# taz.de -- Kulturkritiker Mark Fisher: „Niemand ist gelangweilt, alles ist l… | |
> Vier Jahre nach dem Suizid dokumentiert ein Band die letzte Vorlesung | |
> Mark Fishers. Einblicke ins Universum eines kreativen Denkers. | |
Bild: Mark Fisher wurde mit seinem Blog k-punk berühmt. 2017 nahm er sich das … | |
Der 5. Dezember 2016. Wie jeden Montagmorgen in diesem Semester | |
unterrichtet Autor und Kulturkritiker Mark Fisher am Goldsmiths College in | |
London seine Vorlesung „Postcapitalist Desire“. Es ist die letzte Sitzung | |
vor der Weihnachtspause. Unter der Überschrift „Libidinal Marxism“ widmet | |
man sich der notorisch sperrigen Marx-Lektüre Jean-François Lyotards. Im | |
Januar ist ein Essay fällig. Wer dazu Fragen hat, soll einfach eine E-Mail | |
schicken, schließt Fisher die Sitzung, bevor er den Kurs in die Ferien | |
schickt. | |
Doch im neuen Jahr kommt alles anders. Kurz vor der ersten Sitzung | |
verbreitet sich unter den Studierenden ein Gerücht. Als die Gruppe am 16. | |
Januar 2017 am gewohnten Ort zur Vorlesung erscheint, wird aus der | |
Befürchtung Gewissheit: Ihr Dozent Mark Fisher hat sich das Leben genommen, | |
drei Tage zuvor. Den Schock, die Trauer, die Fassungslosigkeit, all das | |
kann man sich nur schwer vorstellen. | |
Ein paar Minuten später spielt jemand Fishers Playlist „No More Miserable | |
Monday Mornings“, einer seiner letzten Beiträge auf dem Blog k-punk. | |
Wütende und lebensbejahende Songs gegen die Arbeit, von HipHop über | |
Post-Punk bis Disco und Pop. [1][Sleaford Mods], Spandau Ballet, The | |
Supremes. Wochen später wird die Gruppe beschließen, den Kurs in Erinnerung | |
an Fisher als offene Lesegruppe fortzusetzen. | |
Einer der Studierenden, Matt Colquhoun, hat die letzte Vorlesung auf Basis | |
von Aufnahmen wortgetreu protokolliert. Vier Jahre nach Fishers Tod | |
erscheint sie nun bei Repeater Books im von Colquhoun edierten Band | |
„Postcapitalist Desire: The Final Lectures“. Man kann darin nicht nur, | |
zusammen mit dem Fragment gebliebenen letzten Buchprojekt Fishers namens | |
„Acid Communism“, eine gute Idee davon gewinnen, in welche Richtung sich | |
das Denken [2][eines der wichtigsten Kulturtheoretiker der Linken] zuletzt | |
entwickelte. | |
## Kapitalistischer Realismus | |
Es gibt auch einen Mark Fisher zu entdecken, der sich im Ton und Inhalt von | |
dem unterscheidet, was Leser*innen früherer Texte wie „Capitalist | |
Realism“ gewohnt sind. | |
Fisher, 1968 geboren, wuchs als Kind einer Arbeiter*innenfamilie in | |
den britischen Midlands auf, einer durch den Kohlebergbau geprägten Region. | |
Die Welt des fordistischen Englands, des sozialdemokratisch geprägten | |
Klassenkompromisses der Nachkriegsjahre, verschwand während seiner Kindheit | |
und Jugend mit dem allmählichen Siegeszug des neoliberalen Kapitalismus. | |
Fisher interessierten vor allem die kulturellen, politischen, sozialen und | |
psychischen Folgen dieser Wende. Prekarisierung, Entsicherung und | |
Vereinzelung führten zur endemischen Ausbreitung von Stress, Angst und | |
psychischen Erkrankungen – das, so Fisher, sei der Kern unserer Gegenwart. | |
[3][Er selbst litt immer wieder an Depressionen], die er sich nie scheute | |
als politisches und gesellschaftliches Problem zu analysieren, statt sie | |
als schmutziges persönliches Geheimnis zu verstecken. | |
Fishers bekanntester Text „Capitalist Realism“ von 2009 war sein | |
pessimistischster. Der Kapitalismus habe es im 21. Jahrhundert geschafft, | |
sich als völlig alternativlos zu präsentieren, es sei einfacher, sich das | |
Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus, so die These. | |
Fisher zeichnete den Aufstieg des kapitalistischen Realismus etwa anhand | |
eines Vergleichs der Gangsterfilme „Der Pate“ (1972) und „Heat“ (1995) … | |
oder analysierte die Reihe „Hunger Games“ oder Christopher Nolans | |
„Inception“ als Metaphern der Gegenwart. | |
## Depressive Hedonie | |
Und er beschrieb seinen Alltag: Seinen jungen Studierenden etwa attestierte | |
