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# taz.de -- Bürgerbeteiligung in der Klimakrise: „Emotionen müssen gefühlt…
> Ist echte Bürgerbeteiligung in der Klimakrise nicht zu langsam? Jascha
> Rohr und Claudine Nierth erklären, warum sie glauben, dass es nur mit ihr
> geht.
Bild: Sind demokratische Prozesse wirklich zu langsam um wichtige Veränderunge…
wochentaz: Frau Nierth, Herr Rohr, Sie kommen beide aus der
Bürgerbeteiligung. Ihre Organisationen sind vom Bundestag damit beauftragt
worden, einen [1][Bürgerrat zum Thema „Ernährung im Wandel“] durchzuführ…
Solche Prozesse kosten viel Zeit, erst nach Monaten liegen Ergebnisse vor.
Haben wir diese Zeit noch in der eskalierenden Klimakrise?
Claudine Nierth: [2][Schon seit 40 Jahren wissen wir von der Klimakrise],
und das wenige Positive, das passiert, ist oft auf Bürgerdruck
zurückzuführen. Beteiligungsformate sind viel schneller als etwa die
Gesetzgebung im Bundestag.
Haben Sie dafür Belege?
Nierth: Für unseren Bürgerbegehrensbericht haben wir Auswertungen über
viele Jahre gemacht. Demnach haben direktdemokratische Verfahren in den
letzten 10 Jahren mehrheitlich zur Beschleunigung von Klimaschutz geführt.
Besonders Bürgerbegehren und Bürgerräte.
Bundesweit gab es seit 2019 sieben Bürgerräte zu unterschiedlichen Themen.
2021 auch zum Thema Klima. Wie funktionieren sie?
Nierth: Man muss sie sich vorstellen wie Mini-Republiken. Sie stellen einen
Querschnitt der Bevölkerung dar, weil die Beteiligten nach Alter,
Geschlecht, Herkunft, Bildungsgrad repräsentativ ausgelost wurden. Beim
Bürgerrat Ernährung kam noch das Kriterium Ernährungsweise hinzu: vegan,
vegetarisch oder fleischessend. Bürgerräte müssen keine Rücksicht auf
Fraktionszwänge nehmen. Die Menschen reden miteinander und nicht
gegeneinander, weil sie anders als die Parteien nicht in Konkurrenz
zueinander stehen. Das macht den Fokus auf Lösungen viel einfacher. [3][Das
gilt übrigens auch im Kommunalen]. Wir haben im Rahmen eines Projektes auch
10 Kommunen mit Bürgerräten und Bürgerbeteiligung begleitet.
Jascha Rohr: Gerade beim Thema Klima wird Bürgerbeteiligung mit Sicherheit
noch exponentiell zunehmen.
Wie kommen Sie darauf?
Rohr: Weil Klimawandel gar nicht ohne Beteiligung geht. Wir brauchen
positive gesellschaftliche Kipppunkte, an denen sich Veränderung
beschleunigt. Diese Entwicklung nenne ich „Große Kokreation“.
So heißt auch Ihr Buch. Was ist das?
Rohr: Eine Phase, in der wir aktiv miteinander die ökosoziale
Transformation gestalten. Wir diskutieren dann nicht mehr über das Ob,
Warum oder Wann, sondern das Wie.
Klingt schön, aber weit weg.
Wir haben schon begonnen: Positive Kipppunkte erleben wir gerade zum
Beispiel schon bei der Elektromobilität. Die wurde lange blockiert und
verlacht, jetzt wird es erfolgversprechender, im neuen System mitzuspielen
als im alten. Das führt zu einer exponentiellen Annahme des Neuen.
Letztlich muss dieses Neue eine Gesellschaft und Wirtschaft innerhalb
planetarer Grenzen sein.
Leider sind wir aktuell noch nicht in der Großen Kokreation, sondern eher
im großen Chaos. Claudine Nierth, Ihr Buch heißt „Die zerrissene
Gesellschaft“. Was ist hier zerrissen?
