| # taz.de -- Gilles Deleuzes Kontrollgesellschaft: Wer kontrolliert die Kontroll… | |
| > Wäre Gilles Deleuze heute gegen Meta und X? Lange vor den sozialen Medien | |
| > beschrieb der vor 100 Jahren geborene Philosoph die | |
| > Kontrollgesellschaften. | |
| Bild: Mit der Gesichtserkennung ergeben sich neue Möglichkeiten der Kontrolle.… | |
| Hatte Gilles Deleuze am Ende seines Lebens eine E-Mail-Adresse? Würde er | |
| heute über Tiktok zu uns sprechen oder gegen X kämpfen? Wir wissen es | |
| nicht. Im Frühjahr 1990 schrieb er in einem Text für die Zeitschrift | |
| L’autre Journal aber dies: „Die Kontrollgesellschaften sind dabei, die | |
| Disziplinargesellschaften abzulösen. ‚Kontrolle‘ ist der Name, den | |
| Burroughs vorschlägt, um das neue Monster zu bezeichnen, in dem Foucault | |
| unsere nahe Zukunft erkennt.“ Der irreführende Titel seiner Skizze lautete | |
| „Postskriptum über die Kontrollgesellschaften“; irreführend, weil der | |
| französische Philosoph keine Überlegungen zu einem bereits eingeführten | |
| Begriff nachreichte, sondern ihn erstmals ausformulierte. | |
| Die Kontrollgesellschaften, meinte Deleuze, hätten sich längst | |
| angeschickt, die Disziplinargesellschaften des 19. und frühen 20. | |
| Jahrhunderts mit ihren geschlossenen Milieus von Familie, Schule, Kaserne | |
| und Fabrik abzulösen, als deren ideale Formen Michel Foucault das Gefängnis | |
| und die Irrenanstalt beschrieben hatte. Die neuen Kontrollgesellschaften | |
| funktionierten nicht mehr durch Internierung, „sondern durch unablässige | |
| Kontrolle und unmittelbare Kommunikation“. | |
| Gilles Deleuze wäre dieser Tage hundert Jahre alt geworden. Das Ausmaß der | |
| unablässigen Kontrolle und der unmittelbaren Kommunikation durch das | |
| Internet und die sozialen Medien würden ihn sicher interessiert haben. Am | |
| 18. Januar 1925 war der Philosoph geboren worden, 1995 nahm er sich das | |
| Leben. In eben diesem Jahr 1995 erschien bei Suhrkamp der Band | |
| „Unterhandlungen“, in dem sich neben einigen Interviews auch die deutsche | |
| Übersetzung des „Postskriptums“ findet, das in jüngerer Zeit wieder geles… | |
| und interpretiert wird – vielleicht weil sich die von Deleuze beschriebenen | |
| Zustände einerseits konsolidiert, andererseits dermaßen zugespitzt haben, | |
| dass sich die Frage stellt, wie es mit den Kontrollgesellschaften | |
| weitergehen wird. | |
| ## Das Unternehmen ist eine Seele, ein Gas | |
| Deleuze hatte mit seinem neuen Begriff Entwicklungen beschrieben, die durch | |
| den rasanten Ausbau des Internets, das im Jahr 1990 nur von wenigen | |
| Wissenschaftler und Hackern genutzt wurde, noch einmal verstärkt und | |
| beschleunigt wurden. Den Kern der Sache aber hatte der Philosoph schon | |
| beschrieben: Wesentlich für Kontrollgesellschaften sei die Chiffre. Während | |
| die Disziplinargesellschaften sowohl unter dem Gesichtspunkt der | |
| Integration als auch des Widerstands durch Parolen geregelt worden seien, | |
| handle es sich bei den Chiffren um Losungen, die den Zugang zu Information | |
| kennzeichneten. Kontrolle basiere nicht auf rigiden räumlichen Anordnungen, | |
| sondern auf Modulationen: Der Zugang zu Informationen und Orten wird | |
| mittels spezifischer Protokolle und Berechtigungen geregelt. | |
| Kontrollgesellschaften operierten laut Deleuze mit „Maschinen der dritten | |
| Art“, also Informationsmaschinen, deren passive Gefahr in der Störung | |
| bestehe und deren aktive Gefahr Computerhacker und elektronische Viren | |
| bildeten. „Es ist nicht nur eine technologische Entwicklung, sondern eine | |
| tiefgreifende Mutation des Kapitalismus“, hielt der Philosoph fest. | |
| Die Eroberung des Markts geschehe nun „durch Kontrollergreifung, eher durch | |
| Kursfestsetzung als durch Kostensenkung, eher durch Transformation des | |
| Produkts als durch Spezialisierung der Produktion“. Das Unternehmen sei an | |
| die Stelle der Fabrik getreten, „und dieses ist kein Körper, sondern eine | |
