# taz.de -- Bürger:innenräte in der Klimakrise: Das Los als Lösung? | |
> Zufällig ausgewählte Menschen sollen in Freiburg und Umgebung Vorschläge | |
> für eine bessere Klimapolitik machen. Das erste Fazit fällt gemischt aus. | |
Bild: Sie sollen die Gesellschaft widerspiegeln: die Teilnehmer:innen bei der A… | |
FREIBURG taz | Nachdem die Schülerin Tabea Trost, der Systemadministrator | |
Stefan Falk und der Postfilialleiter Heiko Quappe tagelang Dokumente | |
gewälzt, Expert:innen befragt und sich genau überlegt haben, wie sie die | |
Region vor der Klimakatastrophe retten können, räuspert sich ein Mitglied | |
des Horbener Gemeinderates und sagt: „Das, was ihr da gemacht habt, ist | |
reine Zeitverschwendung gewesen.“ | |
Horben ist ein Dorf bei Freiburg und es hat zusammen mit 15 anderen Städten | |
und Gemeinden im Mai den ersten interkommunalen Klimabürger:innenrat | |
Deutschlands ins Leben gerufen. 91 Bürger:innen wurden dafür ausgewählt. | |
Ihre Aufgabe: Der Lokalpolitik Empfehlungen schreiben, wie die Region | |
möglichst schnell zu 100 Prozent mit erneuerbaren Energien versorgt werden | |
kann. Im Oktober liegen sie auf dem Tisch der Gemeinden. Die Reaktion der | |
Lokalpolitiker:innen entscheidet darüber, was aus ihnen wird: Ein | |
Anstoß für eine neue Politik oder ein Ärgernis für den Papierkorb. | |
Bürger:innenräte sollen Bürger:innen in Entscheidungen einbeziehen | |
und die Demokratie stärken. Das besondere ist, dass die | |
Teilnehmer:innen ausgelost werden und sich vorher nicht mit dem Thema | |
auskennen müssen. Sie sollen die Bevölkerung widerspiegeln. In Irland | |
empfahl eine Citizens’ Assembly nach langen Beratungen und Diskussionen die | |
Legalisierung der Abtreibung und die Einführung der Ehe für alle, was im | |
angeblich so konservativen Land eine Überraschung war. Die Regierung setzte | |
beide Projekte um und der Prozess wurde zum Vorbild. | |
Doch funktioniert ein Bürger:innenrat auch, wenn es darum geht, die | |
Klimakrise aufzuhalten? Sind die Lösungen für die Probleme nicht längst | |
bekannt? Und: Haben wir überhaupt noch die Zeit zu reden, müssten wir nicht | |
längst handeln? | |
An politischer Legitimation für die Bekämpfung der Klimakrise fehlt es | |
jedenfalls nicht. In Umfragen wird das Thema immer wieder als das | |
drängendste Problem unserer Zeit genannt, selbst während der Hochphase der | |
Coronapandemie war das so. Gleichzeitig denken fast 75 Prozent der | |
Bevölkerung [1][laut einer Umfrage], die Bundesregierung tue nicht genug | |
oder eher nicht genug, um den Klimawandel zu bekämpfen. Auch die Kommunen | |
bekamen kein gutes Zeugnis. | |
Es gibt ein Thema, das insbesondere in Baden-Württemberg für Kontroversen | |
sorgt: Windkraft. Komplizierte Planungsverfahren und erbitterter, | |
[2][lokaler Widerstand] haben den Windradausbau in Baden-Württemberg | |
faktisch zum Stillstand gebracht. Im vergangenen Jahr wurden nur 31 neue | |
Windräder in Betrieb genommen. Da hingt das Ländle sogar Bayern hinterher. | |
Wird der Rat hier eine Lösung finden? | |
„Wenn die eigenen Bürger öffentlich Druck machen, können sich die | |
Gemeinderäte nicht mehr wegducken“, sagt Gabriele Michel. Von ihr ist die | |
Idee des Freiburger Klimabürger:innenrates ausgegangen. Seit 2019 | |
setzte sich die Autorin und Dozentin mit einigen Mitstreiter:innen für | |
