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# taz.de -- Film über Widerstand in der DDR: Wer den RIAS hört, ist verdächt…
> Lars Kraumes Spielfilm „Das schweigende Klassenzimmer“ erzählt von einem
> wahren Fall von Solidarität und Verrat in der jungen DDR.
Bild: Die Klasse gegen den Rest
Theo und Kurt wollen nackte Haut sehen. Alle reden über den Skandalfilm,
der in Westberliner Kinos läuft, den wollen sie sich nicht entgehen lassen.
Westgeld haben sie keins, aber sie finden Mittel und Wege, ins Kino zu
kommen. Doch statt sich zu amüsieren, sind sie von der Wochenschau
agitiert. Die Ungarn proben den Aufstand gegen die Sowjetmacht, und alles
sieht danach aus, dass er gelingen könnte. Zu Hause in Stalinstadt erzählen
sie ihren Freunden davon, beim Bier in der Kneipe.
Im Überschwang wirft einer der Jungs Nüsse auf Rotarmisten, die ein paar
Tische weiter sitzen. Eine Verfolgungsjagd durchs nächtliche Stalinstadt
beginnt. Die Rotarmisten stellen zwei der Jungs, lassen sie aber laufen.
Die Szene entspricht recht getreu der Vorlage von Dietrich Garstka, auf
dessen gleichnamigem Buch der Film „Das schweigende Klassenzimmer“ beruht.
Im Buch sagt der Offizier zum Jungen, der Erbsen warf: „Warum machst du
das? Bist du Faschist? Mein Bruder ist tot, von Deutschen getötet. Soll ich
dich erschießen?“
Sie sind die „Generation, die im September 1945 eingeschult wurde, der
erste Jahrgang der neuen Zeit“, schreibt Garstka. Die neue Zeit ist
sozialistisch, aber sie haben Sympathien für Ungarn. Als sich das Blatt
wendet und die Sowjets den Aufstand mit ihren Panzern niederrollen, wird im
RIAS, dem Westberliner Radiosender, zu Schweigeminuten aufgerufen. Das
erzählt einer der Schüler den anderen kurz vor Unterrichtsbeginn. Für Kurt
(Tom Gramenz), den Anführer der kritischen Mehrheit, ist die Sache sofort
klar: Das machen wir auch.
Im Film sind es nur zwei Minuten, in Wirklichkeit waren es fünf. Die
Wirkung ihrer Aktion, dieses „Zeichen des Protests“, wie der linientreue
Erik (Jonas Dassler) es zusammenfasst, hat Folgen. Die Stasi nimmt die
Aktion zu den Akten, wenig später steht der Volksbildungsminister
persönlich vor der Klasse. Er hat gegen die Nazis gekämpft und sieht die
Konterrevolution am Werk. Er stellt der Klasse ein Ultimatum. Benennen sie
die Rädelsführer nicht, wird die ganze Klasse von der Schule entfernt.
Nirgends in der DDR werden sie ihr Abitur machen können.
## Alles dreht sich um Verrat
Lars Kraume, der für das Drehbuch und die Regie verantwortlich zeichnet,
inszeniert die Geschichte handwerklich gekonnt und kann sich auf
hervorragende Schauspieler verlassen. Kurt ist eine charismatische
Führungspersönlichkeit, wenn auch dem pathetischen Auftritt als Volkstribun
zugeneigt. Sein Vater ist ein alter Kommunist und Vorsitzender des Rats der
Stadt, sein Großvater mütterlicherseits ein Panzergrenadier der Waffen-SS,
auf einem Westberliner Friedhof ruhend.
Sein bester Freund Theo (Leonard Scheicher) dagegen ist der verträumte,
romantische und also im Grunde unpolitische Sohn eines Stahlarbeiters, der
den Fehler begangen hat, beim Aufstand von 1953 gegen die SED mitzumachen,
aber sich gefügt hat. Theos Vater erklärt dem Sohn, dass alle Männer in der
Familie Proletarier waren, einige im Krieg gestorben. Er, der Sohn, sei der
erste, der eine höhere Schule besuchen könne. Theo soll also Kurt verraten.
Verrat ist das große Thema dieses Films, was ihm guttut, weil damit eine
erzählerische Metaebene eingezogen ist, die über eine bloß didaktische
Geschichte hinausweist. Die Schüler wollen niemanden verraten, und mit
ihrer Hartnäckigkeit hat die Staatsmacht nicht gerechnet. Der schwule und
anarchistische Bohemien Edgar, Onkel eines der Schüler, wird verraten. Er
hat auf seinem Gehöft die jungen Leute RIAS hören lassen. Kurts Vater
wiederum hat nach dem Krieg bei der Hinrichtung des Vaters von Erik eine
Rolle gespielt. Erik wiederum verehrt seinen Vater, der Kommunist war,
aber, was der Sohn nicht weiß, im Konzentrationslager Genossen verraten
hat.
Und schließlich verrät Lena (Lena Klenke) Theo, indem sie mit Kurt
anbandelt. Als Theo von ihr wissen will, warum, erklärt sie ihm, er sei zu
opportunistisch. In der Tat ist Theo im Gegensatz zum prinzipientreuen Kurt
ein Luftmensch und die sympathischere Figur, wenn er irgendwann verlauten
lässt: „Manchmal muss man sich durchmogeln im Leben.“
Lars Kraume hat also an alles gedacht in seinem Film, der so spannend wie
angemessen kompliziert ist, was die historischen Echoräume im Großen wie im
Kleinen angeht. Man sieht seinen Protagonisten gerne zu. Wenn das alles nur
nicht so bieder gefilmt wäre. Der Soundtrack tut mit seinen anschwellenden
Streichern alles dafür, diesen Eindruck zu verstärken.
Kraume wollte einen Publikumsfilm machen, gut. Aber woher kommt die Idee,
dass das deutsche Publikum nur mit Hausmannskost befriedigt werden könnte?
Im deutschen Film und Fernsehen wundert man sich anscheinend weiterhin nur
darüber, warum die Amerikaner mit ihren Serien auch bei uns so erfolgreich
sein können. Traut euch halt mal was.
1 Mar 2018
## AUTOREN
Ulrich Gutmair
## TAGS
DDR
Opposition
Ungarn
Sowjetunion
Familie
Romanverfilmung
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