| Seele, ein Gas“, das Kontrolle zu einer Aufgabe macht, die jede und jeder | |
| an sich selbst auszuüben hat. Sich stetig weiterbilden, selbst motivieren | |
| und vermarkten, so wie es eines der Wahlkampfmotive der FDP dieser Tage als | |
| vollkommen selbstverständliche Forderung formuliert: „Alles geben. Auch für | |
| deinen Job.“ | |
| ## Keiner kontrolliert Kontrolle – bis die Tech-Oligarchen kamen | |
| Früher habe die Fabrik die Individuen zu einem Körper zusammengesetzt. Das | |
| Unternehmen dagegen verbreite eine unhintergehbare Rivalität – „als | |
| heilsamen Wetteifer und ausgezeichnete Motivation, die die Individuen | |
| zueinander in Gegensatz bringt, jedes von ihnen durchläuft und in sich | |
| selbst spaltet“. | |
| Familie, Schule, Armee, Fabrik seien keine Milieus mehr, „die auf einen | |
| Eigentümer konvergieren, Staat oder private Macht“, sondern chiffrierte | |
| Figuren ein und desselben Unternehmens, das nur noch Geschäftsführer kenne. | |
| Was aber meinte Deleuze mit dem anfangs zitierten, ominösen Hinweis, es sei | |
| der US-amerikanische Autor William S. Burroughs gewesen, der „dem Monster“, | |
| also der neuen Formation der Kontrollgesellschaften, seinen Namen gegeben | |
| habe? | |
| Burroughs hatte unter anderem den Gedanken formuliert, dass die Ausübung | |
| von Kontrolle niemandem mehr zuzuschreiben war: „Ich glaube nicht, dass die | |
| Kontrolle noch von irgendjemandem kontrolliert wird. Das ist das | |
| Schreckliche daran. Du kannst den Feind nicht mehr benennen, weil niemand | |
| weiß, wo er sich befindet. Kontrolle perpetuiert sich selbst.“ | |
| Weder Burroughs noch Deleuze waren sich wohl bewusst, dass diese Kritik | |
| schon vor ihnen formuliert worden war, durch zwei Männer aus Deutschland, | |
| die den neuen Formen der Kontrolle im New York und im Kalifornien der | |
| 1940er begegnet waren. „Das Bedürfnis, das der zentralen Kontrolle etwa | |
| sich entziehen könnte, wird schon von der des individuellen Bewusstseins | |
| verdrängt“, schrieben Theodor Adorno und Max Horkheimer in der „Dialektik | |
| der Aufklärung“ und fügten an: „Was und wie es sich sagen lässt, soll an | |
| der Alltagssprache kontrollierbar sein.“ | |
| Für uns stellt sich inzwischen jedoch die Frage, inwiefern die Analyse des | |
| systemischen Charakters von Kontrolle durch die Beobachtung ergänzt werden | |
| muss, dass die fundamentalen Umwälzungen durch Vernetzung und | |
| Digitalisierung inzwischen neofeudale Verhältnisse hervorgebracht haben, in | |
| denen die Macht von Tech-Oligarchen in vielerlei Hinsicht diejenige von | |
| Staaten übersteigt. | |
| ## Ist das Wort ein Virus? | |
| Burroughs war eine der schillerndsten Figuren der Gegenkultur der 1960er | |
| und 1970er Jahre. Er positionierte sich aufseiten der rebellierenden Jugend | |
| in den kapitalistischen Metropolen und der sogenannten Dritten Welt. Die | |
| „Kontrollmaschine“ beschrieb er als Zusammenspiel einer zunehmend | |
| faschistisch agierenden Macht mit der konservativen Presse, ausgedrückt in | |
| Polizeiknüppeln, Körperfeindlichkeit, Zensur, moralischer Panik und einer | |
| Drogenhysterie, die Abhängigkeit als Verbrechen definierte. | |
| Den Kern der Misere erblickte Burroughs in der stereotypen Verwendung von | |
| „Wort-Schlössern“, die den Zugang zu Erfahrungen und also zur | |
| Weiterentwicklung des Menschen versperrten. Diese Verschließungen seien | |
| bereits im Kern des abendländischen Denkens angelegt, im „ist“ der | |
| aristotelischen Philosophie, die eine Identität von Begriffen und | |
| Gegenständen postuliere, statt Sprache selbst als ein Artefakt zu | |
| begreifen, das es zu erforschen gilt. | |
| Die gegenwärtige Form des Menschen sei wahrscheinlich das Ergebnis von | |
| Worten, und wenn dieser sich davon nicht befreien könne, würde das | |
| demnächst eventuell zu seinem Aussterben führen, behauptete Burroughs, der | |
| sich bei aller Radikalität seiner Ideen oft eines trockenen Humors | |
| bediente. Womöglich sei das Wort als ein Virus zu betrachten, das sich im | |