die Gründung eines solchen Rates ein. In der Zwischenzeit wurde auch ein | |
bundesweiter Bürgerrat Klima initiiert, der vor der Bundestagswahl 2021 | |
[3][seine Empfehlungen vorlegte]. Auch in Berlin erarbeiteten zufällig | |
ausgewählte Menschen [4][lokale Forderungen]. | |
Besonders in Freiburg und Umgebung ist, dass sich mehrere [5][Gemeinden und | |
Städte zusammengetan] haben. Politische Empfehlungen zu Energie können | |
nicht an der Stadtgrenze enden, das war die Idee. Aus etwa 4.000 gelosten | |
Menschen der Region wurden die 91 Teilnehmer:innen ausgesucht. Tabea | |
Trost, 16, Schülerin aus Freiburg bekam eine der Einladungen, genauso wie | |
Stefan Falk, 64, Systemadministrator aus Elzach und Heiko Quappe, 39, | |
Postfilialleiter aus Freiburg. | |
Damit die Teilnehmer:innen die Bevölkerung der Region möglichst gut | |
abbilden, wurden unter den Interessierten die Kriterien Alter, Bildung und | |
Migrationserfahrung berücksichtigt. Beim Alter hat das ganz gut geklappt, | |
doch Menschen mit Migrationserfahrung sind unterrepräsentiert. Auch bei den | |
Bildungsabschlüssen ist das Bild verzerrt: Fast 50 Prozent der | |
Teilnehmer:innen haben eine Fach- oder allgemeine Hochschulreife, dabei | |
sind es in Baden-Württemberg nur 34 Prozent. Zu dieser Verzerrung kommt es | |
auch deshalb, weil es ein ehrenamtlicher Job ist, den am Ende dann doch | |
diejenigen machen, die sich besonders für das Thema interessieren – und | |
sich das Engagement leisten können. Auch wenn die Teilnehmer*innen eine | |
Aufwandsentschädigung bekommen. | |
Rechtlich bindend sind die Empfehlungen des Rates nicht. Also was, wenn die | |
Gemeinderät:innen die Empfehlungen einfach ignorieren? „Dann wäre das | |
eine Katastrophe für die Demokratie“, sagt Gabriele Michel. Lokalpolitik | |
lebe davon, die Menschen vor Ort ernst zu nehmen. | |
Fünf Samstage treffen sich die Teilnehmer:innen über den Sommer. Am | |
ersten Tag teilen sie sich nach Themenfeldern in Gruppen auf. Tabea Trost | |
und Stefan Falk gehen in die Windkraft-Gruppe, Heiko Quappe in eine Gruppe, | |
die sich mit weiteren erneuerbaren Energien beschäftigt. Außerdem gibt es | |
die Themenfelder Solar auf Freiflächen, Solar auf Gebäuden und | |
Energiesparen. Jede Gruppe erarbeitet Empfehlungen, über die dann alle | |
gemeinsam am Ende abstimmen. | |
Tabea Trost trägt geblümte Vans, die Haare hat sie in der Mitte | |
gescheitelt. Sie geht in die 12. Klasse eines Gymnasiums und vor dem | |
Klimabürger:innenrat hat sie sich noch nie politisch engagiert. „Es | |
wird ja immer viel gemeckert. Aber ich finde, dass man sich auch einbringen | |
und etwas vorschlagen muss“, sagt sie. Der Rat sei für sie die Möglichkeit | |
gewesen, genau das zu machen. „Ich hoffe, dass wir etwas verändern.“ | |
## „Seien Sie radikal“, empfiehlt ein Experte | |
An den ersten Samstagen lernen sich die Teilnehmer:innen kennen und | |
hören sich Vorträge von Expert:innen an, die sie auf einen einigermaßen | |
gleichen Wissensstand zum Klimawandel bringen sollen. Die Veranstaltungen | |
finden in den teilnehmenden Kommunen statt: in einer Konzerthalle in | |
Merzhausen; im Kreisgymnasium in Neuenburg und in einer Veranstaltungshalle | |
in Emmendingen. | |
Die taz war bei den ersten Treffen nicht dabei. Ein Experte für Raumplanung | |
habe folgenden Ratschlag geben, erzählt ein Teilnehmer zu einem späteren | |
