# taz.de -- Konzertprojekt „Original Sin“: Gegen die heilige Kleinfamilie | |
> Susanne Sachßes Oma lebte mit Mann, Liebhaber und zwei Töchtern in einem | |
> Haus. Jetzt hat die Schauspielerin ihr ein Konzert gewidmet. | |
Bild: Luise Brand und ihr Liebhaber 1961 in Thüringen. Das Haus wird gerade ge… | |
Das eigene Haus, bürgerliche Selbstverständlichkeit und kleinbürgerlicher | |
Wunschtraum. Im kapitalistischen Westdeutschland wird nach dem Krieg eines | |
ums andere Häuschen gebaut. Was eben noch Ackerland war, ist nun Vorstadt. | |
Da reihen sich die Container der Kernfamilie aneinander. Darin mögen Papa, | |
Mama, Kind ihr Heim finden – oder ihre Neurosen ausbilden und pflegen. | |
Im Osten Deutschlands entstehen zwar keine Einfamilienhäuser. Aber auch der | |
sozialistische Wohnungsbau hat als Bewohner nicht etwa Kommunen von | |
Kindern, Alten, Männern, Frauen, Arbeitern oder Künstlern im Sinn, sondern | |
ganz wie im Westen – die Kleinfamilie, Keimzelle der Nation. | |
Susanne Sachßes Großmutter, Luise Brand, hatte einen anderen Plan. Als die | |
Deutsche Demokratische Republik den „antifaschistischen Schutzwall“ zu | |
bauen begann, ließ Luise Brand bei einem Dorf in Thüringen ein massives | |
Haus errichten. Die Mauer, die Berlin in zwei Hälften teilte, war 30 cm | |
stark, die Mauern von Luise Brands Haus maßen das Doppelte. Drinnen lebte | |
die Frau mit ihrem Mann, ihrem Liebhaber, den beiden Töchtern und der | |
Enkelin Susanne und sprengte die Grenzen der sozialistischen Moral. | |
„Staatsprogramm Familie – geheiligte Zelle des ruhmreichen Sozialismus / | |
Sie wusste es besser / Die Familie muss weg“, heißt es im Text eines der | |
Lieder von Sachßes Konzertprojekt „Original Sin“. Im Untertitel wird es als | |
„A Noir Concert“ ausgewiesen. Darin wird die Geschichte Luise Brands in | |
aller Knappheit so erzählt: „Husband 15 years older / Lover 15 years | |
younger / 2 daughters / 2 dogs / 6 servants / Found a son in law / Made him | |
her lover instead.“ Das Konzert, das die Schauspielerin der Großmutter und | |
ihrem Familienmodell gewidmet hat, wird am Freitagabend im Silent Green | |
Premiere haben, und bis Montag vier Mal aufgeführt werden. | |
Am Dienstagvormittag wird noch geprobt in der 17 Meter hohen, achteckigen | |
Trauerhalle des Weddinger Krematoriums mit dem pyramidenförmigen | |
Mansardendach, das ein freidenkerischer Verein 1909 errichten ließ. Heute | |
ist es der zentrale Raum des Silent Green. Susanne Sachße steht mittendrin | |
und ist so, wie man sich sie vorstellt, wenn man sie in den Filmen von | |
Bruce LaBruce gesehen hat: Voll überwältigender Energie, aufmerksam, | |
zugewandt, präsent, direkt. | |
## Vor nichts Angst haben | |
„Sie hat mir durch ihre Lebenspraxis beigebracht, vor nichts Angst haben zu | |
müssen“, sagt Sachße über ihre Großmutter. Die schärfte ihr ein: „Die … | |
ist nur schön, wenn du aus ihr herausstichst.“ Die kleine Susanne trägt | |
Nerzmantel über der Uniform der Jungpioniere. Und weil ihr der Fahnenappell | |
auf die Nerven geht, spielt sie, ermuntert von der Großmutter, einen | |
Ohnmachtsanfall. Nun muss sie nicht mehr in Reih und Glied stehen. | |
Einige von Sachßes Mitstreitern sind auch schon da. Mark Siegel, der einige | |
Parts singen wird, und Jamie Stewart von der Band Xiu Xiu. „Original Sin“, | |
das Konzert, geht einem Film voraus, der sich ebenfalls der Geschichte | |
Luise Brands widmen soll. Jamie Stewart hatte zu Sachßes Drehbuch bereits | |
die Filmmusik geschrieben, als sie ihn mit der Idee konfrontierte, vorab | |
ein Konzert zum Thema zu machen. Sie schrieb 14 Texte, „das war sehr | |
aufregend, hab ich zum ersten Mal gemacht“, und Stewart schrieb die Songs | |
dazu. | |
