# taz.de -- Barrierefreies Wohnen in Berlin: Vermieter klagt gegen Inklusion | |
> Ohne Rampe kann Nikola Arsic das Haus, in dem er lebt, nicht alleine | |
> betreten – er ist Rollstuhlfahrer. Doch die Gewobag sträubt sich gegen | |
> den Umbau. | |
Bild: Nikola Arsic und sein Mann Dennis Kuhlow im Eingangsbereich ihres Hauses … | |
Berlin taz | Man könnte meinen, es sei ganz einfach: Wenn ein Mensch mit | |
Rollstuhl in ein Haus einzieht, muss der Vermieter dafür sorgen, dass er | |
das Haus auch betreten kann – etwa indem eine Rampe installiert wird. | |
Schließlich gibt es die 2008 von Deutschland ratifizierte | |
UN-Behindertenrechtskonvention, wo es unter anderem heißt: Die | |
Unterzeichnerstaaten müssen „gewährleisten, dass Menschen mit Behinderungen | |
gleichberechtigt die Möglichkeit haben, ihren Aufenthaltsort zu wählen und | |
zu entscheiden, wo und mit wem sie leben.“ | |
Der Satz klingt schön, lässt aber vieles offen. Zum Beispiel, wer | |
„gewährleisten“ muss und was das genau bedeutet. Dass schöne Sätze allein | |
keinen Sommer machen, erfahren gerade Dennis Kuhlow und sein Ehemann Nikola | |
Arsic, der im November 2020 bei Kuhlow im 10. Stock eines | |
70er-Jahre-Wohnblocks in Kreuzberg einzog. Der 32-jährige Arsic ist auf | |
einen Rollstuhl angewiesen. Aus diesem Grund bemüht sich das Paar seit dem | |
Einzug des Serben um den Einbau einer Rampe, denn der Hauseingang ist | |
bislang nur über sechs Stufen zu erreichen. Infolgedessen kann Arsic das | |
Haus nur mit Hilfe seines Ehemanns – oder von herbei gerufenen Nachbarn – | |
betreten und verlassen. | |
Doch der Versuch Abhilfe zu schaffen scheiterte bislang am Vermieter – und | |
der ist nicht irgendeiner sondern die landeseigene Wohnungsbaugesellschaft | |
Gewobag. Erst reagierte man über Monate gar nicht auf Kuhlows Briefe, dann | |
lehnte man den Bau einer Rampe mit immer neuen Begründungen – zu teuer, zu | |
gefährlich, unnötig – ab, wie der Schriftverkehr zwischen den Beteiligten | |
zeigt, der der taz vorliegt. | |
Schließlich wurde es Kuhlow zu bunt und er reichte Klage ein nach Paragraf | |
554 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB). Dort heißt es in Absatz 1: „Der Mieter | |
kann verlangen, dass ihm der Vermieter bauliche Veränderungen der Mietsache | |
erlaubt, die dem Gebrauch durch Menschen mit Behinderungen (…) dienen.“ | |
## Konzern geht in Berufung | |
Tatsächlich verurteilte das Amtsgericht die Gewobag im März, den Einbau | |
einer Rampe vor dem Haus zu gestatten. Doch die will immer noch nicht. Der | |
Konzern, der mit dem Slogan „Die ganze Vielfalt Berlins“ wirbt und über | |
72.000 Wohnungen in der Stadt sein eigen nennt, geht in Berufung. | |
Warum wehrt sich ein landeseigenes Unternehmen mit Händen und Füßen gegen | |
eine Maßnahme, die politisch erwünscht und notwendig ist und offenkundig | |
nur Vorteile für alle bringt? „Wir bitten um Verständnis, dass wir uns zu | |
dem laufenden Gerichtsverfahren derzeit nicht näher äußern“, erklärt die | |
stellvertretende Pressesprecherin auf taz-Anfrage. | |
Die Gründe, die das Unternehmen bislang vorbrachte, sind wenig überzeugend. | |
So hieß es im ersten Schreiben, „wirtschaftliche Gesichtspunkte“ sprächen | |
gegen eine Rampe, zudem fordere sonst niemand im Haus eine solche (als ob | |
das nötig wäre) – und die Wohnungen würden dadurch auch nicht barrierefrei. | |
Letzteres stimmt insofern, als die Atelierwohnung mit Blick über halb | |
Berlin keine „behindertengerechten“ Türstürze oder Badinstallationen hat … | |
doch der sportliche Arsic kommt mit seinem wendigen Rollstuhl gut zurecht. | |
Außerdem sei es nicht Sache seines Vermieters darüber zu entscheiden, wo er | |
wohnen kann, findet er – „das weiß ich schon am besten“. | |