Zeitpunkt: „Seien sie radikal in ihrem Empfehlungen. Es kann gar nicht | |
mutig genug sein.“ | |
Am vierten Samstag sprechen die Mitglieder des Rates Passant:innen auf | |
den Wochenmärkten der Region an. Trost hat sich den Bauernmarkt im | |
Freiburger Stadtteil Stühlinger ausgesucht. Unter Kastanienbäumen verkaufen | |
Landwirt:innen Äpfel und Salat. Die Teilnehmer:innen des Rates haben | |
sich mit ihrem Info-Stand zwischen den Olivenverkauf und den Bäcker | |
gestellt. | |
Tabea Trost spricht eine Frau mit vollen Einkaufstüten an und es schwingt | |
etwas Stolz in ihrer Stimme mit, als sie den Klimabürger:innenrat | |
vorstellt. „Das ist ja super“, sagt sie, als Trost ihren Vortrag beendet | |
hat. Ob sie Anregungen habe, fragt Trost. „Nein, eigentlich nicht. Ich | |
frage mich eher, ob Sie ein paar Tipps für mich haben. Wir haben zu Hause | |
eine alte Ölheizung. Wie sieht es denn da mit Zuschüssen aus?“ Trost ist | |
überfragt, aber sie notiert sich: Informationsangebote schaffen. | |
Drei Portugiesinnen laufen vorbei. Als Trost sie auf Windkraft anspricht, | |
sagen sie: „Wir haben überall Windräder bei uns an der Küste. Das ist gar | |
kein Problem. Wir finden das schön.“ | |
Es ist ein Heimspiel für den Klimabürger:innenrat. Auf dem Freiburger | |
Wochenmarkt gibt es niemanden, der sich gegen erneuerbare Energien | |
ausspricht. Trotzdem sind die Gegner:innen der Windräder ein Thema. Wie | |
soll man mit ihnen umgehen, den Menschen oben im Schwarzwald, die auf ihren | |
Bergen keine Windräder haben wollen? | |
## Weniger Widerstand als erwartet | |
Stefan Falk wohnt in einem kleinen Tal im Schwarzwald. Er war auf dem Markt | |
seiner Heimatgemeinde Elzach, aber auch dort habe er mit keinem | |
Windkraftgegner gesprochen. Im Gegenteil. Die Leute interessierten sich für | |
erneuerbare Energien, sagt Falk. | |
Dass die Zahl der Windkraftgegner:innen in Baden-Württemberg eher | |
klein ist, bestätigt eine Forsa-Umfrage aus dem Jahr 2018, die vom | |
Energieunternehmen EnBW in Auftrag gegeben wurde. 87 Prozent der Befragten | |
fanden den Ausbau von Windrändern wichtig. Und: 82 Prozent der Befragten | |
mit einem Windrad in Wohnortnähe waren damit einverstanden. | |
Stefan Falk denkt schon seit den 90er Jahren über die lokale Nutzung von | |
erneuerbaren Energien nach. Damals hatte er die Idee, ein kleines | |
Wasserkraftwerk zu bauen. Doch als er die Genehmigung beantragte, sagte ihm | |
ein Mitarbeiter des Landratsamtes: „Das wird zehn Jahre dauern.“ | |
Also dachte sich Falk etwas anderes aus. Er kaufte eine thermische | |
Solaranlage, 25 Quadratmeter groß, legte das Betonfundament und schweißte | |
Stahlgestelle auf sein Grundstück. Zuerst belächelten ihn seine | |
Nachbar:innen dafür, jetzt beneiden sie ihn. „Mich fasziniert es, | |
Energie zu gewinnen, ohne dass dadurch etwas weniger wird“, sagt Falk. | |
## Sieben Jahre, bis sich ein Windrad dreht | |
Seit 2017 fährt er Elektroauto, mittlerweile hat es 85.000 Kilometer auf | |
dem Tacho. Stefan Falk muss nicht vom Kampf gegen den Klimawandel überzeugt | |
werden. Er beschreibt seine Motivation so: „Ich habe vier Kinder und ich | |
möchte, dass sie in einer Welt leben, die noch lebenswert ist.“ | |
Falk arbeitet als Systemadministrator in einer Schule und am liebsten | |