Nierth: Unser Gemeinschaftsgefüge ist zerrissen, weil wir gerne andere zu
Anderen machen und sie abwerten. Frauen werden als weniger wert definiert,
Menschen mit anderer Religion, queere Menschen und so weiter. Dieses
Othering zerreißt Verbindungen zwischen Menschen. Sogar so weit, dass wir
auch die Demokratie mit ihnen nicht mehr teilen wollen. Laut Umfragen hat
nur noch jeder Zweite in Deutschland Vertrauen in die Demokratie. Das ist
ein Misstrauensvotum an die anderen. Dazu kommen Effekte wie der
Bestätigungsfehler.
… Die Psychologie beschreibt als Bestätigungsfehler, wenn wir aus
Informationen vor allem das herauslesen, was die eigene politische
Überzeugung und die eigene Gruppe bestätigt.
Nierth: Ja, je intelligenter die Menschen sind, desto mehr neigen sie sogar
dazu. Für eine US-Studie wurden einer Gruppe zwei gleiche Rechenaufgaben
vorgelegt. Bei der ersten ging es um eine Hautcreme, bei der zweiten um
Waffenbesitz, also ein hochemotionales politisches Thema. Je besser die
Teilnehmenden in Mathe waren, desto mehr verrechneten sie sich bei der
zweiten Aufgabe zugunsten ihrer eigenen politischen Überzeugung.
Überzeugungen schlagen Fakten und Vernunft k. o. Und wir merken es nicht
mal.
Was hat das mit der Klimakrise zu tun?
Nierth: Der Klimaaktivist Sven Hillenkamp sagt sinngemäß, dass die erste
Grundannahme politischer Praxis lauten sollte: Jedes Lager liegt in
wesentlichen Punkten falsch. Wir nehmen Nachrichten sehr selektiv wahr und
sortieren sie nach unserer Grundüberzeugung. Und wir ändern unsere Meinung
nur sehr ungern. Wir schaffen es nur, wenn uns ein Gegenüber überzeugt, von
dem wir viel halten. Deswegen sind gerade in Diskussionen um die Klimakrise
die Gespräche mit Menschen um uns herum so wichtig, zu denen wir ein
Vertrauensverhältnis haben, die aber anders denken.
Frau Nierth, Sie wünschen sich in Ihrem Buch eine „Demokratie der
Zuneigung“. Welchen Platz haben Gefühle in der Politik?
Nierth: Ich finde, wir brauchen eine mitfühlende Demokratie und eine
mitfühlende Regierung. Die Krux ist doch, dass Emotionen mit sachlichen
Argumenten bearbeitet werden. Das funktioniert aber nicht. Emotionen müssen
gefühlt werden. Dann ist auch Platz für Argumente. Als Verein Mehr
Demokratie sprechen wir ständig mit der Politik. Und hinter verschlossenen
Türen hören wir von Verzweiflung und Überforderung. Aber das wird nie
öffentlich gesagt. Umgekehrt habe ich gerade wochenlang auf
schleswig-holsteinischen Straßen Unterschriften für eine Initiative
gesammelt und die Verzweiflung und Überforderung der Menschen gehört. So
kommt aber keine Seite zur anderen.
Rohr: Ich stelle mir die Frage, wie wir unser gesellschaftliches
Nervensystem regulieren können, damit mehr Sicherheit und Zuversicht
entsteht. Derzeit scheinen Politik und Gesellschaft in einem Modus zu sein,
in dem wir entweder komplett dichtmachen oder überreagieren und auf Angriff
schalten. Für eine Demokratie ist das gefährlich.
Frau Nierth, Sie sagen, die Grundlage der mitfühlenden Demokratie sei es,
andere mit ihren Gefühlen zu respektieren. Bleiben Sie dabei, wenn Sie
einem aggressiven AfD-Fan gegenüberstehen?
Nierth: Moment, Kontakt heißt nicht Zustimmung! Sich voneinander abzuwenden
ist keine Lösung. Demokratie der Zuneigung heißt vor allem: dableiben, wenn
es eng und schwierig wird. Und ein Interesse dafür entwickeln, warum die
Dinge so sind, wie sie sind. Der Erfolg von Rechtspopulisten basiert gerade
auf Ängsten. Diese müssen bewusst miteinbezogen werden, wenn wir sie
überwinden wollen. Nach unseren Erfahrungen tritt in gelosten Bürgerräten
politische Herkunft in den Hintergrund. Die Menschen reden miteinander. Am
Ende steht das gemeinsame Ergebnis. Diese Qualität wünsche ich mir auch im
Bundestag.
