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# taz.de -- Über den Kompromiss: Nichts Gutes, außer man tut es
> Angst vor der blutigen Nase oder ein kluger Kompromiss? Im Dialog mit
> einem, der 2024 in Verruf geraten ist.
Bild: Beim Tauziehen gibt es keinen Kompromiss. Man gewinnt oder verliert
Nicht gerade stattlich, auch nicht spukhässlich, sondern eher unscheinbar
sieht die Gestalt aus, die da zum Interview erschienen ist. Der Kompromiss
war noch nie unwiderstehlich, aber am Ende des Jahres 2024 – nach
Coronakrise, zwei Kriegen, drei Jahren Ampel, vor Neuwahlen im Februar und
vor vier weiteren Jahren Trump – wirkt er besonders unattraktiv. Brauchen
wir den heute noch?
taz: Sie haben einen kräftigeren Händedruck, als ich erwartet hatte.
Kompromiss: Lassen Sie mich raten. Sie dachten, hier kommt der schwache
Kompromiss, der nicht anders kann als nachzugeben, in den Verhandlungen
genau wie beim Händeschütteln.
taz: Ich will nicht lügen – ja. Wo lag ich falsch?
Kompromiss: Ganz einfach: als Sie Nachgeben als Schwäche interpretiert
haben.
taz: Aber sind Verhandlungen nicht immer auch ein Tauziehen? Wer stark
genug ist, bleibt standhaft. Wer zu schwach ist, muss nachgeben.
Kompromiss: Das mag beim Tauziehen gelten, denn da geht es nur ums
Gewinnen.
taz: Bei Verhandlungen nicht?
Kompromiss: Sicher gibt es auch solche Verhandlungen. Aber wenn es um so
etwas furchtbar Unwichtiges wie Gewinnen geht, wie wichtig können dann die
Dinge sein, die verhandelt werden? Sobald es wirklich auf etwas ankommt,
geht es doch um mehr, oder nicht? Dann geht es um die Zukunft, darum,
zusammenzuarbeiten und sich auf einander verlassen zu können. Das ist meine
Arena.
taz: Das klingt alles sehr schön, aber ebenso aus der Zeit gefallen wie der
kräftige Händedruck. Heute jagt ein Konflikt den nächsten, die Fragen
werden immer größer und verlangen immer größere Antworten. Ist da überhaupt
noch Platz für Kompromisse?
Kompromiss: Warum sollten Kompromisse keine großen Antworten liefern
können? Gerade Krisenzeiten sind meine Sternstunde, denn nichts kann so
stabilisieren wie ein guter Kompromiss, der unter Schweiß und Tränen
errungen wurde.
taz: Geht es in Krisenzeiten nicht vor allem darum, Haltung zu wahren?
Kompromiss: Das ist doch Unsinn – Haltung – ich kann es nicht mehr hören!
Krisen brauchen Lösungen und die kann es nicht geben, wenn alle nur damit
beschäftigt sind, ihre Haltung im Spiegel zu überprüfen. Haben Sie schon
mal jemanden gesehen, der mit hochgerecktem Kinn was geleistet hat? Nein –
wer zupacken will, muss den Rücken krumm machen.
taz: Warum geht das nicht mit geradem Rücken?
Kompromiss: Das eigene Rückgrat zu verherrlichen, hat für mich vor allem
etwas mit Eitelkeit zu tun. Ich möchte niemanden mit Idealen unter
Generalverdacht stellen, aber man sollte sich doch fragen lassen, ob es
einem wirklich um die Sache geht, wenn man nur darüber nachdenkt, wie man
selbst dasteht.
taz: Ist Immanuel Kant als Begründer des Idealismus für Sie damit auch der
Begründer der Eitelkeit?
Kompromiss: Ich sage es mal so: Die Geschichte der Philosophie ist geprägt
von Männern, die sich gerne selbst reden hören. Warum sollte man sich an
Taten messen lassen und dafür Kompromisse eingehen, wenn man stattdessen
anderen erzählen kann, was sie falsch machen?
taz: Das scheint deutsche Tradition zu sein. „Hier stehe ich. Ich kann
nicht anders“, sagte [1][Martin Luther] damals vor dem Wormser Reichstag.