würde er die Handlungsempfehlungen wie eine Anleitung formulieren, um ein | |
Computerproblem zu lösen. In etwa so: Um ein Windrad zu bauen, gründen Sie | |
eine Genossenschaft. Stellen Sie den Antrag. Fangen Sie mit dem Bauen an. | |
Freuen Sie sich über den Wind. Erhalten Sie das Geld auf Ihrem Konto! | |
Doch im echten Leben dauert es dann im Schnitt sieben Jahre, bis sich das | |
Windrad dreht. Denkmalgeschützte Gebäude, der Rotmilan, | |
Landschaftsschutzgebiete, all das verzögert oder verhindert den Bau von | |
Windrädern. Manchmal dauert ein Genehmigungsverfahren so lange, dass | |
Naturschutzgutachten im Laufe des Prozesses veraltet sind und neu erstellt | |
werden müssen. | |
Am Nachmittag des Markttages treffen sich die Mitglieder des Rates in einer | |
Realschule in Freiburg, um über die Gespräche zu reden. Das Gebäude ist | |
modern, die Betonwände sind blank, die Decken aus gepresster Holzwolle. | |
Auch innerhalb der Gruppe ist es schwierig, jemanden zu finden, der gegen | |
Windräder ist. Einen gibt es allerdings. | |
Heiko Quappe, 39, sitzt in einer Pause in einer Sofaecke der Schule und | |
sagt: „Windräder machen die Natur kaputt.“ Er erzählt von Vögeln und von | |
Insekten, die von Rotoren geschreddert werden. | |
Was ist mit dem Argument, dass auch die Erderhitzung Arten bedrohe, wenn | |
Tiere und Pflanzen ihren Lebensraum verlieren? | |
Quappe redet einfach weiter und weiter, er springt von Vermutung zu | |
Vermutung und landet bei der Ukraine. Er ist überzeugt, dass Wladimir | |
Putin dort angegriffen habe, weil er sich bedroht fühlte. Gegenargumente | |
lässt er nicht gelten, stattdessen wechselt er einfach das Thema. | |
An Heiko Quappe zeigt sich, wie der Klimabürger:innenrat an Grenzen | |
stößt. Was können Expert:innen-Inputs und Argumente bewirken, wenn die | |
Diskussion nicht funktioniert? | |
Zur Frage, was gesellschaftlicher Dialog, was | |
Bürger:innenbeteiligung erreichen kann, sind in den letzten Jahren | |
viele Bücher erschienen. Dass eine relevante Zahl von Menschen Politik als | |
abgehoben und unnahbar empfindet, ist ein Problem für die Demokratie. | |
Aber wie viel Kraft sollte eine Gesellschaft investieren, laute | |
Minderheiten zu verstehen? | |
Quappe und die Windkraftbefürworter:innen sind kaum ins Gespräch | |
gekommen. Ein- oder zweimal habe jemand versucht, ihn von Windrädern zu | |
überzeugen. Aber der habe ihm gar nicht richtig zugehört, sagt Quappe. Man | |
habe aneinander vorbeigeredet. | |
Was braucht es, damit man sich gegenseitig ernst nimmt? | |
Vor allem brauche man Zeit, sagt Heiko Quappe. „Die fünf Tage waren | |
wahrscheinlich nicht lang genug, um sich richtig kennenzulernen.“ | |
Quappe freut sich, wenn ihm jemand zuhört. Er erzählt, wie froh er sei, am | |
Klimabürger:innenrat teilzunehmen. Besonders aufmerksam habe er bei | |
der Videobotschaft eines Managers des regionalen Energieversorgers | |
zugehört. Der Manager erzählte von Problemen mit dem Bau von Südlink, einer | |
Stromleitung, die Baden-Württemberg mit Windstrom aus der Nordsee versorgen | |
soll. | |
Die Leitung sollte längst fertig sein, aber sie wurde immer wieder | |
gerichtlich gestoppt, weil die betroffenen Gemeinden mit der | |
Streckenführung nicht einverstanden waren, und nun könnte es knapp werden | |
mit dem Strom im Süden, wenn die Atomkraftwerke ausgestellt werden. Quappe | |
