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# taz.de -- Feuerkatastrophe von Los Angeles: Der abgebrannte Traum von individ…
> In Los Angeles stieß die amerikanische Kolonisierung auf die Mauer des
> Pazifiks. Ein Essay über eine besondere Stadt und das, was den Flammen
> zum Opfer fiel.
Bild: Wo das Individualitätsversprechen seine darke Lebensrealität gefunden h…
Als jemand, der addiert circa drei glückliche Jahre in Los Angeles
verbracht hat, fällt es mir schwerer, in den Diagnostiker- und
Beobachtermodus umzuschalten, wenn es um diese massive Vernichtung der
ohnehin immer schon so bedrohten historischen Teile von Los Angeles geht.
Dass der Pacific Coast Highway genau da verbrannt ist, wo meine
Lieblingsfahrradroute entlangführte!
Aber das ist privater Trauerluxus angesichts der zahllosen zerstörten
Lebenspläne. Gerade dass es so viele schöne Entwürfe getroffen hat und mit
ihnen die Idee, dass es so etwas wie individuelles Glück geben kann, wenn
es schon mit dem Kollektiv nicht klappt, erweckt ein dreifach abgründiges
Gefühl.
Der Abgrund der Vergeblichkeit der Empathie trifft auf den Abgrund der
allzu offensichtlichen Auswahlmechanismen für empathische Gefühle, trifft
wiederum auf den Abgrund des Individualismus – dessen hässliche Seiten sind
ja verantwortlich für viele der Dramen von L. A. Man entwickelt leichter
Empathie mit Leuten, deren Leben man sich vorstellen kann, deren
Enttäuschungen den eigenen ähneln könnten, die sich schon unter dem
Einfühlungsradar dieser individuellen Subjekterzählungen befinden.
Man kann das an allen Konflikten und Katastrophen der Gegenwart erkennen:
Die einen erleben Tragödien, die anderen bebildern Gewalt-, Kriegs- und
Katastrophenpornos. Es gibt eine Hierarchie des Mitgefühls, die nicht nur
von der Distanz der Katastrophe zu uns bestimmt wird.
Andererseits gibt es einen Weg von der Empathie zu den mir (vermeintlich)
Ähnlichen zur Empathie mit den mir scheinbar nicht mehr ganz so Ähnlichen.
Diesen Weg zu gehen wird aber nicht ohne Politisierung gehen. Politisierung
der Distanz, von der aus man Ähnliche von anderen zu unterscheiden gelernt
habe. L. A. ist da ein ganz besonderer Fall. Als ich vor mehr als 30 Jahren
das erste Mal längere Zeit dort lebte, hatte ich das Gefühl, nach Hause
gekommen zu sein, in einen Ort, den ich schon sehr lange sehr gut kannte.
Was war das hier noch mal? Ach so, endlich habe ich Entenhausen gefunden.
Damals las ich „Los Angeles: Capital of the Third World“ [1][von David
Rieff]. Wo ist sie, diese Third World, dachte ich damals. Ich sehe nur
Eigenheime. Ich fuhr nach Compton, nach Watts, nach South Central.
Eigenheime. Besuchte einen Freund, der mir erklärte, bei ihm in der Straße
würden sich Gangs von Armeniern mit Gangs von aus El Salvador Geflüchteten
bekämpfen. Eigenheime. Eigenheime haben eine bösartige Dialektik: Sie sehen
so aus, als wären sie für die Besonderheiten ganz besonderer Bewohner
gebaut worden. Je liebevoller das aussieht, desto konformer ist, was dort
abgeht. Überall das Gleiche. Denkt man zumindest, wenn man aus einem
deutschen Eigenheim stammt.
## Der zersiedelte Großraum, die Dritte Welt
Wenn man aber über den sportlichen Ehrgeiz verfügt, diese Autofahrerstadt
als Person ohne Führerschein mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu
erschließen, muss man die Dritte Welt, wie sie damals noch hieß, nicht
lange suchen. Sie sitzt im Bus, mehrere Stunden am Tag, um den zersiedelten
Großraum auf dem Weg zu einer Haushaltshilfen- oder Gärtnerbeschäftigung in
einem der Eigenheime zu durchmessen. Die Eigenheime sind übrigens nur
manchmal [2][von Neutra oder Schindler entworfene Preziosen der
Architektur-Moderne], ebenso oft sind es Holzhütten mit kleiner Veranda.