Aber er trat so der Ungerechtigkeit der katholischen Kirche entgegen – ist
es nicht eher mutig, wenn man auch bei Gegenwind für seine Ideale einsteht?
Kompromiss: Nun ja, nicht anders können als herumzustehen … vielleicht war
tatsächlich nicht mehr drin. Wirklich mutig sind für mich aber diejenigen,
die nach Jahrhunderten der Reformationskriege durchaus anders gekonnt
hätten und die sich trotzdem hingesetzt und Frieden ausgehandelt haben.
[2][Eigentlich wusste auch Kant damals] schon: Es gibt nichts Gutes, außer
man tut es.
taz: Sollte man den Kompromiss also immer vorziehen, selbst wenn er
ungerecht erscheint?
Kompromiss: Würde ich jetzt Ja sagen, wäre das wiederum eitel von mir,
nicht wahr? Kompromisse sind nicht per se gut. Aber sie sind eben auch
nicht per se schlecht! Sie sind ein Werkzeug, um auch dann zusammenarbeiten
zu können, wenn nicht alle einer Meinung sind – und jetzt mal ehrlich: Wann
sind wir das schon? Wer die Freiheit und Vielfalt der Demokratie
verteidigen will, für den ist der Kompromiss das wichtigste Werkzeug im
Koffer. Mit einem Hammer kann man den Nagel auf den Kopf treffen, man kann
sich aber auch den Daumen blau schlagen.
taz: Wie vermeidet man, sich am Kompromiss einen blauen Daumen zu holen?
Kompromiss: Es ist wichtig, wie man in den Ring steigt. Man kann nicht auf
dem hohen Ross daherkommen und auch nicht mit der Brechstange drohen. Ein
Ringen um einen guten Kompromiss ist immer ein Ringen mit bloßen Händen auf
Augenhöhe. Dafür braucht es Mut, aber auch Empathie, denn niemand wird am
Ende den Ring ohne blutige Nase verlassen können. Es gibt keinen guten
Kompromiss ohne Zugeständnisse auf allen Seiten.
taz: Aber wenn ich meine Ideale zur Verhandlung freigebe, gibt es dann
überhaupt noch einen Unterschied zum Tauziehen, wo es nur ums schnöde
Gewinnen geht?
Kompromiss: Es gibt grundlegende Werte, die nicht verhandelbar sind, und es
gehört zu einem guten Kompromiss, dass sie gewahrt werden. Man kann auch
nicht mit jedem verhandeln – versuchen Sie mal, einem Diktator
Zugeständnisse abzuringen. Oder dem Klimawandel. Aber ein guter Kompromiss
ist so viel wertvoller als das meiste, was heutzutage als unverkäufliches
Ideal präsentiert wird! Jede Partei muss sich fragen: Wenn ich hier
Abstriche mache, spiele ich dann mit der Menschenwürde? Wird dann
Ungerechtigkeit und Leid herrschen, das ich zu verantworten habe? Oder habe
ich einfach nur Angst vor einer blutigen Nase? Wozu der Kampf für die
Schuldenbremse gehört, muss jeder selbst wissen.
taz: Was genau ist am Kompromiss so wertvoll, dass ich mir dafür eine
blutige Nase holen soll?
Kompromiss: Ein guter Kompromiss ist ein Gleichgewicht. Er fällt nicht
einfach vom Himmel, sondern muss von allen gemeinsam erarbeitet werden
Jeder gewinnt etwas, jeder zahlt etwas dafür und niemand sieht dabei gut
aus. Das Ringen um einen Kompromiss ist anstrengende Arbeit, aber es ist
auch ehrliche Arbeit, und genau das macht ihn so wertvoll. Wer würde schon
das missachten, was man selbst hart erarbeitet hat? Ich sag Ihnen mal was:
Meine Hände sind nicht nur kräftig, sondern auch schmutzig. Und bin ich
stolz darauf.
30 Dec 2024
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## AUTOREN
Johanna Michaels
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