| Homo sapiens eingenistet habe, spekulierte der Schriftsteller. | |
| ## Marketing ist soziale Kontrolle | |
| Die Massenmedien jedenfalls übten Kontrolle mittels des Durchsetzens von | |
| Assoziationsketten aus. Diese Ketten müssten isoliert und zerschnitten | |
| werden, forderte Burroughs. Analog dazu kommentierte Deleuze, dass das | |
| Instrument der sozialen Kontrolle nun Marketing heiße. Marketing forme „die | |
| schamlose Rasse unserer Herren“. Wo das Marketing regiert, ist der | |
| Konsumkredit nicht fern. Der Mensch, erklärte Deleuze vorausschauend, sei | |
| nun nicht mehr der eingeschlossene, sondern der verschuldete Mensch. | |
| An dieser Stelle ging er zwar nicht auf die Rolle ein, die seine eigene | |
| Philosophie für die Entwicklung des Marketings gespielt haben könnte. Hatte | |
| er gemeinsam mit seinem Kollegen Felix Guattari doch das Wirken des | |
| Unbewussten nicht wie Freud als antikes Theaterstück, sondern als eine | |
| Fabrik beschrieben, die ständig Wünsche produziere. Der Wunsch sei | |
| „revolutionär an sich, unwillentlich das wollend, was er will“. Angesichts | |
| der Kontrollgesellschaften stellte Deleuze aber nun immerhin fest, es | |
| bestehe weder Grund zur Furcht noch zur Hoffnung, sondern nur dazu, „neue | |
| Waffen zu suchen“. | |
| William S. Burroughs hatte sich darüber bereits Gedanken gemacht. Ihm war | |
| die Einrichtung von Akademien vorgeschwebt, in denen wortloses Denken geübt | |
| werden sollte. Das neue Denken werde nichts mit logischem Denken zu tun | |
| haben. „Nicht zu wissen, was Wissen ist und nicht ist, wissen wir nicht.“ | |
| Denken sei nicht mit einem kontinuierlich ablaufenden Film zu vergleichen. | |
| Gedanken fließen, stoppen und fließen weiter, meinte Burroughs, und da, wo | |
| ein Flow stoppe, ergebe sich im Bruchteil einer Sekunde ein Hiatus. In eben | |
| dieser Lücke, diesem Spalt, wachse das neue Denken. | |
| ## Zwischenräume der Nicht-Kommunikation | |
| Deleuze wiederum las seinen Foucault ebenso genau wie seinen Burroughs. Die | |
| Dummheit sei noch nie stumm oder blind gewesen, meinte er. „Die Mächte der | |
| Unterdrückung hindern die Leute nicht am Reden, im Gegenteil: sie zwingen | |
| sie dazu.“ Angesichts der kontinuierlichen Selbstinszenierungen, die uns | |
| die sozialen Medien zur kommunikativen Aufgabe gemacht haben, scheint das | |
| weiterhin eine korrekte Beschreibung zu sein. Deleuze schloss daraus: „Eine | |
| Abwendung vom Wort ist nötig. Schöpferisch sein ist stets etwas anderes | |
| gewesen als kommunizieren. Das Wichtigste wird vielleicht sein, leere | |
| Zwischenräume der Nicht-Kommunikation zu schaffen, störende | |
| Unterbrechungen, um der Kontrolle zu entgehen.“ Was heißt das für uns? Die | |
| Zahl der Institutionen, die sich aus X zurückziehen, und der klugen jungen | |
| Leute, die Instagram und Tiktok verlassen, scheint jedenfalls zuzunehmen. | |
| Burroughs hatte auch zu dieser Frage ein Programm formuliert: „Damit die | |
| Revolution grundlegende Veränderungen herbeiführen kann, sind drei Taktiken | |
| vonnöten: 1. Stören. 2. Angreifen. 3. Verschwinden. Wegsehen. Ignorieren. | |
| Vergessen. Diese drei Taktiken sind alternativ anzuwenden.“ | |
| Dabei gälte es im Blick zu behalten, dass es gerade wesentlich für die | |
| populistischen und faschistischen Bewegungen ist, bestimmte Mechanismen der | |
| Kontrolle auszuschalten. Die erste Tat von Elon Musk nach seiner Übernahme | |
| von Twitter war, die Kontrolle des auf der Plattform Sagbaren zu lockern. | |
| Vor wenigen Tagen zog Mark Zuckerberg bei Meta nach. Ihr Verständnis des | |
| Unbewussten als Wunschmaschine, das Deleuze und Guattari nach 1968 | |
| ausarbeiteten, machen sich heute die Revolutionäre von rechts zunutze. Ihr | |
| verführerisches Angebot lautet, die Kontrolle fahren zu lassen und einen | |
| Karneval des Exzesses zu feiern, in dem alles erlaubt ist. | |
| 18 Jan 2025 | |
| ## AUTOREN | |
| Ulrich Gutmair | |
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