| # taz.de -- Cooler linker Musiker Richard Pinhas: Hier steppt und zuckt der Cyb… | |
| > Zwischen Programmierung und Empfindung: Das musikalische Universum des | |
| > Musikers Richard Pinhas und seiner Band Heldon wird neu entdeckt. | |
| Bild: Richard Pinhas (M.) und seine Band Heldon | |
| Man stelle sich vor, es gibt ein Paralleluniversum, in dem es auch einmal | |
| die bei uns Krautrock genannte Musik gab, mit nur einem Unterschied: Sie | |
| wurde nicht von deutschen Hippies mit ihren sehr deutschen Weltanschauungen | |
| hervorgebracht, sondern von coolen linksradikalen, | |
| poetisch-durchgeknallten, durchpsychedelisierten Intellektuellen, die | |
| gerade ihre Körper erkundeten. | |
| Doch halt! Es gab ja dieses Paralleluniversum. In genau derselben Zeit. Es | |
| hieß und heißt immer noch: Frankreich. | |
| Irgendwann um 1972 oder 1973 – der Rauch vom Mai 68 hat sich nun doch | |
| verzogen und die radikale französische Linke unterstützt eher streikende | |
| Arbeiter, deutsche Militante und französische Gefangenenkämpfe – reicht ein | |
| sehr junger Mann an der Universität Paris VIII Vincennes, eine Dissertation | |
| zum Thema „Die Beziehung zwischen Science Fiction und Schizoanalyse“ bei | |
| [1][Jean-François Lyotard] ein, der dort seit 1968 Philosophie lehrt. | |
| ## Die Stimme von Gilles Deleuze | |
| Dieser Richard Pinhas wird daraufhin zum Doktor der Philosophie promoviert | |
| und lehrt ein Jahr an derselben Institution, dann wird es ihm langweilig | |
| und er gründet seine erste Band: Schizo. (Die einzige Single hat eines der | |
| schönsten Cover der Pop-Geschichte). | |
| Bandname und Dissertationstitel weisen dagegen noch auf einen anderen | |
| Lehrer hin, der damals für die Kulturrevolution der 1970er eine noch | |
| größere Rolle gespielt hat. Pinhas war damals ein begeisterter Student und | |
| bald persönlicher Freund von [2][Gilles Deleuze.] | |
| Seine zweite und im Prinzip bis heute bestehende Band Heldon kann den | |
| Philosophen als Vokalisten für ihr Debütalbum „Electronique Guerilla“ von | |
| 1974 gewinnen, auf dem er einen Nietzsche-Text zum Besten gibt. Er kriegt | |
| den Credit für „schwierige, aber schöne Stimme“. | |
| Später taucht er noch mal auf einem Solo-Album von Pinhas auf, „L’Ethique�… | |
| aber eher als Sample. Dafür zieht aber Pinhas bis heute Deleuze und seine | |
| Begriffe immer wieder heran, wenn es um das Prozedere, die Form seiner | |
| Musik geht: Differenz und Repetition, das Ritornell und die Falte begleiten | |
| ihn bis in die Gegenwart. | |
| ## Rhythmisch utrahart | |
| Heldon nehmen in ihrem ersten Leben bis 1979 sieben Alben auf. Doch der | |
| Unterschied zwischen Heldon und Pinhas solo ist, wenn überhaupt, ein | |
| konzeptueller. Unter beiden Namen arbeitet um Pinhas herum der gleiche | |
| Stamm von französischen Prog-, Elektronik- und Free-Jazz-Größen, die sonst | |
| bei Magma, Lard Free, Perception, ZAO und anderen einschlägigen | |
| Experimentalorganisationen tätig sind oder waren. Patrick Gauthier und | |
| Georges Grünblatt am Synthesizer und der Drummer François Auger sind die | |
| treuesten Mitstreiter. | |
| Konstant ist auch das zweite Reservoir von Loyalität bei Pinhas: | |
| linksradikaler Internationalismus. Auf dem Debüt wird Puig Antich geehrt, | |
| der letzte von Franco hingerichtete Linke, auf „Agnetha Nilson“, dem | |
| vierten Heldon-Album gibt es den „Baader-Meinhof Blues“, eines der | |
| nachdrücklichsten, rhythmisch ultraharten elektronischen Stücke der Band, | |
| und auf der gerade wiederveröffentlichten zweiten LP, „Allez-Teia“ (Spiel | |
| mit dem altgriechischen Wort für „Wahrheit“), wird Omar Blondin Diop | |
| geehrt, der senegalesische Marxist und Imperialismustheoretiker, der in | |
| Godards „La Chinoise“ mitspielte und 1973 unter mysteriösen Umständen im | |
| Gefängnis von Dakar starb. | |
| Bei einem King-Crimson-Konzert, das der zunächst Blues-Rock-begeisterte | |
| junge Richard besuchte, sollen in der Pause Tapes der seinerzeit noch | |
| unveröffentlichten Zusammenarbeit von Robert Fripp/Brian Eno, „No | |
