# taz.de -- Ausstellung über Reformbewegungen: Auf der Suche nach der inneren … | |
> Die Ausstellung „Para-Moderne“ in der Bundeskunsthalle Bonn verfolgt die | |
> Wege und Irrwege der künstlerischen Moderne nach 1900. | |
Bild: In Kutte oder nackt, Hauptsache nah an der Natur: Tanzende am Lago Maggio… | |
Wie lebt man richtig, wann zählt man zu den Guten? – Fragen, die im 20. | |
Jahrhundert in ungekannter Dynamik alternative Lebensstile hervorbrachten. | |
Sie sind Thema der Ausstellung „Para-Moderne“ in der Bonner | |
Bundeskunsthalle. Die Guten, das sind solche wie der „Nature Boy“, den im | |
Eingangsbereich die Jazzlegende Nat King Cole besingt, ein bezaubernder | |
Einsiedler, fern der Großstadt, rein und unverdorben von den Anmaßungen der | |
Moderne. | |
Desgleichen wollten auch die jungen, wohlhabenden Aussteiger, die anno 1900 | |
den Schweizer Monte Verità besiedelten, frei sein, sich weiche, weite | |
Kleider anlegen oder gleich ganz den Körper jener Sonne preisgeben, deren | |
heilende Kraft um die Jahrhundertwende beschworen wurde. Natur statt | |
Maschine, das ist das Credo der Reformbewegungen, die in Bonn unter dem | |
Titel „Para-Moderne“ subsumiert werden. | |
Dabei wirkt der erste, von Tischvitrinen zergliederte Raum sachlich kühl. | |
An seinen Wänden viele Fotos: unbekleidete, befreit Springende und bärtige, | |
langhaarige Männer in Kutten. In einem gescreenten Ausschnitt von Carl | |
Javérs Film-Doku „Freak Out“ (2014) [1][über die Szene am Monte Verità], | |
berichtet die 1926 in São Paulo verstorbene Mitgründerin Ida Hofmann aus | |
dem Jenseits, davon, wie aktuell ihre Gründe, der Gesellschaft um 1900 den | |
Rücken zu kehren, auch heute sind: Kapitalismus, Globalisierung, | |
Konsumismus. | |
Und was suchte man? Neue Formen des Zusammenlebens, Nähe zur Natur, | |
Erweiterung des Bewusstseins. In einer Vitrine deuten | |
Nietzsche-Devotionalien, etwa die kuriose Miniatur seiner Lebendmaske, | |
darauf hin, dass den Suchenden just Gott abhanden gekommen war. Akribisch | |
dokumentiert die Ausstellung neue Sinngestaltung, mal entlang der | |
wissenschaftlichen Moderne, häufiger diese unwissenschaftlich | |
interpretierend und noch häufiger auf esoterischen Pfaden. | |
## Man trifft auf Charismatiker aller Art | |
Man trifft in Bildern auf Mary Wegman, die den Tanz revolutioniert, und auf | |
Käthe Kruse, repräsentiert durch ein expressionistisches Selbstporträt und | |
den Ur-Entwurf ihrer zum Umarmen gemachten Puppen. Ja, fühlen, erleben! Vom | |
Gärtner Hermann Hesse sieht man den luftigen Arbeitsanzug. Ob | |
avantgardistische Künstler wie Wassily Kandinsky oder Männer in Jesus-Pose, | |
wie der dichtende Maler Gusto Gräser: Charismatiker sind die prägenden | |
Figuren der Para-Moderne bis hin zu Joseph Beuys, der auch in der | |
Ausstellung auftaucht. | |
Massive und kleinere Wände gliedern den Raum wie ein Rückgrat mit Rippen. | |
Ohnehin geht es unentwegt in dieser Schau um den menschlichen Körper. In | |
ätherischer Anmut hält die lebensgroße Frauenfigur von Gustav Klimts selten | |
verliehener „Nudas Veritas“ mit ihren in ferne Welten blickenden | |
Türkisaugen dem Betrachter einen Spiegel vor: Sieh dich selbst! | |
Seltsam unvermittelt wirken dazwischen aktuelle Kunstwerke wie Goshka | |
Macugas Figur der Gründerin der Theosophischen Gesellschaft „Madame | |
Blavatsky“ (2007), die in ein violettes Samtkleid gehüllt, in Trance auf | |
den Lehnen zweier Stühle schwebt. In der Vielzahl der Exponate verliert | |
sich die Kunst, wird zur Illustration inhaltlicher Thesen, die zugleich | |
auch nie so recht auf den Punkt kommen können. | |
Fast übersieht man das intensive Farbenspiel der wolkengleichen | |
Abstraktionen auf František Kupkas Malerei um 1920. Sie zeigen seine Suche | |
nach neuem Bewusstsein. Es ist möglich, sich in der Ausstellung zu | |
verlieren, und dieser Eindruck korrespondiert sehr gut mit dem suchenden | |
Glauben, der die Para-Moderne auf den ersten Blick von der | |
skeptisch-wissenschaftlichen Moderne unterscheidet. Wo deren | |
