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# taz.de -- 100 Jahre Jean-François Lyotard: Es gibt kein letztes Urteil
> Vor 100 Jahren wurde Jean-François Lyotard geboren. Als Philosoph suchte
> er nach dem Teil des Menschen, der sich seiner Beherrschung entzieht.
Bild: Für Lyotard konnte sich das Politische nicht allein an „Fakten“ orie…
Immer dieselbe Stelle. Taucht heute der Name Lyotard in einem Text auf, so
meist im Zusammenhang mit dem Zitat, die Postmoderne ließe sich als der
„Unglaube gegenüber Metaerzählungen“ definieren. Größte Teile der deuts…
Rezeption des am 10. August 1924 in Versailles geborenen Jean-François
Lyotard beschränken sich auf wenige Seiten einer Auftragsarbeit, die er
1979 für den Wissenschaftsrat von Québec schrieb.
Lyotard bleibt der wenig beachtete Außenseiter der French Theory. Dies mag
auch daran liegen, dass sein Werk sich nicht zu einzelnen Thesen oder
berauschenden Theorien zuspitzen lässt. Wie vielleicht kein zweiter
Philosoph hat Lyotard seine Ideen weiterentwickelt, sich selbst korrigiert
und diesen Arbeitsprozess auch offengelegt.
Lyotard studierte wie sein späterer Kollege Gilles Deleuze an der Sorbonne.
Die Phänomenologie Maurice Merleau-Pontys übte in ihrem Beharren auf der
Leiblichkeit unserer Existenz einen bleibenden Einfluss auf ihn aus. In
eine katholische Familie geboren, die es nicht ertrug, dass er
unverheiratet und mit der Tochter eines Holocaust-Überlebenden in jungen
Jahren ein Kind erwartete, musste er früh für den Lebensunterhalt seiner
Familie sorgen.
Seine erste Frau, Andrée May, eine Anglistin, lehrte ihn das für seine
weitere Karriere so wichtige Englisch, sensibilisierte ihn für die
Erfahrung des Antisemitismus und hatte einen entscheidenden Einfluss auf
sein Denken. Sie begleitete ihn über vierzig Jahre lang.
## Antiautoritär und kommunistisch
Als junger Philosophielehrer in das französische Algerien gekommen, trat
Lyotard unter dem Eindruck der Kolonialherrschaft gemeinsam mit seiner Frau
der antiautoritär kommunistischen Gruppe Socialisme ou barbarie um Claude
Lefort und Cornelius Castoriadis bei. Lyotard unterstützte den
[1][algerischen Befreiungskampf] tatkräftig.
In seinen Artikeln attackierte er jedoch die Nationale Befreiungsfront
scharf, in der er früh einen „bürokratischen Embryo“ heranreifen sah.
Verzweifeln ließ ihn die Tatsache, dass die breite algerische Bewegung, die
unter so vielen Opfern 1962 die Kolonialherren besiegt hatte, mit ihrer
neuen Macht nichts anzufangen wusste: „Sie erwarteten eine Revolution, sie
erhielten ein kollabierendes Land.“
Aus der kommunistischen Gruppe war Lyotard 1967 „mit dem Gefühl, meine Haut
gerettet zu haben“, ausgetreten. Der Marxismus lebte dennoch in seinem
Denken fort. Der dünne rote Faden, den er aus den Gedanken seiner
wichtigsten Lehrer, Merleau-Ponty, Freud, Kant und Marx, knüpfte und der
sich durch alle seine Werke zieht: Die Dinge fügen sich nicht, vor allem
nicht in der Theorie.
Sein erstes großes Werk, „Discours, figure“ von 1971, versucht den Nachweis
zu erbringen, dass innerhalb der sprachlichen Ordnungen unseres Denkens
eine (Un-)Logik des Sinnlichen tobt. Besonders im Judentum, über dessen
philosophische Bedeutung er zeitlebens reflektierte, lokalisierte er ein
erstes Bewusstsein für diesen Riss, den das Abendland vergessen machen
wolle. Diese Überlegungen entstanden im „Unter den Pflastersteinen der
Strand“-Klima der frisch gegründeten Universität Nanterre. Auf deren Campus
erlebte Lyotard den Mai 1968.
## „Libidinöse Ökonomie“
An der Universität Vincennes entwickelte er die These, dass jede
gesellschaftliche Ökonomie zugleich eine des Begehrens war. Besonders der
Satz in „Libidinöse Ökonomie“ (1974), die von Marx beschriebenen englisch…
Arbeitslosen wären zu Arbeitern geworden, weil sie die „hysterische
Erschöpfung“ in den Fabriken genossen hätten, brachte ihn ins Fadenkreuz
der Linken.
In einem seiner Seminare beklagte so ein Student: „Bei Deleuze hat man
immerhin etwas, woran man sich halten kann, aber bei dir hat man gar
nichts.“ Die Aufklärungsleistung seines „bösen Buches“ lag darin, die
affektive Seite allen Denkens ins Zentrum zu rücken. So protestierte das
Buch gegen die Einschränkung des Lustgewinns auf den Kreislauf des
Kapitals, auf die sogenannte „große Null“.
