| # taz.de -- Mehr Partizipation durch Bürgerräte: Wenn das Volk stört | |
| > Bürgerräte können produktive Lösungen für verfahrene Sachdiskussionen | |
| > liefern. Leider sind die Ampelparteien bei mehr Partizipation sehr | |
| > zögerlich. | |
| Bild: Wie viel Volk ist gewollt? Die Spitzen von Grünen und FDP Mitte Oktober | |
| Das Sondierungspapier von SPD, Grünen, FDP ist immerhin 12 Seiten stark. | |
| Und es enthält einen expliziten Punkt zu „Freiheit und Sicherheit, | |
| Gleichstellung und Vielfalt in der modernen Demokratie“. Zur Stärkung der | |
| demokratischen [1][Partizipation] jenseits von Wahlen findet sich dort aber | |
| … nichts. Dafür die unschöne Stilblüte, dass man, natürlich „entschloss… | |
| gegen jede „Form von Menschenfeindlichkeit“ vorgehen will, wobei sich in | |
| der beispielhaften Aufzählung neben „Antisemitismus, Rassismus“ etc. auch | |
| der „Linksextremismus“ wiederfindet, pikanterweise direkt vor | |
| „Queer-Feindlichkeit“. Dabei dachte man eigentlich, dass die simple | |
| Gleichsetzung Rot gleich Braun nun wirklich intellektuell überholt sei und | |
| dies wenigstens bei den Grünen auch angekommen wäre. | |
| Inhaltlich gibt es zu den formellen Grundlagen der Demokratie nur diese | |
| konkreten Aussagen im Sondierungspapier: „Wir wollen das Wahlrecht | |
| überarbeiten, um nachhaltig das Anwachsen des Deutschen Bundestages zu | |
| verhindern. Das Wahlalter für die Wahlen zum Deutschen Bundestag und | |
| Europäischen Parlament wollen wir auf 16 Jahre senken.“ | |
| Das sind sicher ehrenwerte Vorhaben. Aber was ist mit einer stärkeren | |
| BürgerInnenbeteiligung zwischen den gelegentlichen Akten des Ankreuzens in | |
| der Wahlkabine oder auf Briefwahlleporellos? Nur im Anfangsteil, nicht etwa | |
| zu „Demokratie“, sondern zum „Modernen Staat“ liest man vorher ganz | |
| allgemein: „Wir wollen die Entscheidungsfindung verbessern, indem wir neue | |
| Formen des Bürgerdialogs, wie etwa [2][Bürgerräte] nutzen, ohne das Prinzip | |
| der Repräsentation aufzugeben.“ | |
| Diese Einschränkung, bloß nicht das Prinzip der Repräsentation aufzugeben, | |
| ist wirklich auffällig. Denn eigentlich haben alle drei beteiligten | |
| Parteien zu [3][BürgerInnenräten] in den Wahlprogrammen stärkere positive | |
| Signale gesetzt, so dass man hier mehr erwarten durfte. Und wohin eine | |
| Pseudolösung führt, die ein öffentlich viel geäußertes Anliegen zwar | |
| scheinbar aufgreift, es aber zugleich so entschärft, dass am Schluss | |
| garantiert nichts die Ruhe Störendes herauskommt, lässt sich am letzten | |
| Bundestag beobachten. | |
| Auch der hatte schon einmal ein „Modellprojekt Bürgerrat“ gestartet. Und | |
| damit der bloß nicht aus dem Ruder läuft, ihm das schöne Besinnungsthema | |
| verpasst: „Deutschlands Rolle in der Welt“. Das erinnert doch sehr an eine | |
| Schülervertretung, die gern mit so ungemein wichtigen Aufgaben betraut | |
| wird, wie auf ein Angebot an Hafermilch im Schulkiosk zu achten. | |
| ## Die Bevölkerung hat höhere Ansprüche als früher | |
| Es wäre mehr als angebracht, wenn aus dieser selbsternannten Reform- und | |
| Fortschrittskoalition auch in Bezug auf die demokratische Partizipation | |
| etwas Vorzeigbares und Verbindliches folgen würde. Oder sind die | |
| Verhandlungspartner der gleichen Meinung wie alle Parlamentsmehrheiten der | |
| letzten Jahrzehnte? Demokratie, ja bitte – aber zwischen Wahlterminen stört | |
| das Volk beim Regieren? | |
| Dabei würde die Chance vergeben, umstrittene politische Streitthemen aus | |
| dem normalen, parteipolitisch gefärbten Diskurs zu lösen und sie einer | |
| anderen demokratischen Institution mit (nach aller Erfahrung schnell | |
| aufgebauter) großer Legitimität anzuvertrauen. Denn die | |
| Problemlösungskapazität von Parlamenten scheint zunehmend schon dadurch | |
| eingeengt zu werden, dass sich die Parteienlandschaft ausdifferenziert und | |
| zur Regierungsbildung Koalitionen aus mehreren Gruppierungen gebildet | |
| werden müssen, die oft wenig Inhaltliches verbindet. Parallel hat die | |
