass die Geister und Dämonen des alten, unheimlichen Amerikas mit | |
dem Einzug der Moderne keineswegs verschwunden sind. | |
So erarbeitete sich Anger alsbald den Ruf, der Welt ungeheuerlichster | |
Filmemacher zu sein, „the world’s most monstrous moviemaker“. Noch in | |
seinen Achtzigern posierte er genussvoll mit offenem Hemd, unter dem auf | |
sonnengegerbter Brust der Schriftzug LUCIFER hervorblitzt. Seine Filme | |
orientierten sich an der europäischen Avantgarde. Er selbst ist wohl so | |
amerikanisch, wie es ein Westeuropäer nie ganz begreifen wird, nämlich | |
ebenso spirituell wie pragmatisch. Okkultismus habe sich immer vertraut | |
angefühlt, sagt Anger. In seiner Lesart, klar, ist Luzifer der eigentliche | |
Gute, Bringer von Licht und Farbe – und wem sollte ein Filmkünstler auch | |
sonst huldigen als dem Schöpfer des Technicolor? | |
## Schattengewächse des alten Hollywoods | |
Kenneth Anger ist selbst Filmfan. Den [3][jung verstorbenen Stummfilmstar | |
Rudolph Valentino] himmelt er an. Man kann sich unschwer vorstellen, wie | |
sterbenslangweilig dieser Mensch das aktuelle Filmbusiness findet (er | |
selbst soll nicht einmal einen Fernseher besitzen, aber noch regelmäßig ins | |
Kino gehen). Seine filmischen Fieberträume sind Schattengewächse des alten | |
Hollywoods, nicht denkbar ohne die Industrie, auf dessen Produktionen sie | |
zurückwirkten. | |
Kenneth Anger ist ein Künstlertypus, wie es ihn heute kaum mehr gibt, | |
kompromisslos in seinen ökonomischen Entscheidungen. Dann besser kurz | |
drehen als gar nicht. Und Zelluloid musste immer sein. Die finanzielle | |
Basis stellten Buchverkäufe und MäzenatInnen – die Modeschöpferin und | |
Galeristin Agnès B. ist Freundin und Förderin, ebenso war es der Ölerbe | |
John Paul Getty Jr. | |
Nach zwanzigjähriger Schaffenspause zeigte Anger neue Filme: über Zeppeline | |
(„Airships“), Nazis („Ich will!“), Micky Mouse („Mouse Heaven“). Se… | |
verstorbenen Freund, dem Musiker Elliott Smith, widmete er eine persönliche | |
Filmhommage. In den letzten zehn Jahren bespielte Anger große | |
Galerieausstellungen, kooperierte mit der Artpunk-Band Liars und zeigte | |
sein Werk auf dem No-Budget-Filmfestival Viennale in Bonn. | |
## Der Wechselbalg aus dem „Sommernachtstraum“ | |
Es gibt einige Legenden über die Biografie des Kaliforniers; die besten hat | |
er selbst erzählt. Neben dem Geburtsjahr, leider verschollenen | |
Experimentalfilmen, die er bereits mit elf Jahren angefertigt habe und | |
einer Tanzausbildung mit Shirley Temple lässt die folgende tief blicken: | |
Als Junge, sagt Anger, habe er in Max Reinhardts „Sommernachtstraum“ | |
mitgespielt. Dass im Credit der Name eines Mädchens auftaucht, stört die | |
Saga nicht. Seine vorgebliche Rolle? Der Wechselbalg, der „changeling | |
prince“ – ein prächtiges Kind, das der vermeintlichen Mutter durch ein | |
dämonisches Wesen untergeschoben wird. Ein Schalk gewissermaßen, der | |
Schabernack im Schilde führt. | |
Seit er sich lange, graue Haare stehen lässt, sieht Kenneth Anger nun | |
tatsächlich wie der Zaubermeister aus, als den ihn einige schon immer | |
geliebt oder wahlweise auch gefürchtet haben. Und vielleicht liegt auch | |
hier eines seiner Geheimnisse: Das müsse gar nicht unbedingt sein, befand | |
der Künstler einmal auf die Frage, welch fantastische Dinge er im Jenseits | |
erwarte, [4][„ich finde, das Leben ist interessant genug.“] Am 3. Feburar | |
wird der ungeheuerlichste Filmemacher der Welt 95 Jahre alt (wenn man | |
lieber seinen eigenen Angaben glaubt, immerhin 92.) Happy Birthday, Kenneth | |
Anger! | |
3 Feb 2022 | |
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## AUTOREN | |
Katharina J. Cichosch | |
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