Vaginal Davis kommt noch etwas verschlafen zur Tür herein. Jonathan Berger, | |
der mit Şenol Şentürk das Bühnenbild und die Kostüme entworfen hat, sitzt | |
in der Ecke und betrachtet sein Werk. Aus Bildern eines Super-8-Films, der | |
während des Hausbaus entstand, wurde per Photoshop ein nicht ganz | |
naturgetreues Panorama zusammengebaut, das den Raum umschließt. Das Haus | |
ist noch im Entstehen, mitten in der Landschaft. Zweimal, etwas | |
verschwommen, ist Großmutter Luise zu sehen. | |
## „Ich finde an ihr toll, wogegen ich im Prinzip bin“ | |
In die Fenster der alten Trauerhalle sollen Projektionen gebeamt werden. | |
Benutzt wird dafür auch 8mm-Material aus dem Nachlass Luise Brands. Auch | |
ihre Büste wird zu sehen sein. Ein weiteres Detail, das zum ambivalenten | |
Verhältnis der Enkelin zur Oma beiträgt. „Sie hat sich diese Büste 1946 | |
anfertigen lassen“, sagt Sachße, „als die Leute in Deutschland hungerten. | |
Ich finde an ihr toll, wogegen ich im Prinzip bin. Etwa, dass sich jemand | |
ein Haus mit dicken Mauern baut. In diesem Kontext aber wirkt es für mich | |
subversiv. Das ist ein fast dialektischer Widerspruch, den ich zu ihr | |
habe.“ | |
Luise Brand lebte offen mit zwei Männern in ihrem Haus, das zugleich eine | |
der wenigen privaten Arztpraxen war. Als ihr Mann zu alt war, übernahm ihr | |
Liebhaber die Praxis. Ihr Mann lebte im ersten Stock, sie im Erdgeschoss. | |
Die Hausherrin hatte Bälle veranstaltet, damit ihre Töchter den richtigen | |
Mann heiraten, erzählt Susanne Sachße. Eine der 8mm-Aufnahmen hat die | |
Enkelin besonders fasziniert: „Die tanzenden Paare haben Zylinder auf. Da | |
siehst du eine der Töchter tanzen mit einem jungen Mann. Dann werden | |
Zylinder und Partner getauscht, und nun tanzt die Großmutter mit diesem | |
jungen Mann, und das wird dann ihr Liebhaber.“ | |
Als heranwachsendes Mädchen fand Sachße „irre, dass eine sogenannte Familie | |
auch anders funktionieren kann“. Sie ist sich aber nicht erst seit heute | |
bewusst, dass in dieser Konstruktion nicht alle gleichermaßen glücklich | |
waren. Der Lieblingssong von Luise Brand war „Why must I be a Teenager in | |
Love“, sie strebte nach Jugendlichkeit. Für die beiden Töchter war es | |
schwer, mit einer Mutter zusammenleben zu müssen, die jünger als sie wirkte | |
und alles dafür tat, dass ihre Enkelin Außenstehenden wie ihre eigene | |
Tochter erscheinen musste. | |
Enkelin Susanne genoss die Aufmerksamkeit, die ihr zuteil wurde. Aber sie | |
liebte den Großvater mehr als den Lover der Oma, „weil ich nicht mochte, | |
dass die mich als Tochter so ausgestellt haben. Das war eigenartig für | |
mich, diese Doppelfunktion, Enkeltochter und Tochter.“ | |
In den poetischen Texten, die aus verschiedenen Perspektiven von mehreren | |
Erzählstimmen gesungen und gesprochen werden, deutet sich die Geschichte | |
der Großmutter nur an. Sie wird mit allgemeineren Fragen in Verbindung | |
gebracht: „Was war der Alltag einer arbeitenden Frau mit zwei Kindern in | |
der DDR, wie wurde uns das gelehrt? Was ist der Unterschied zwischen einem | |
Haus im Sozialismus und im Kapitalismus?“ | |
„Original Sin“ lehnt sich an Horrorfilme an, die von Spukhäusern handeln, | |
die ein kapitalismuskritisches Genre formulieren, wie Susanne Sachße | |
findet: „Was macht Besitz mit dir? Wann kommen aus Rissen im Haus andere | |
Körper durch?“ Susanne Sachße stellt sich die Großmutter als Wiedergänger… | |
in einem Geisterhaus vor. Last, but not least gilt es in Bezug auf die | |
Sozialistische Einheitspartei Deutschlands zu klären: „Was the party a | |
church?“ Die Antwort lautet, kurz und korrekt: „Yes, but without music.“ | |
7 Dec 2017 | |
## AUTOREN | |
Ulrich Gutmair | |
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