er in einer typischen Fisher-Formulierung eine „depressive Hedonie“, | |
insofern sie versuchten, sich durch ständige, digital vermittelte | |
Hyperaktivität und Vergnügungssucht von einem Zustand innerer Leere | |
abzulenken. Den Effekt von Smartphones und Social Media beschrieb Fisher an | |
anderer Stelle einmal so: „Niemand ist gelangweilt, alles ist langweilig.“ | |
Fishers tief pessimistische Analyse der Gegenwart traf einen Nerv, aber | |
wirkte hermetisch und hoffnungslos. Es gibt keinen Ausweg, keine | |
Fluchtlinie. Vielleicht merkte er das auch selbst. Mit dem Konzept der | |
Hauntology, das er von Derrida borgte, versuchte er in der Folge, in der | |
Popkultur der Gegenwart und jüngeren Vergangenheit eine Alternative zum | |
kapitalistischen Realismus zu entdecken, indem er dem verborgenen Sinn für | |
eine bessere Zukunft in der [4][Musik von Bands wie Joy Division], Burial | |
und anderen nachspürte („Gespenster meines Lebens. Depression, Hauntology | |
und der Verlust der Zukunft“, 2015). | |
Diese Fährte führt mitten in die letzte Vorlesung „Postcapitalist Desire“. | |
Sie fragt: Gibt es ein postkapitalistisches Begehren, also ein Begehren | |
nach etwas, das jenseits des Kapitalismus liegt? Fisher führt seine | |
Spurensuche zu den Hippies, die er in seinem Blog noch als bekiffte | |
Reaktionäre beschimpft hatte, in die psychedelischen Dimensionen der | |
Gegenkultur, zum Feminismus und zu den radikalen Arbeitskämpfen der 1970er | |
Jahre. | |
## Kein Paradies | |
Eine klare Absage erteilt Fisher dem Traum von der Rückkehr zu einer | |
unverdorbenen Welt vor dem Kapitalismus. Theoretischer Fixpunkt bleibt die | |
Idee des linken Akzelerationismus, jener philosophischen Strömung, die | |
Fisher in den 1990er Jahren an der Universität Warwick mitbegründet hatte: | |
den Kapitalismus beschleunigen, um ihn zu überwinden, durch ihn durch statt | |
hinter ihn zurück. | |
Die Analyse des real existierenden kapitalistischen Begehrens führt Fisher | |
zu Beginn der ersten Sitzung aber zunächst in den Kalten Krieg zurück, zum | |
Super-Bowl-Werbespot für den Apple Macintosh von 1984, bei dem Ridley Scott | |
Regie führte. Eine junge, in bunte Sportswear gekleidete Frau dringt, | |
verfolgt von Polizisten, als einsame Revolutionärin in eine dystopisch | |
anmutende Orwell-Welt à la 1984 ein, um mit einem Hammerwurf auf einen | |
großen Screen das totalitäre System zu zerschlagen. | |
Die Einführung des Macintosh inszeniert als weibliche und | |
individualistische Befreiung aus einer konformistischen Massengesellschaft. | |
Wie Fisher betont, ruft der Spot Bilder eines grauen, engen, | |
lustfeindlichen Alltags im sowjetischen Kommunismus auf, um die Konkurrenz | |
IBM als Inbegriff fordistischen Büromuffs und spießigen Beamtentums | |
bloßzustellen, während Apple fortan für entfesselte Kreativität, | |
Individualismus, Spaß und Selbstverwirklichung, also für den Postfordismus | |
selbst stehen sollte. | |
Der Neoliberalismus schlägt sich symbolisch auf die Seite der Gegenkultur, | |
der Kapitalismus verleibt sich die Kritik von 1968 ein – Boltanskis und | |
Chiapellos „Der Neue Geist des Kapitalismus“ kondensiert auf 60 Sekunden. | |
## Freie Rede | |
All das und mehr präsentiert der Text im Duktus des freien Vortrags, der | |
ungeschliffen und provisorisch wirkt, aber gerade darin seinen Sog | |
entwickelt. Fisher schweift ab, spitzt zu, korrigiert sich, hat Probleme | |
mit der Technik, macht darüber Witze, gibt zu, dass er keine Ahnung hat, | |
diskutiert mit seinen Studierenden. Kurz: Man fühlt sich wie mitten im | |
Seminar. | |
Typisch für Fisher ist der schier unglaubliche Reichtum der kulturellen und | |
intellektuellen Bezüge. Ein gegenkulturelles Archiv eröffnet sich, in dem | |
unbekanntere Namen wie Ellen Willis neben Relektüren von Klassikern wie | |
Shulamith Firestone oder Stuart Hall und verdrängten Denkern wie Herbert | |
Marcuse stehen. Theorie, Geschichte, Alltags- und Popkultur: Man kommt aus | |
dem Notieren von Büchern, Begriffen, Filmtiteln, Songs und Werbespots kaum | |