| Bevölkerung aber höhere Ansprüche an politische Konsistenz entwickelt – ein | |
| Nebenprodukt steigender Bildung. | |
| Ein europäisches Vorbild dafür, wie man die Institution BürgerInnenrat | |
| produktiv für politische Lösungen nutzt, ist die Republik Irland. Dort | |
| wurden selbst extrem umstrittene Fragen wie der Umgang mit Abtreibungen | |
| durch eine ausgeloste Citizens’ Assembly konstruktiv und unter großer | |
| Beteiligung der Öffentlichkeit diskutiert. Ein folgendes Referendum für | |
| eine recht liberale Regelung wurde im früher erzkatholischen Land mit | |
| relativ großer Mehrheit angenommen. | |
| Für Deutschland gäbe es ein Thema, das gut als Probebühne für spätere | |
| weitreichendere und tiefgehendere Fragen dienen könnte: Tempobeschränkung | |
| auf allen Autobahnen in Deutschland. Hier können sich die Ampelpartner | |
| bekanntlich nicht einigen, obwohl es eine gesellschaftlich heiß diskutierte | |
| Frage mit hohem Symbolwert ist. Wenn sich Politik bei einem solchen Thema | |
| wenig handlungsfähig zeigt, dürfte die Zivilgesellschaft dagegen ziemlich | |
| sicher in der Lage sein, einen Vorschlag zu erarbeiten, der überzeugt. | |
| Eine generelle Tempobeschränkung auf den Autobahnen und wenn ja, in welcher | |
| Höhe, wäre auch eine gut abgegrenzte Problemstellung, die nach einer | |
| Debatte mit wissenschaftlicher Beratung und unter Beteiligung der | |
| Öffentlichkeit von einem BürgerInnenrat mehrheitlich beantwortet werden | |
| kann. Eine Empfehlung würde darüber hinaus so gut wie keine Kosten | |
| verursachen und verfassungsrechtlich läuft man ebenfalls keine Gefahr. | |
| Der Vorschlag sollte dann idealerweise einer Volksabstimmung unterworfen | |
| werden, so wie es in Irland und anderenorts geschah. Wenn das in dieser | |
| künftigen, nach dem ersten Eindruck eher zurückhaltenden Koalition noch | |
| nicht durchsetzbar scheint, dann sollte wenigstens der Bundestag darüber | |
| namentlich abstimmen müssen. Wobei vorher der Fraktionszwang aufzuheben | |
| wäre, die jeweilige Abstimmungsfrage also zur Gewissensfrage erklärt wird. | |
| Das ist ein akzeptiertes Verfahren bei bestimmten, ethisch aufgeladenen | |
| Themen, wäre aber als Respekt vor den Ergebnissen der Beratung einer | |
| BürgerInnenauswahl ebenso angebracht. Und dann kann die Zivilgesellschaft | |
| vor Ort auf ihre Abgeordneten zugehen und eine Begründung ihrer | |
| persönlichen Stimmabgabe einfordern. Hinter Parteibeschlüssen kann sich | |
| dann niemand mehr verstecken. | |
| 9 Nov 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Forscherin-ueber-Debattenkultur/!5764021 | |
| [2] /Beteiligung-in-Deutschland/!5759164 | |
| [3] /Buergerraete-in-Deutschland/!5749932 | |
| ## AUTOREN | |
| Gerd Grözinger | |
| Gerd Grözinger | |
| ## TAGS | |
| Partizipation | |
| Mehr Demokratie | |
| Ampel-Koalition | |
| Tempolimit | |
| GNS | |
| Schwerpunkt klimaland | |
| Ampel-Koalition | |
| Klimakonferenz in Dubai | |
| Schwerpunkt Klimawandel | |
| Schwerpunkt AfD | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Bürger:innenräte in der Klimakrise: Das Los als Lösung? | |
| Zufällig ausgewählte Menschen sollen in Freiburg und Umgebung Vorschläge | |
| für eine bessere Klimapolitik machen. Das erste Fazit fällt gemischt aus. | |
| Kommunales Wahlrecht: Unmündiger als Teenies | |
| Die Ampelkoalition will das Wahlalter auf 16 senken, doch | |
| Drittstaater*innen dürfen nicht mal kommunal wählen. | |
| Bürgerräte mischen sich ein: Minideutschland fürs Klima | |
| In Berlin hat ein Bürgerrat seine Forderungen den Koalitionären übergeben. | |
| Ziel ist es, die Erderhitzung einzudämmen. | |
| Globales Beteiligungsprojekt: Klima-Bürger:innenrat startet | |
| Zufällig ausgewählte Menschen aus aller Welt erstreiten seit Dienstag | |
| klimapolitische Einigungen. Sie sollen der Weltklimakonferenz Druck machen. | |
| Demokratieforscher über Volksparteien: „Mehrheiten sind vorzuziehen“ | |
| Parlamentarische Demokratie und Föderalismus sind in der Krise? Nicht | |
| unbedingt, sagt der Demokratieforscher Michael Koß. |