interpretiert das so: „Wir haben den Atomstrom zu früh abgestellt.“ | |
Dass der Klimawandel gestoppt werden muss, steht für ihn aber außer Frage. | |
Bloß ohne Windräder. „Photovoltaikanlagen auf Dächern finde ich zum | |
Beispiel super“, sagt er. Und Geothermie, also die Nutzung der in der | |
Erdkruste gespeicherten Wärmeenergie. | |
Stefan Falk und Tabea Trost beschäftigen sich an diesem Nachmittag mit den | |
Begriffen Windhöffigkeit, Ausbauvorrangebiet und Genehmigungsfreiheit. Die | |
Gruppe hat sich in ein Klassenzimmer zurückgezogen, gut zehn Menschen | |
sitzen in einem Stuhlkreis. Besonders die Älteren der Windkraftgruppe | |
scheinen es darauf anzulegen, die Empfehlungen möglichst kompliziert zu | |
formulieren und viele Fachbegriffe zu nutzen. Die Teilnehmer:innen | |
wurden im Laufe des Prozesses mit technischen Details bombardiert. „Das | |
muss juristisch wasserdicht sein“, sagt eine Frau. Dabei gibt es gar keinen | |
Juristen in der Gruppe. | |
## Rücksicht die eigene Wiederwahl ist nicht nötig | |
Eine Frau möchte, dass jeder ein kleines Windrad auf seinem Grundstück | |
bauen kann, ohne dafür eine Genehmigung zu beantragen. Die anderen sind | |
etwas genervt, weil die Frau darüber wohl schon öfter geredet hat, aber sie | |
lässt sich nicht von ihrem Thema abbringen. „Ich finde wir gehen zu sehr | |
ins Detail“, sagt Tabea Trost. | |
[6][Die Moderatorin] lässt die Diskussion laufen, ermuntert | |
Teilnehmer:innen, die noch gar nichts gesagt haben. Jeder soll zu Wort | |
kommen, auch wenn das, was er sagt, eher Wunschdenken ist. | |
Dann wird es auf einmal spannend, denn jemand wirft eine entscheidende | |
Frage in den Raum: Wie viele Windräder brauchen wir denn eigentlich in den | |
drei Landkreisen? | |
„In dieser Studie steht 670, damit die Grundlast gesichert wird.“ | |
„Wirklich so viele?“ | |
„Das kann nicht sein. Das ist ja utopisch. Dann müsste ja auf jedem Berg | |
ein Windrad stehen.“ | |
„Der eine Experte hat von 270 geredet.“ | |
„Na gut, dann schreiben wir 270 rein.“ | |
Die Gruppe diskutiert, ob man nicht auch empfehlen sollte, auf Feldberg, | |
Blauen und Belchen, also auf den höchsten Bergen des Schwarzwalds, | |
Windräder zu bauen. „Da oben ist am meisten Wind“, sagt ein jüngerer | |
Teilnehmer. Könnte man nicht sogar die Gemeinden verpflichten, zuerst auf | |
den Gipfeln Windräder zu bauen? Was sie hier sagen, das ist für | |
Baden-Württemberg ziemlich radikal. | |
Der Feldberg ist mit 1.493 Metern Baden-Württembergs höchster Gipfel und | |
ein Symbol, das von zwei Gruppen beansprucht wird. Zum einen sind das die | |
Naturschützer:innen, denen der Ski-Rummel im Winter zu groß ist, weil er | |
die letzten Auerhühner des Schwarzwalds bedroht. Zum anderen sind das die | |
Touristiker:innen, die versuchen, den Gipfel als Naturerlebnis zu | |
verkaufen, obwohl längst Seilbahnen und eine geteerte Straße hinaufführen. | |
Beide Gruppen sind sich einig: Windräder haben auf dem Feldberg nichts zu | |
suchen. | |
Stefan Falk schaut in sein Smartphone, ihm geht das Ganze zu weit. Feldberg | |
… Irgendwann nimmt sich Tabea Trost, die Jüngste in der Runde, ein Herz und | |
sagt: „Wenn wir uns den Feldberg als Ziel setzen, dann kommen wir nicht | |
weit. Da gibt es zu viel Gegenwehr.“ Es könnten die Worte einer Politikerin | |
sein, die strategisch überlegt, wie sie am Besten ans Ziel kommt. | |
