# taz.de -- Choreograf über Theorie und Praxis: „Investment ins Humankapital… | |
> Der Choreograf Christoph Winkler bringt ein „performatives Mixtape“ über | |
> den Poptheoretiker Mark Fisher heraus. Darin verarbeitet er ein Leben. | |
Bild: Christoph Winkler sucht die Bewegung in mehr als einem Sinn | |
Die Berliner Sophiensæle sind pandemisch entkernt. Kahl. Der Choreograf | |
Christoph Winkler probt dort für seine Videopremiere „It’s all forgotten | |
now – Performative Mixtape for Mark Fisher“. Wir treffen uns dort zu einem | |
Gespräch über Theorie und Praxis, Leben und Arbeit, Fürsorge und | |
Erschöpfung, Einzeiler und Krebszellen. | |
taz: Pardon, ich bin ein paar Minuten zu spät, ein bisschen aus dem | |
Rhythmus zurzeit. | |
Christoph Winkler: Kein Problem, ich habe hier schon mal zwei Stühle auf | |
Abstand arrangiert. | |
Sonst ist hier ja nicht viel. | |
Nee, es fehlt der Glamour. | |
Ihnen fehlt Glamour? | |
Na ja, ein bisschen Atmosphäre. | |
Ich lasse meine Maske auf, wegen Ihnen. | |
Okay, aber muss nicht unbedingt sein. Ich passe auf, aber ich habe mich zum | |
Beispiel entschieden, weiter zu arbeiten, weiter bei meiner Familie zu | |
bleiben. | |
Statt Isolation. Sie sind Risikogruppe. | |
Daher war ich das Maskentragen schon vor Covid-19 gewöhnt. Aber wenn man | |
arbeitet, kann man nicht immer 100 Prozent ausschließen, dass etwas | |
passiert. Als ich mit den Proben zum „Eastman-Projekt“ anfangen wollte, | |
bekam ich eine virale Meningitis. | |
Meningitis? | |
Ja, Gehirnhautentzündung. Normalerweise würden wir das nicht merken. Unser | |
Immunsystem ist da gut drauf geeicht. Nur unter Chemo ist das alles weg. Du | |
hast keine Immunantwort. Oder nur eine sehr schwache. | |
Und dann? | |
Notaufnahme. Wieder nach Hause geschickt mit 40 Fieber. Am nächsten Tag | |
noch einmal Notaufnahme. 41 Grad Fieber. Blackout. Intensivstation. Meine | |
Freundin wurde gewarnt: Ob er wieder aufwacht und wie, das können wir Ihnen | |
nicht sagen. Es war der erste Tag vom Projekt. Sieben Tänzer und | |
Tänzerinnen standen auf der Matte. Ohne mich. Meine Freundin hat also – | |
anonym – wegen der Fördergelder beim Senat angerufen: Gesetzt den Fall, | |
dass … | |
Sie nicht wieder …? | |
Was machen wir mit den Tänzern? Können wir die trotzdem bezahlen? | |
Sie haben in dieser Situation daran gedacht, die Tänzer_innen zu bezahlen! | |
Ich ja gar nichts. Ich war weg. Aber wäre mir schon auch wichtig gewesen, | |
dass die Leute nicht auf der Straße stehen. Zum Glück ist nach zwei Wochen | |
alles wieder angesprungen. Auch das Gehirn. | |
Was hat der Senat gesagt? | |
Es gibt da nicht so die direkte Antwort. Keine FAQs, was man macht bei | |
schweren Krankheiten. Das will ich jetzt mal machen. Es gibt da jede Menge | |
Fragen zu klären. Könnte ich zum Beispiel Sergiu Matis fragen: Mach mal | |
fertig? Könnte ich den Probenraum halten? | |
Wenn Sie keine Projektgelder haben, können Sie die Miete nicht zahlen. Dann | |
wären all die großen Investitionen, die Sie in Eigenleistung in den Raum | |
gesteckt hast, umsonst. | |
Genau. | |
Aber nach zwei Wochen waren Sie zurück. | |
Preuße anscheinend. Eine halbe Stunde pro Tag konnte ich proben. Mehr ging | |
nicht. Aber immerhin. Hätte auch sechs Monate dauern können. | |
Sie klingen wie ein glücklicher Workaholic. | |
Nun ja. Immunsystem und Psyche, das hängt schon zusammen. Krebs ist enorm | |
psychoaktiv, auch bei mir. Ich gehe durch alle Phasen. Wobei ich auch | |
vorher schon psychischen Stress gekannt habe. Ein Pflegekind mit höchster | |
Pflegestufe. Bindungsstörung mit Enthemmung – ein gewaltvoller Alltag. Und | |
ich war alleine. Die ganze Auseinandersetzung. Jeden Tag. Schule. | |
Jugendamt. Nach dieser Phase war ich runter. Aber! Ich gehe ins Studio und | |
da kann ich mich aufbauen. Auch mitten in der Chemo. Ich sage mir: Ich will | |
jetzt nicht rumliegen und kotzen, ich gehe lieber ins Studio, da kann ich | |