In der zweiten Hälfte der 1970er Jahre wurde der politische Ton in seinen
Vorlesungen und Schriften verdeckter. Lyotard reagierte auf das Abebben der
sozialen Bewegungen, aber auch auf die Formalisierung von Sprache durch die
Computertechnologie. Von ihm als sein Hauptwerk bezeichnet, fragte er in
„Der Widerstreit“ (1983) nach den Prozeduren, wie die Realität durch
Sprache erst als Gegenstand etabliert wird. Angestoßen wurde diese
Reflexion unter anderem durch den Skandal um [2][Robert Faurisson, der die
Existenz der Gaskammern leugnete].
## Fortsetzung der Vernichtung der Juden
Lyotard sah diesen Versuch, die Erinnerung an die Opfer auszulöschen, als
Fortsetzung der Vernichtung mit anderen Mitteln. Ob eine Sache existiere
oder nicht, trat für Lyotard hinter der ethisch-politischen Frage zurück,
wie zuallererst die Welt in Sätzen präsentiert wurde und dort eine
Wirklichkeit unterschlagen wird: „Ich möchte Widerstreit einen Fall nennen,
in dem der Kläger seiner Mittel zum Argumentieren beraubt ist und dadurch
zum Opfer wird.“
Angesichts der heutigen Debatten über Klimakrise und des Phänomens der Fake
News wäre eine erneute Lektüre dieses Werks gewinnbringend: Für Lyotard
konnte das Politische sich nicht allein an „Fakten“ orientieren, sondern
setzte sich aus einem komplexen Gefüge von Sätzen unterschiedlicher
Gattungen wie Überzeugen, Verführen, Zeigen oder Auffordern zusammen. Keine
Sprachordnung könne nun die Einheit aller Sätze herstellen, zum Beispiel,
indem sie deren Wahrheitswert bestimmt.
Solch eine Metasprache, die letzte Urteile formulieren könnte, war in
Lyotards Augen ein autoritärer Traum, der der Politik inhärent sei.
Lyotards „Widerstreit“ ist nicht zuletzt ein Buch über die Möglichkeit
einer Vielheit ohne Zwang. In Rückgriff auf Kants Idee des Weltbürgertums
weigerte sich Lyotard deshalb, die Fähigkeit zum Urteilen an Autorität zu
binden.
## Theorie der Postmoderne
Die Theorie der Postmoderne gehört zum Umkreis dieser Überlegungen. Die
Moderne habe die mythischen Weltdeutungen zwar aufgehoben, sie jedoch in
verwandelter Form als große, auf Erlösung zielende Projekte
wiederhergestellt. Die Postmoderne bezeichnete für Lyotard zunächst ihre
Tendenz, diese Ideologien selbst abzustreifen: Unter ihnen komme die
Dynamik des Kapitals zum Vorschein.
Für Lyotard wohnte diesem Rückzug der alten Legitimationen eine Chance zur
Befreiung inne. Postmoderne bezeichnete allerdings auch den Rückgang auf
den Geburtsmoment der Moderne: ein Aufbrechen und Öffnen der festgefahrenen
Zeitstrukturen, die durch soziale Herrschaft und Technik etabliert wurden.
Abwehr wie begeisterte Aufnahme des Postmoderne-Theorems in Deutschland
entsprangen mehr den hiesigen Diskussionen, als dass sie dem Lyotard’schen
Denken gerecht wurden. Entgegen anderslautenden Vorwürfen hielt Lyotard an
der Aufklärung fest, indem er ihre Grenzen reflektierte: Das, was die
Moderne vergessen musste, sollte die Philosophie „durcharbeiten“. So
thematisierte er in seinem Spätwerk die Materie, die Geschlechtlichkeit,
die Kindheit als die geisterhaften Präsenzen eines unaufhebbaren Anderen in
unserer fragilen Existenz.
## French Theory
Politisch unterschied er sich von seinen Kollegen der sogenannten French
Theory stark. So unterzeichnete er als einer von wenigen französischen
Intellektuellen eine Erklärung zur Unterstützung von Desert Storm, um den
irakischen Angriffskrieg gegen Kuwait und die Bedrohung Israels zu stoppen.
Zudem blendete Lyotard Antisemitismus nicht aus. Er versuchte, dessen
Wurzeln im Christentum sowie die Gewalt, die im Bindestrich zwischen
„jüdisch-christlich“ steckt, in Erinnerung zu rufen. Den
Nationalsozialismus in der Philosophie Martin Heideggers wollte er, anders
als viele seiner Zeit, nicht verdrängen.
Lyotard starb am 21. April 1998 in Paris an Leukämie. Die große Berühmtheit
der 1980er Jahre verschwand schnell. Sein Name blieb mit der ominösen
„Postmoderne“ verbunden. Lyotard wusste, dass in jedem letzten Urteil die
ungerechte Anmaßung steckt, nach dem Gesagten gebe es nichts mehr zu sagen.
Und doch ist auch ein solches ungerechtes Urteil ein weiterer Satz: Man
muss immer weiter und neu urteilen. So ist vielleicht auch das letzte
Urteil über Lyotard noch nicht gesprochen.
10 Aug 2024
## LINKS
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## AUTOREN
Niklas Steinkamp
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