Der Gruppe ist die Radikalität ihrer Idee offenbar unheimlich geworden. | |
Dabei hätte genau das auch eine Stärke sein können: einen provokanten, | |
vielleicht sogar utopischen oder unpopulären Vorschlag zu machen. Die | |
Bürger:innen müssen, anders als Politik:innen, keine Rücksicht auf eine | |
mögliche Wiederwahl nehmen. | |
## Was werden die Lokalpolitiker:innen sagen? | |
Am fünften Samstag trifft sich der Rat in Stegen, einem Dorf zehn Kilometer | |
von Freiburg entfernt. Heute müssen die Empfehlungen fertig werden. Die | |
Gruppe hat noch viel zu tun. Doch an diesem Nachmittag spricht erst mal die | |
Bürgermeisterin von Stegen ein Grußwort. | |
Die Politikerin mit der Dauerwelle steht auf der Bühne der Turnhalle, Tabea | |
Trost, Stefan Falk und Heiko Quappe hören höflich zu. Die Luft ist stickig | |
an diesem Julitag in der Sporthalle. | |
„Wir in Stegen machen schon viel gegen den Klimawandel“, sagt die | |
Bürgermeisterin. Die Gemeinde habe ein Lastenrad angeschafft, das | |
Bürger:innen kostenlos ausleihen können. Es gebe eine Verdirbnix-Box, um | |
Lebensmittel zu retten. Und die LED-Straßenlaternen. | |
Eigentlich müsste nun jemand einschreiten und die Bürgermeisterin fragen, | |
wie um alles in der Welt ein Lastenrad, ein Lebensmittelschrank und ein | |
paar Laternen die Klimakrise aufhalten sollen, aber das macht keiner. Die | |
Bürgermeisterin spricht weiter ihre Werbebotschaft. | |
Etwas fürs Klima tun, das klingt gut. Vielleicht haben viele Gemeinden auch | |
nur wegen dieses öffentlichen Drucks an diesem Beteiligungsverfahren | |
teilgenommen. Welcher Bürgermeister kann es sich schon leisten, als | |
jemand dazustehen, der das Klima nicht schützen will? | |
Als die Bürgermeisterin ihre Rede beendet hat, setzen sich Tabea Trost und | |
Stefan Falk in einen Stuhlkreis. „Unsere Vorstellungen sind noch nicht | |
konkret genug“, sagt Stefan Falk. „Wir sollten deutlich machen: Außer | |
Windkraft und Solar haben wir nichts, was uns aus der Klemme hilft.“ | |
Kopfnicken. Das soll in die Präambel, das Vorwort. | |
Die Präambel beginnt mit den Worten: „Der menschengemachte Klimawandel | |
zerstört die Lebensgrundlage der gesamten Menschheit.“ Und endet: „Je | |
länger wir warten, umso dramatischer werden die Auswirkungen und umso | |
drastischer werden die Maßnahmen sein, dem entgegenzuwirken.“ | |
Am Ende des Tages einigt sich die Windkraft-Gruppe auf vier Punkte. Alle | |
ausgewiesenen Windkraftflächen sollen sofort genutzt werden, an den | |
Standorten mit dem meisten Wind zuerst. Die Kommunen sollen Planung und | |
Genehmigung vereinfachen und zusammenarbeiten. Wo bisher kleinere Windräder | |
stehen, sollen sie durch größere ersetzt werden. Bürger:innen sollen von | |
den Erträgen lokaler Anlagen profitieren und mit Kommunikation und | |
Transparenz soll Windkraftkritiker:innen vor Ort begegnet werden. | |
Alle Punkte werden bei der Abstimmung angenommen. Nur die Zahl der 270 | |
Windräder aus der Diskussion in der Gruppe steht nicht mehr drin. Sie hätte | |
ein konkreter Anstoß sein können. Irgendwo, im Laufe der Diskussion, ist | |
sie verloren gegangen. | |
Alle Forderungen sind abgestimmt, nun folgt die Bewährung: Wie kommen die | |
Empfehlungen bei denen an, für die sie entwickelt wurden? Was sagen die | |
Gemeinderät:innen vor Ort? | |