Röntgenstrahlen den Körper durchleuchten, strebten die Reformer nach | |
innerer Transparenz. | |
## Auch Hitler darf nicht fehlen | |
Die Künstlerinnen des 1919 gegründeten Siedlungsprojekts Loheland tanzen in | |
ihren Fotoexperimenten schwerelos, sie gestalteten transparente Fotogramme | |
von Pflanzen, die ebenso wie ihre Kostüme und geometrisch strukturierten | |
Wandteppiche auch heutigen Kunst-Hipsterblicken schmeicheln. Eine Ruhe vor | |
dem Sturm. | |
Im nebenan liegenden Raum trifft man auf das Antlitz des entsetzlichsten | |
aller Charismatiker – Hitler. Wo der Nationalsozialismus viele jener | |
Reformentwicklungen unterdrückte, baute er zugleich auf den Ballast ihrer | |
wabernden Welterklärungen. Nicht selten, [2][wie etwa bei Rudolf Steiner], | |
sind es elitäre und antisemitische Ideen. In der von ihm entworfenen, | |
monochrom gelben farbtherapeutischen Hohlkugel will sich dann auch kein | |
Wohlbefinden einstellen. | |
Bereits 1906 schwärmte Monte Verità-Mitgründerin Ida Hofmann vom | |
„Kulturmenschen im Sinne der Zuchtwahl“. Wer also sind noch gleich die | |
Guten? In Sophie Nys’ begehbarer Installation „Die Hütte“ (2007), einem … | |
88 Prozent verkleinerten Nachbau des Holzhauses, in dem Martin Heidegger | |
schrieb, hören wir Thomas Bernhards Abrechnung mit dem Philosophen aus | |
„Alte Meister“: „Dieses nichts ist ohne Grund, ist das Lächerlichste [�… | |
Aber den Deutschen imponiert das Gehabe.“ | |
Auf seltsame Weise geleiten diese Worte zur augenfälligsten These der | |
Ausstellung: Jedes Revival des Monte Verità erwähnt seit den 1970ern die | |
nicht nur äußerliche Nähe seiner Aussteiger zu den kalifornischen Hippies. | |
Tatsächlich zog es einst einige der Heilung suchenden Sonnenanbeter, | |
Welten-Reformer und Lebenskünstler an die goldene Küste, wo ihr Tun | |
Aufsehen erregte und Spuren hinterließ. | |
## Von den Alpen bis nach Kalifornien | |
Ab hier folgt die Schau inhaltlich der in Los Angeles lebenden Autorin Lyra | |
Kilston in ihrem 2019 erschienenem Buch „Sun Seekers“, Kilston trug auch | |
ein Kapitel zum Ausstellungskatalog bei. Man blickt auf Bilder [3][moderner | |
Glasarchitektur in Kalifornien] und lernt, dass ihre bürgerliche Eleganz | |
dieselben Bedürfnisse bedient wie der schräge Fitnessfanatiker und | |
Proto-Hippie Gypsy Boots, den man in Groucho Marx’ TV-Show herumkaspern | |
sieht. | |
Man begegnet in Fotos Eden Ahbez, Rennrad fahrender Eremit im Jesuslook, | |
der in den 1940ern jenes Lied „Nature Boy“ schrieb, mit dem Nat King Cole | |
die Ausstellung eröffnet. Eine Wand mit Plattenhüllen zeigt, wie viele | |
Popstars eine Version des Songs aufgenommen haben. Plakate des Jugendstils | |
verdeutlichen ihren Einfluss auf die flirrenden Poster der Rockszene San | |
Franciscos, von denen einige wirkliche Raritäten zu bestaunen sind. | |
Hier finden Post-Moderne und Para-Moderne zusammen. Doch was aus | |
US-amerikanischer Sicht eine lehrreiche Erkenntnis ist – der Einfluss der | |
europäischen Reformbewegungen und ihrer Manien –, führt in der deutschen | |
Perspektive zu einem Missverständnis. Auch wenn einstige Rockfans versonnen | |
Janis Joplin, Jimi Hendrix und The Who in den ausgewählten Ausschnitten des | |
Films vom Monterey-Rock-Festival von 1967 genießen, so hatten die Hippies | |
etwas, was Bernhard zu Recht den Deutschen absprach: Die Hippies liebten | |
das Spiel, sie wollten nicht alles erklären, Dinge konnten ohne Grund sein | |
und bleiben. | |
Dies ist ein fundamentaler Unterschied zur 68er-Bewegung, in der die | |
Langhaarigen ebenfalls auf die Esoterik ihrer Lookalikes in den | |
Reformbewegungen rekurrierten. Längst ist vieles davon in der Mitte der | |
Gesellschaft angekommen, mal bereichernd, mal auch nach 125 Jahren noch | |
gefährlich irrlichternd, doch stets verleiht es Gewissheit, zu den Guten zu | |
gehören. | |
24 Apr 2025 | |
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## AUTOREN | |
Oliver Tepel | |
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