Und anders als in Deutschland passieren tatsächlich sehr unterschiedliche
Dinge in den Individualbehausungen. Die libertär-kapitalistische
kalifornische Ideologie hat vom Norden, von San Francisco und dem Silicon
Valley aus die Welt unterworfen, in L. A. hat deren
Individualitätsversprechen seine oft darke, dann wieder hysterisch grüne,
oft jeder Verwaltung, Verwertung und Klassifizierung Widerstand leistende
Lebensrealität gefunden. Die Antwort L. A.s auf die Hippies waren die
Freaks.
Skepsis, Darkness unter sehr hohen Palmen bei strahlender Sonne – das ist
auch ein Klischee, das von [3][Kenneth Angers Skandalchronik „Hollywood
Babylon“] bis zu James Ellroys Ober-Noir immer wieder bedient wurde. Es hat
seinen Ursprung in dem Umstand, dass eine globale Kulturindustrie von L. A.
aus agiert, die in ihren Produkten die Spezifik und Örtlichkeit ihres
Produzierens ausblenden muss; sie muss universell sein.
Doch durchbricht sie diese Regel für ein bestimmtes, in ihr Portfolio fest
eingebautes Genre, den stets tragischen oder tragikomischen Blick auf sich
selbst: von Billy Wilders „Sunset Boulevard“ (1950) bis [4][David Lynchs
„Mulholland Drive“] (2001). Die Spätform davon kann man in jenem gepflegten
TV-Museum der 10er Jahre besichtigen, das unter dem Namen ProSieben uns
werktäglich von Malibu („Two and a Half Men“, 2003–2015) bis nach Pasade…
(„The Big Bang Theory“, 2007–2019) durch das ganze L. A.-County mitnimmt.
Genauer und auf einem neueren Stand war zuletzt „Trans Parent“ (2014–2019…
Diesen tragischen bis sarkastischen Blick auf sich selbst übernehmen die
News-Formate, seit Los Angeles zyklisch, fast jährlich heimgesucht wird von
Erdbeben, Überflutungen, Verfolgungsjagden, Mudslides, also Schlammlawinen
und auch schon auf den ersten Blick politisch zu deutenden Disruptionen wie
dem L. A. Uprising nach dem Freispruch für vier rassistische Polizisten
(1992) oder der Obdachlosigkeitskrise, die die Stadt immer massiver
heimsucht. Als ich das letzte Mal länger dort gewohnt habe, Frühjahr 2019,
hatte es nicht zu wenig, sondern zu viel geregnet und Behelfsunterkünfte
und Zelte trieben durch die Straßen.
## Eine Millionenmetropole auf Wüstensand
Diese Selbstbezüglichkeit hat Thom Andersen in seinem brillanten Essayfilm
„Los Angeles Plays Itself“ (2003) selbst als ideologisch markiert. Er geht
unter anderem der Frage nach, warum die modernistischen Traumhäuser, die
jetzt in Pacific Palisades niedergebrannt sind, immer die Wohnorte der
Bösen sind – heute sind sie die Orte bourgeoiser Bigotterie in „Curb Your
Enthusiasm“ – und wieso all die längst niedergewalzten migrantischen
Communitys im Kino noch unangetastet weiterleben konnten.
In den Plots einer bloß individuellen Verschlagenheit oder kommunitärer
Güte gehe deren politische Dimension verloren. Und auch dass die nicht auf
den ersten Blick politischen Katastrophen politische Ursachen haben, wissen
all diejenigen, die es nicht [5][bei Mike Davis] („City of Quartz“, 1990)
gelesen haben, aus Hollywoodfilmen: Was es ökologisch wie ökonomisch
bedeutet, eine Millionenmetropole auf Wüstensand zu bauen und dies gegen
andere schon bestehende Lebensformen durchzusetzen, erklärt „Chinatown“
(1974) von Roman Polanski.
Warum das einst vielversprechende ÖPNV-System auf den Druck der Öl- und
Autoindustrie schon in den 1930ern im Zuge der sogenannten General Motors
Streetcar Conspiracy abgewrackt wurde, wissen wir aus „Falsches Spiel mit
Roger Rabbit“ (1988) von Robert Zemeckis.
L. A. ist der Ort, an dem die koloniale Eroberung Amerikas an die „Mauer
des Pazifiks“ stieß, von wo aus daher die Kolonisierung des Innen, der
Psychen und der Triebe ihren Anfang nahm: durch deren kapitalistische
Verwertung und deren Einsatz der neu entstandenen Kontrollmechanismen
(asiatische Religionsimporte, Kybernetik, New Age und Selbstoptimierung).