Die Kommunen sind diejenigen, die auch das meiste für den Prozess gezahlt | |
haben. 150.000 Euro hat der Bürger:innenrat etwa gekostet: | |
Organisation, Moderation, Verpflegung der Teilnehmer:innen. Ein Drittel | |
haben Sponsor:innen übernommen, zwei Drittel zahlen die 16 Gemeinden. | |
## Der Rat hat die Teilnehmer:innen verändert | |
Ein Oktoberabend in Horben, das Dorf liegt auf den ersten Höhen des | |
Schwarzwalds, nur ein paar Kilometer von Freiburg entfernt, aber Horben ist | |
eine andere Welt als die Stadt unten im Tal. | |
Die Gemeinderät:innen hier sind bekannt dafür, dass sie gerne | |
streiten, und eine Ratssitzung dauert auch mal drei bis vier Stunden. Um | |
fünf nach sieben fehlen noch drei Ratsmitglieder, denn heute hat ein Haus | |
gebrannt und die Ratsmitglieder sind auch Feuerwehrleute. | |
Dann kommen die drei fehlenden Ratsmitglieder rein, und es geht los. Vorn | |
steht ein Vertreter des Klimabürger:innenrates im Horbener | |
Gemeinderat und stellt das Gutachten vor. Der Mann trägt ein blaues Sakko, | |
eine beige Hose und er klimpert vor Aufregung mit einem Schlüsselbund in | |
der Hosentasche. Er sagt: „Ich bin ja eigentlich Freiburger und wohne erst | |
seit Kurzem in Horben.“ | |
Das kommt nicht gut an, denn der Zuzug aus Freiburg verteuert die Horbener | |
Immobilienpreise. Und dann sagt er: „Ich habe auch die Schweizer | |
Staatsbürgerschaft.“ Auch das kommt nicht gut an, ein Seufzen in der Runde, | |
denn es gibt Schweizer:innen, die sich Ferienwohnungen in Horben kaufen und | |
ihre Wohnungen die meiste Zeit des Jahres leer stehen lassen. | |
Der Mann merkt nicht, wie sich die Stirn einiger Rät:innen längst in | |
Falten gezogen hat, also erzählt er munter weiter, dass er als Biologe | |
nachweisen konnte, dass die Fledermäuse keine Probleme mit Windrädern haben | |
und dass er sich auch sehr gut mit Solaranlagen auskenne, denn er habe in | |
einer Firma mal ein Praktikum gemacht. Hier spricht kein Bürger, hier | |
spricht ein Experte. Und die Mitglieder des Gemeinderates sitzen da wie | |
Schüler:innen, denen Nachhilfeunterricht erteilt wird. | |
## Der Bürgermeister ist skeptisch | |
Der Mann gehört zur Gruppe „Solaranlagen auf Freiflächen.“ Er führt aus, | |
dass es in Horben viele Wiesen gebe, auf denen man Solaranlagen aufstellen | |
könnte. „Das geht sogar bei einer Neigung bis zu 45 Grad, wie Sie die hier | |
haben“, sagt er und meint damit die Bergwiesen des Dorfes. „Das sollten Sie | |
machen.“ | |
Dann ist er fertig und der Bürgermeister, der bei den Grünen ist, was er | |
aber nicht so oft sagt, denn in Horben sind die meisten Einwohner:innen | |
sehr konservativ, räuspert sich. „Das ist ja schön und gut, was Sie da | |
sagen und es ist wichtig, dass wir hier darüber diskutieren“, sagt er. | |
„Aber haben Sie mal die Verordnung zur Öffnung der Ausschreibung für | |
Freiflächen Photovoltaikanlagen für Gebote auf Acker- und Grünflächen in | |
benachteiligten Gebieten gelesen?“ Das sagt er, ohne dabei in seine Notizen | |
zu schauen. | |
Der Bürgermeister erklärt dann, warum es so gut wie unmöglich sei, in | |
Horben eine Photovoltaik-Anlage auf eine Wiese zu setzen und er wirft mit | |
den Begriffen Umweltprüfung, artenschutzrechtliche Prüfung, Änderung des | |
Flächennutzungsplanes und Ausgleichsmaßnahmen um sich. Es mache einfach | |