wenigstens mal lachen. Innerhalb des Studios ist für mich eine eigene Welt. | |
Was ist Ihr Grund, Ihr neues Stück dem [1][Kult-Kulturkritiker Mark Fisher] | |
zu widmen, der ja nicht gerade als Vorbild erfolgreicher Überkompensation | |
gilt? | |
Mal abgesehen davon, dass ich ihn schon immer sehr geschätzt habe – ich bin | |
ja auch ein bisschen Musik-Aficionado und hab da so meine Geschichte. | |
[2][Ihr Label „Klangkrieg“?] | |
Ja, das war Mitte der 1990er. Da habe ich das Label „Klangkrieg“ und eine | |
Konzertreihe kuratiert. In etwa zeitgleich mit CTM. Diese Zeit, in der man | |
Spex gelesen hat und Diedrich Diederichsen, Mixtape, Texte zur Kunst und | |
Derrida, in der das alles zusammenkam. „Mille Plateaux“ hieß ein Label, | |
also nach Deleuze, der Diskurs hatte in der Popkultur einen unglaublichen | |
Stellenwert! (Es folgt eine beeindruckende Aufzählung.) Mark Fisher war ein | |
wichtiges kritisches Pendant dazu. Ich habe jetzt nicht jeden Blogeintrag | |
gelesen und so. Nur als dann die Nachricht kam, dachte ich: Hm, is ja blöd. | |
Die Nachricht von dem Suizid. | |
Hatte ich nicht erwartet. Hat mich getroffen. Ich wollte wissen, warum. Ich | |
meine, natürlich weiß ich, warum: Weil er Depressionen hatte. Aber das | |
reichte mir nicht. Es gab viele Leute, die das auch beschäftigt hat. Das | |
ganze Ding fing an: Leute, die über ihn schrieben, wie wichtig er war. Das | |
Buch „Egress: On Mourning, Melancholy and the Fisher-Function“, Symposien | |
bei CTM, die Frage, wie man die Trauer nutzbar machen kann, etc. Bei diesem | |
Chor junger trauernder Männer, oft vor allem junger Männer, spürte ich dann | |
irgendwann den Wunsch, mit Mark Fishers Witwe zu sprechen. Es dauerte, bis | |
das niedergeschrieben war und ich sie gefragt habe. Sie hat zugesagt, unter | |
der Bedingung, dass sie Kontrolle über das Material hat. Dann kam Corona. | |
Also kein Vor-Ort-Interview. | |
Nein, und auch kein Zoom. Das möchte ich nicht. Würde nicht passen. Wir | |
haben umdisponiert. Das war wegen der Pandemie sowieso nötig. Es geht mir | |
ja auch darum, möglichst viele von meinen Leuten zu bezahlen. Auch die, die | |
wegen Covid-19 nicht nach Berlin kommen können. So kam die Idee, ein | |
performatives „Mixtape“ zu machen. Wir haben uns dafür einzelne Konzepte | |
aus Fishers Werk, wie zum Beispiel die Hauntology, Camp, Glamrock oder das | |
Seltsame, angeschaut und aus verschiedenen Perspektiven – zum Beispiel der | |
einer Sozialisierung in Burkina Faso – in Stimmungen übersetzt, in Musik, | |
Videos, Bilder, spoken word, Tanz. So wie Fisher selbst Burial oder Jungle | |
oder den Gesichtsausdruck seiner Studenten als Ausgangspunkt genommen hat, | |
um daraus etwas zu entwickeln. | |
Wenn Sie Ihren Krebs, das Non-Hodgkin-Lymphom, oder den Umgang mit den | |
Bindungsstörungen Ihrer inzwischen erwachsenen Pflegetochter öffentlich | |
machen, verweist dies auf die Entscheidung, Krankheit im Sinn Fishers zu | |
entprivatisieren, das heißt zu repolitisieren? | |
Es ist vielmehr so, dass ich diese Thematiken nicht auslasse. Dass ich | |
frage, was mich dabei mit anderen verbindet oder von ihnen unterscheidet. | |
In Bezug auf meinen Umgang damit sowie auf meine Privilegien im Umgang | |
damit. Ich mache das weniger, um therapeutisch damit umzugehen. | |
Therapiearbeit mache ich auch, aber es ist nicht das, was mich als | |
künstlerischer Prozess in erster Linie interessiert. Es ist die Frage: Wie | |
kann man über etwas sprechen, was kann man tanzen? Dafür werde ich von der | |
Gesellschaft schließlich bezahlt. Und das funktioniert mit den Stücken ganz | |
gut. In [3][„La Fille“] (über eine schwierige Vater-Tochter-Beziehung; d. | |
Red.) sah ich viele weinende Eltern, Erzieherinnen und Pfleger. | |
Andererseits wurde das Stück aber nicht zigmal gebucht. Es bleibt ein | |
Fremdkörper. Es gibt Kuratorinnen, die sich nicht trauen, das zu bringen. | |