| Pussyfooting“, gelaufen sein: Das war die dritte Erleuchtung. Die | |
| experimentelle Seite von Fripp ist für die eine Hälfte von Pinhas der auch | |
| von ihm ausgesprochene zentrale Einfluss („In The Wake of King Fripp“); | |
| nämlich für Pinhas, den Gitarristen, den schaumig-experimentellen Wirbler | |
| und Zwirbler, dem aber, zum Glück muss man manchmal sagen, der harte | |
| Elektroniker, Programmierer, Synthi-Spezi gegenübersteht. | |
| ## Von minimaler bis brachialer Elektronik | |
| Diese Mischung aus verstrahlten Prog-Gitarrenflächen und minimaler bis | |
| brachialer, oft Noise-naher harsch-rhythmisierter Elektronik ist der | |
| kleinste musikalische Nenner von Heldon/Pinhas. Hört man heute die Sachen | |
| aus den mittleren 70ern, klingen Gitarre und Struktur schon nach damals, | |
| die Beats und die elektronische Seite aber kommen aus der Zukunft, den | |
| 1980ern (DAF, Cabaret Voltaire) und später (EBM, Techno). | |
| Ein weiterer Faktor der Genese dieses musikalischen Universums ist aber | |
| Science-Fiction. Der Bandname kommt von Norman Spinrad, einem Prominenten | |
| aus der sogenannten New Wave der Science-Fiction der 1960er und 70er. Mit | |
| Spinrad und dem später politisch eher ins herzhaft Ambivalente | |
| abgedrifteten französischen, irgendwann ins kanadische Exil ausgewanderten | |
| Maurice G. Dantec hat Pinhas etwa bei dem gemeinsamen | |
| Sci-Fi-Projekt-cum-Deleuze-Hommage, Schizotrope, Nietzsche-Texte und | |
| Sci-Fi-Kurzplots elektronisch verquirlt. | |
| Man stelle sich nun vor, diese Mischung hätte statt Timothy Leary, Hermann | |
| Hesse und Esoterik die deutschen Kosmischen Krauter beeinflusst. Damit | |
| könnte man all den halbenttäuschten deutschen und germanophilen | |
| Krautrock-Fans, die sich immer nur semi mit Heldon und Pinhas anfreunden | |
| konnten, erklären, was eigentlich der Unterschied ist und warum eine Band, | |
| der immer nachgesagt wird, sie klänge doch mindestens phasenweise wie | |
| Tangerine Dream und Klaus Schulze, eben doch ganz anders klingt. | |
| Die flächigen oder extrem repetitiven Klangdome und Katarakte suggerieren | |
| hier eben nichts Geistiges, sich aus dem Körper herausverflüchtigende | |
| Transzendentalien, sondern sind eben gerade körperlich und materiell. Hier | |
| steppt der Cyborg. Ihre Dehnungen, Schwellungen und Zuckungen sind das | |
| Ergebnis des ständigen Mit- und Gegeneinanders von Programmierung und | |
| Empfindung – und schließlich deren Ineinanderübergehen. Pinhas’ Projekt, … | |
| dem er nun schon so lange festhält, beschäftigt sich entlang all der | |
| rhizosphärischen, chronolytischen – und was da an Deleuze orientierten | |
| Neologismen in seinem Werk sonst noch flimmert – Affekte mit dem Projekt | |
| einer Körpermusik, wie das im Rest der Welt erst in den 1990ern denkbar | |
| wurde. | |
| ## Haufenweise Partner | |
| Nachdem er sich in den mittleren 80ern eine Weile zurückgezogen hatte, | |
| hatte er seitdem und bis zur Gegenwart deswegen plötzlich haufenweise | |
| Partner für Duos und Zusammenarbeiten in der ganzen Welt, vor allem | |
| natürlich in der sophisticated Noise-Szene Japans: Merzbow, Pascal Comelade | |
| und vor allem Tatsuya Yoshida, mit dem er immer wieder zusammenkam, nicht | |
| zu vergessen sein Sohn, Duncan Nilsson. Am großartigsten bleiben die ersten | |
| vier bis sechs Heldon-Alben und Pinhas solo vor seinem Sabbatical. | |
| Bei den neueren Sachen, inklusive dem neuen Heldon-Album „Antelast“ von | |
| 2022, stören manchmal die klassischen Prog-Probleme der Verselbstständigung | |
| des Schaumigen. Oder die Partner bleiben zu stark – aber natürlich ist auch | |
| bei diesem üppigen späteren Werk manches dabei. Die total singuläre | |
| Heldon-Musik der frühen Jahre, die so klingt, als hätten darke Protopunker | |
| wie Chrome mit weggekifften Klangdomastronauten zusammengelegt, ist seit | |
| einigen Jahren ein [3][Wiederveröffentlichungsprojekt] bei bureau b, das | |
| gerade in eine zweite Runde gegangen ist. | |
| 4 Aug 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Diedrich Diederichsen | |
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