keinen Sinn, so etwas für Horben zu fordern, sagt er. | |
Die Projekte scheiterten an der Bürokratie. „Die Verfahren müssen einfacher | |
werden, haben Sie daran mal gedacht?“, sagt der Bürgermeister. „Ja, das | |
haben wir“, sagt der Mann vom Klimarat. Immer wieder stehe im Gutachten, | |
dass Planungs- und Genehmigungsverfahren vereinfacht und beschleunigt | |
werden sollen. | |
Nur sind die Adressatinnen des Gutachtens die 16 Gemeinden – und die können | |
keine Gesetze ändern. Sie können höchstens versuchen, über persönliche | |
Kontakte oder über den Gemeindetag Druck auf die Landes- und Bundespolitik | |
auszuüben. | |
Hat sich der Rat also an die Falschen gewandt? Bräuchte es eher | |
Empfehlungen ans Bundesland? | |
Wenn es nach dem Horbener Ratsmitglied vom Anfang geht, dann war der | |
Klimabürger:innenrat eine Enttäuschung. „Was Sie uns da vorgestellt | |
haben, das wussten wir längst.“ Nicht nur Zeit, sondern auch Geld sei | |
verschwendet worden. „Mit den 100.000 Euro hätte man eine Solaranlage | |
kaufen können. Dann wäre das Geld wenigstens sinnvoll investiert worden“, | |
sagt er. | |
Die Teilnehmer:innen des Rates stellen dem Format hingegen ein gutes | |
Zeugnis aus. In einer Umfrage sagte eine Mehrheit: „Der | |
Klimabürger:innenrat hat meinen Glauben in unsere Demokratie | |
gestärkt.“ | |
Was von beidem wiegt mehr? Eine dritte Sicht könnte auch stimmen. | |
Vielleicht waren die Erwartungen an den Rat einfach zu hoch. Die | |
Klimakrise lösen, die Demokratie retten, das kann kein Rat der Welt an | |
fünf Samstagen schaffen. In Irland debattierten die Mitglieder der | |
Citizens’ Assembly fünf Monate lang, bevor sie eine Empfehlung zum Thema | |
Abtreibung gaben. | |
Die Klimakrise kann man nicht zu einer moralischen Frage verdichten, die | |
sich mit Ja oder Nein beantworten ließe. Um Lösungen zu finden, muss man | |
ihre Komplexität verstehen, Puzzleteile zusammensetzen und trotzdem das | |
große Ganze im Blick haben. Das haben die Teilnehmer:innen gemerkt. Und | |
wenn Kommunalpolitiker:innen nur auf Schwierigkeiten und | |
Zuständigkeiten verweisen, müsste doch einigen klar werden, dass es so | |
nicht weitergehen kann. | |
Was bleibt also vom ersten interkommunalen Klimabürger:innenrat | |
Deutschlands? Der Prozess ist noch nicht vorbei. Im Dezember soll es ein | |
Treffen der Kommunen geben. Dabei wollen die Bürgermeister:innen | |
überlegen, wie sie die Empfehlungen des Rates umsetzen können. | |
Und auch die Teilnehmer:innen haben sich in den Monaten verändert. | |
Tabea Trost will sich weiterhin für den Klimaschutz engagieren. Heiko | |
Quappe schwärmt für Geothermie. Und Stefan Falk hat wieder eine neue Idee. | |
Er möchte in seiner Heimatstadt eine Energiegenossenschaft gründen und | |
Photovoltaikanlagen beauftragen. Eine Sammelbestellung will er anschieben, | |
möglichst viele sollen mitmachen. | |
7 Nov 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://www.umweltbundesamt.de/themen/nachhaltigkeit-strategien-internation… | |
[2] /Ausbau-von-Windkraft/!5870614 | |
[3] /Buergerinnen-gestalten-Klimapolitik/!5782872 | |
[4] /Buergerraete-mischen-sich-ein/!5812973 | |
[5] https://www.buergerrat-regionfreiburg.de/ | |
[6] https://www.allwedo.eu/post/klima-b%C3%BCrger-innen-rat-region-freiburg | |
## AUTOREN | |
Jannik Jürgens | |
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