Ihr Auftrag ist es, Dinge zu thematisieren, nicht, sie ertragbar zu machen? | |
Den Wunsch, etwas zu bewegen, habe ich schon. Sonst wäre ich wohl nicht | |
beim Tanz gelandet. Aber dazu müssen erst einmal Themen her. Es gibt | |
vieles, was nicht thematisiert wird. Das Vergessenwerden des Komponisten | |
Julius Eastman zum Beispiel, einschließlich der ganzen soziologischen | |
Fragen, die damit zu tun haben. Solche Fragen verklingen meistens sehr | |
schnell. Für das aktuelle „Mixtape“ haben wir zum Beispiel viel [4][nach | |
Texten zu Grenfell, vor und nach Grenfell,] gesucht. | |
Das ist der Sozialbau, der 2017 in London abgebrannt ist. | |
Die Texte dazu sind für mich wie eine Bestandsaufnahme und | |
Zustandsbeschreibungen postkapitalistischer Gesellschaftserfahrungen. | |
Worunter auch die Pandemie fallen dürfte. Passt es, an dieser Stelle Mark | |
Fisher zu zitieren? Er schreibt in „k-punk“ mit Bezug auf die Proteste | |
gegen die Cameron-Regierung: „Die jüngste Zunahme an Militanz in | |
Großbritannien, vor allem unter jungen Leuten, legt nahe, dass die | |
Privatisierung von Stress an ihre Grenzen kommt: Anstatt der medizinisch | |
behandelten, individuellen Depression sehen wir nun Ausbrüche öffentlichen | |
Ärgers.“ | |
Nun ja, bei Fisher ist es ja immer so, dass man irgendwas liest und sagt: | |
Aha, so ist das! Mit einem Einzeiler kann der irgendwie total viel machen. | |
Was treibt Sie? | |
Frage ich mich auch. Die Krankheit gibt mir nur noch eine begrenzte Zeit. | |
Muss ich noch was Bestimmtes tun? Andererseits ist es auch ganz gut, wie es | |
ist. Ich kann Projekte machen und die Gelder, die ich dafür bekomme, | |
weiterverteilen, in Länder, in denen es keine gibt. Die Tänzer legen die | |
Gelder zum Beispiel in Burkina Faso oder Kampala in choreografische Zentren | |
an. Ich kann mit Leuten, die ich mag, etwas bewegen. Neoliberal würde man | |
sagen: Lean Management mit hohem Investment ins Humankapital. | |
Das scheinbar Widersprüchliche an Mark Fisher war, dass er an die Zukunft | |
glaubte. Er ging davon aus, dass es gute Geister im Denken der Moderne | |
gibt. Man müsse sie allerdings befreien. Diese Fähigkeit verordnet er der | |
politischen Linken. Gibt es konkrete ideengeschichtliche Themen, für die | |
Sie sich einsetzen? | |
Ich denke, es geht um die Übung, komplexe Systeme zu knacken. Das geht | |
vielleicht anhand des Versuchs, komplexe Themen zu fassen und auf die Bühne | |
zu bringen. Ein Tanz, 65 Minuten zu HeLa-Zellen, das geht. Die andere | |
Komponente, die mir immer wichtiger wurde: den westlichen Blick zu | |
hinterfragen. Gleichzeitig bin ich aber auch gnadenloser Kulturpessimist. | |
Butter bei de Fische: Brauchen wir denn die ganze Kunstproduktion? Ist das | |
nicht alles viel zu viel? Reicht das noch über die eigene Blase hinaus? | |
Will das jemand entschlüsseln? | |
Es folgt ein Exkurs über den Nouveau Roman, René Girard und den Vergleich | |
von dessen mimetischer Theorie mit Jacques Lacans Theorie des | |
Spiegelstadiums. Winklers Ausführungen streifen, um es in zusammengefasster | |
Form anzudeuten, die Aufhebung des Gesetzes der Mimesis bei der sexuellen | |
Vereinigung, Paypal-Mitbegründer Peter Thiel und dessen Gründe der | |
Investition in Facebook und enden mit der Erklärung, wie Begehren in Gewalt | |
umschlägt. | |
Also eher No Future? | |
Ich bin nicht so wie die 68er, die gedacht haben: In vier Jahren kriegen | |
wir das hin. Dinge dauern. Das sehen wir zum Beispiel, wenn wir uns damit | |
beschäftigen, wie lange es brauchte, bis man nach dem Dreißigjährigen Krieg | |
Frieden schließen konnte. Dieses ganze Prozedere, welche Kutsche zuerst | |
vorfährt! Aber ich denke, der Wunsch, es besser zu machen, der war und ist | |
immer da. | |
22 Nov 2020 | |
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## AUTOREN | |
Astrid Kaminski | |
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