Was könnte das heißen?
Nierth: Wie sähen Diskussionen ohne Fraktionszwang aus, in denen 736
Abgeordnete in Gruppen zusammenarbeiten und etwa Eckpunkte für Gesetze
festlegen? Ich hätte Lust, das als Verfahren mal zu testen und zu
evaluieren.
Es gibt die These, [4][die deutsche Bevölkerung zeige vor lauter Krisen
Überforderungssymptome ähnlich einer Posttraumatischen Belastungsstörung].
Millionen fühlen sich erschöpft. Was kann man dagegen tun?
Nierth: Sichere Räume schaffen. Wir können davon ausgehen, dass die
aktuellen Krisen auch vererbte Traumata unserer Eltern und Großeltern
reaktivieren, das führt dann zu einer kollektiv gestressten und wenig
belastbaren Gesellschaft.
Brauchen wir also eine Gruppentherapie?
Nierth: In gewissem Sinne ja. Wir haben 2022 einen Forschungsprozess zu
Trauma und Demokratie mit 350 Menschen durchgeführt. Wir wollten
herausbekommen, was es bewirkt, wenn Menschen kollektive Traumata mit einer
großen Gruppe thematisieren. Die Teilnehmenden haben ihre Geschichten
geteilt, die anderen zugehört. Solche Prozesse stärken das Gefühl,
zusammenzugehören, und wirken der Polarisierung entgegen. Innerlich stabil
zu sein ist keine private Aufgabe, sondern eine politische.
Rohr: Es gibt viele internationale Ansätze, mit gesellschaftlichen Traumata
zu arbeiten. So gab es nach dem Attentat des Rechtsradikalen Breivik in
Norwegen einen großen gesellschaftlichen Aufarbeitungsprozess. In Guatemala
wurde 20 Jahre nach dem Ende des Bürgerkriegs ein umfassendes
Versöhnungsprogramm durchgeführt. Ich sehe unsere Aufgabe jetzt darin,
solche Arbeit an Spaltungen mit Zukunftsaufgaben zusammenzubringen.
Laut Ihrem Buch, Frau Nierth, gab es um 1900 in Skandinavien die
Möglichkeit, für drei bis sechs Monate eine Auszeit in einem Retreat-Center
zu nehmen.
Nierth: Ja, das ist eine unglaubliche, wenig bekannte Geschichte. In
Schweden, Norwegen und Dänemark herrschte damals eine autoritäre bäuerliche
Struktur. Bis zu 10 Prozent der Menschen nutzten dieses Angebot, bildeten
sich gemeinsam über humanistische Klassiker wie Goethe und Humboldt weiter.
Sie fanden neue Orientierung. Die Demokratie etablierte sich. Das war
vielleicht entscheidend, dass diese Länder heute zu den glücklichsten der
Welt gehören. Diese Institutionen existieren immer noch, wurden aber nach
dem Zweiten Weltkrieg zu einfachen Volkshochschulen eingedampft.
Aus den geballten Krisen der Gegenwart hinaus: Blicken Sie optimistisch
oder pessimistisch in die Zukunft?
Nierth: Ich bin optimistisch. Krisen entstehen dann, wenn ein nächster
Entwicklungsschritt ansteht, er aber nicht vollzogen wird.
Das klingt, als würden Sie Krisen gutheißen.
Nierth: Nein, Krisen künden nur etwas an. Aber je mehr man an etwas Altem
festhalten will, desto stärker drückt die Evolution, also die nötige
Veränderung, dagegen. Das merken wir jetzt an der Klimakrise. Aber das
kennen wir auch aus dem eigenen Leben.
Rohr: Ich bin kurzfristig pessimistisch und langfristig optimistisch. Ich
glaube, dass nach dieser Phase multipler Krisen eine neue Phase der
globalen Zusammenarbeit in ganz neuer Form kommt. Partizipative Formate
sind eine Vorbereitung darauf. Ich glaube sogar, dass wir uns auf diese
Zeit freuen dürfen.
20 Dec 2023
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## AUTOREN
Ute Scheub
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