heraus. Alles ist spannend, alles scheint wichtig. | |
Manche Diskussion mäandert auch, um dann mit dem Ende der Stunde | |
abzubrechen. Vieles ist nicht zu Ende gedacht oder bleibt vage und | |
unbefriedigend. Oft scheint auch der banale Alltag eines Uni-Seminars | |
durch: Niemand meldet sich, um das Referat über Lukács zu halten, niemand | |
versteht Lyotard so richtig, Dozent und Studierende reden aneinander | |
vorbei. | |
Die Vorlesung korrigiert teilweise ein Bild, das Fishers Texte bisweilen | |
vermitteln konnten. In seinen apodiktischen Urteilen, seiner polemischen, | |
manchmal ätzenden Rhetorik und Negativität konnte Fisher in seinen | |
schlechten Momenten wie einer jener mittelalten Pop-Bescheidwisser wirken, | |
für die Kritik vor allem ein Mittel der Distinktion ist. Fishers Ablehnung | |
von Gegenwarts-Pop und seine Glorifizierung vergangener Pop-Epochen wie | |
Glam oder Post-Punk konnte selbst ungewollt nostalgisch wirken: nach | |
alterndem Pop-Kritiker, für den früher alles besser war. | |
## Aufklärung und Pop | |
Fisher, das zeigen die letzten Vorlesungen deutlich, war aber zuallererst | |
ein politischer Denker, der Pop aus der aufklärerischen Perspektive des | |
Wunsches nach einer besseren, menschlicheren Welt analysierte. Ein linker | |
Denker, für den die Kategorie der Klasse zentral, aber keine rein | |
ökonomische war, sondern untrennbar mit Fragen des Begehrens, des | |
Geschlechts, der Sexualität, der Kultur und des Alltagslebens der Subjekte | |
verknüpft. Dem heute so heftig diskutierten Gegensatz zwischen | |
Klassenpolitik und Kämpfen um Anerkennung verweigerte er sich strikt, indem | |
er beides zusammendachte. | |
Die Vorlesungen zeigen schließlich auch: Aus Fisher spricht neben einer | |
tiefen Verzweiflung über den Zustand der Welt eine große Leidenschaft, | |
Enthusiasmus und echte Zuneigung für die Alltagskultur, die Praktiken und | |
Kämpfe arbeitender Menschen. | |
Gerade weil Fishers Werk so gegenwärtig und die von ihm aufgeworfenen | |
Fragen von so großer Dringlichkeit sind, empfindet man den abrupten Abbruch | |
der Vorlesung – und seines Denkens – als eine furchtbare und tragische | |
Lücke. Gerade jetzt zur Coronapandemie, die so viele Tendenzen des | |
neoliberalen Kapitalismus zu radikalisieren scheint, wünscht man sich einen | |
Denker wie ihn zurück. Die Vorlesung zum postkapitalistischen Begehren, die | |
unvollendet bleibt, können und sollten wir insofern auch als eine | |
Aufforderung verstehen, dieses Denken fortzusetzen. | |
28 Feb 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Neue-Alben-von-Sleaford-Mods-und-Shame/!5738552 | |
[2] /Essays-aus-dem-Nachlass-von-Mark-Fisher/!5468050 | |
[3] /Nachruf-auf-Mark-Fisher/!5374241 | |
[4] /Neues-Buch-zu-Joy-Division/!5698386 | |
## AUTOREN | |
Pablo Dominguez Andersen | |
## TAGS | |
Mark Fisher | |
Soziologie | |
Pop | |
England | |
Schwerpunkt Facebook | |
Tanz | |
Pop-Underground | |
Mark Fisher | |
Mark Fisher | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Sachbuch „Kapital und Ressentiment“: Macht der Plattformen | |
Ressentiments werden von finanzökonomischen Logiken produziert und | |
verstärkt, wie das neue Buch von Joseph Vogl „Kapital und Ressentiment“ | |
zeigt. | |
Choreograf über Theorie und Praxis: „Investment ins Humankapital“ | |
Der Choreograf Christoph Winkler bringt ein „performatives Mixtape“ über | |
den Poptheoretiker Mark Fisher heraus. Darin verarbeitet er ein Leben. | |
Indiepop-Sampler „Keine Bewegung“: Halt, Hände hoch, zuhören! | |
„Keine Bewegung“, compiliert von Staatsakt aus Berlin und Euphorie aus | |
Hamburg, ist eine schlaue Bestandsaufnahme des Pop-Underground. | |
Essays aus dem Nachlass von Mark Fisher: Dem Störenden folgen | |
In seinen letzten Essays sucht der britische Kulturtheoretiker Mark Fisher | |
einen politischen Zugang zum Unzugänglichen. | |
Nachruf auf Mark Fisher: Die Geister seines Lebens | |
Der britische Theoretiker Mark Fisher analysierte die Nostalgie der | |
gegenwärtigen Popkultur als Zeichen einer verlorengegangenen Zukunft. |