In dieser Welt, die dann bald digitalisiert die Welt erobert, ist Kritik
nur noch ein Genre neben anderen, das auch nur dazu beiträgt, das Kursieren
und Distribuieren von Content am Rollen zu halten – nicht Fehlentwicklungen
aufzuhalten.
Allenfalls sind, wie wir jetzt wissen, manche Angehörige der kalifornischen
Tech-Eliten besonders scharf darauf, die Ökoverbrechen, auf denen ein
großer Teil der südkalifornischen Urbanität basiert, zu verschärfen, statt
sie einzudämmen oder ihre Schäden zu reparieren.
Letzteres, die drohende, nun auch inhaltliche Machtübernahme dieser
Tech-Eliten in diesen Tagen und Jahren verleiht den aktuellen Bränden in L.
A. den apokalyptischen Unterton, der jenseits von konkreter Empathie
hierzulande gerade zelebriert wird. Mit den Preziosen hochmoderner
Privathausarchitektur brennt die europäische Aufgeklärtheit nieder.
Hoffentlich überlebt wenigstens das Thomas-Mann-Haus, ist die zentrale,
leicht bornierte Sorge. Aber ich tröste mich ja auch damit, dass 316 South
Kenter Avenue noch steht. Doch das Buch, das in diesem Haus entstand, ist
keineswegs von dem altwestlichen Glauben an die Koextension von Aufklärung
und Eigenheim-Individualismus geprägt. Es heißt nicht umsonst „Die
Dialektik der Aufklärung“.
## Distinktionsbegehren, das verbunden ist mit Solidarität
Dass es gerade dort, in Brentwood, dem an Pacific Palisades angrenzenden
Stadtteil, geschrieben werden konnte, hat auch mit einer Dialektik des
Eigenheim-Individualismus zu tun, die man dann auch wieder eher in L. A.
als sonst wo in den USA oder gar in Europa spüren kann: Sein Symptom ist
der spezielle Eigensinn, der einen beeindruckenden Sinn für
Community-Building und Aktivismus hervorbringt.
Das ist zwar in dem anderen zu großen Teilen vernichteten und von vielen
und eben nicht nur weißen Künstler_innen bewohnten Stadtteil Altadena
deutlicher, aber es ist ein nicht zu unterschätzendes Zeichen von
tatsächlichem Nonkonformismus: dass sein Abstandnehmen, sein
Distinktionsbegehren direkt verbunden ist mit Solidarität. Je tiefer ich in
die verwinkelten Ecken des Selbst steige, desto verbundener fühle ich mich
mit anderen. Das ist eine weitere Kippfigur an der Mauer des Pazifiks. Es
lohnt noch immer, eine Flaschenpost loszuschicken.
Los Angeles ist der am weitesten entfernte Ort, an dem – so wird uns
zumindest pausenlos vermittelt – noch Leute wie wir leben: „The Nearest
Faraway Place“, wie die Beach Boys es nannten. Empathie für seine Bewohner
in Momenten der existenziellen Bedrohung ist naheliegend. Zugleich
kollabiert der ziemlich fiese Begriff „Leute wie wir“ dort unausgesetzt.
Zum Glück.
Die Erfahrung des Ortes pendelt instabil zwischen Dystopie und Utopie. Es
ist der Ort von Wünschen und Projektionen, die damit beantwortet werden,
dass hier nicht nur das passiert, was wir wollen, sondern auch das, was uns
blüht, obwohl wir es unbedingt vermeiden wollen, wie uns eine
schuldbewusste protestantische Projektion erzählt.
Der Unterschied jetzt ist, dass das Menetekel anders konstruiert ist. Die
Katastrophe hat nicht mehr das dekadent achtlose Über-die-Stränge-Schlagen,
die asoziale Seite des Individualismus verschuldet, sondern erscheint als
Vorgeschmack auf die Verheerungen des neuen Regimes einer klimaleugnenden
Koalition aus Silicon Valley, Rassismus und Nationalismus.
Die nun nicht einmal mehr libertären Tech-Eliten wollen nicht mehr nur die
Infrastruktur kontrollieren, sondern auch das, was dort kursiert. Vom
Geschäft zur Politik. Das ist, was Horkheimer meinte, als er sagte, wer vom
Faschismus reden will, darf vom Kapitalismus nicht schweigen. Das Wissen
von 316 South Kenter.
23 Jan 2025
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## AUTOREN
Diedrich Diederichsen
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