## Alles schon organisiert | |
Das Geld-Argument zieht ebenfalls nicht, denn die Gewobag müsste die Rampe | |
nicht einmal bezahlen: Arsics umtriebiger Mann, der als Co-Geschäftsführer | |
die Kneipe „Südblock“ am Kotti mit aufzog, konnte erreichen, dass das | |
Sozialamt Friedrichshain-Kreuzberg seine Unterstützung zusagt, die Kosten | |
belaufen sich auf rund 25.000 Euro. Arsic, von Beruf Architekt, entwarf | |
zudem selbst den Bauplan nach DIN-Norm, den ein anderer Architekt prüfte | |
und für sicher, sinnvoll und die beste Lösung erklärte. | |
All dies überzeugte das Gericht, wie in der Urteilsbegründung nachzulesen | |
ist. Ebenso Arsics in der Verhandlung vorgebrachte Schilderung, warum für | |
ihn eine Rampe besser sei als ein elektrischer Lift – den die Gewobag kurz | |
vor Prozessbeginn als Kompromissangebot ins Spiel gebracht hatte. „Eine | |
Rampe ist praktisch wartungsfrei, ein Lift geht andauernd kaputt“, sagt | |
Arsic. | |
Im schriftlichen Urteil heißt es dazu: „Diese Einschätzung deckt sich auch | |
mit der Erfahrung des Gerichts, wobei exemplarisch der Treppenlift an der | |
Rückseite des Gerichtsgebäudes benannt werden kann, der bereits seit | |
mehreren Monaten defekt ist.“ Überzeugend fanden die Richter auch Arsics | |
Schilderung, dass eine Rampe für ihn eine „erhebliche Zeiteinsparung“ | |
bedeute: Mit Lift dauere es 4 bis 6 Minuten das Haus zu betreten oder zu | |
verlassen – mit Rampe nur wenige Sekunden. | |
Die Argumente der Gewobag fanden dagegen kein Gehör: Eine Rampe sei kein | |
„erheblicher Eingriff in die Bausubstanz“, heißt es im Urteil – im | |
Gegenteil stelle sie sogar eine „dauerhafte Wertverbesserung“ dar. Sie | |
verkleinere auch nicht die Feuerwehrzufahrt oder den Bürgersteig, da sie | |
nach Arsics Bauplan durch einen Grünstreifen führen soll. Nicht ersichtlich | |
sei zudem, weshalb die Rampe die Unfallgefahr erhöhen soll – schließlich | |
entspreche sie den DIN-Normen für barrierefreies Bauen. „Unsubstantiiert“, | |
so die Richter, sei zudem der „Vortrag der Beklagten, dass eine Rampe zu | |
einer Erhöhung der Prämie der Gebäudehaftpflichtversicherung oder der | |
Kosten für den Winterdienst führen könnte“. | |
## Zu lasche Gesetze | |
Dass Vermieter sich mit allen mögliche Argumenten gegen die barrierefreie | |
Umgestaltung von Wohnraum wehren, hat die Landesbeauftragte für Menschen | |
mit Behinderungen, Christine Braunert-Rümenapf, schon oft erlebt. „Manche | |
Hausverwaltungen sind sehr entgegenkommend, aber öfter wehren sie sich | |
leider gegen Umbauten mit Händen und Füßen“, sagte sie der taz. | |
Dem sei kaum beizukommen, „denn die gesetzlichen Vorgaben sind zu schwach“, | |
vor allem weil es keine Verpflichtung für private Wohneigentümer gibt, | |
ihren Bestand barrierefrei zu gestalten. Nur beim Neubau gibt es die | |
Vorgabe, dass Gebäude mit Aufzug (also ab 5 Stockwerken) zu 50 Prozent | |
barrierefreie Wohnungen haben müssen. Auch die Kostenfrage sei | |
„kompliziert“, erklärt Braunert-Rümenapf: Grundsätzlich müssten sich | |
Betroffene selber kümmern, etwa um einen Zuschuss über das | |
Sozialgesetzbuch. | |
Wie vielen Menschen in Berlin es wie Arsic geht, dass sie in Wohnungen | |
leben, die sie durch Barrieren einschränken, kann die | |
Behindertenbeauftragte nicht sagen: „Wir wissen zu wenig über den | |
Wohnungsbestand.“ Das werde sich aber bald ändern, hofft sie: Im Zensus | |
werde erstmals die Barrierefreiheit beim Wohnraum abgefragt. | |
Auch Remzi Uyguner von der Berliner Fachstelle gegen Diskriminierung auf | |
dem Wohnungsmarkt „Fairmieten-Fairwohnen“ sagt, Menschen mit Behinderung | |
seien „sehr oft“ institutioneller Diskriminierung ausgesetzt. Dass sich | |
dabei ausgerechnet die Gewobag hervortut, sei besonders ärgerlich. Der | |
Aufsichtsrat müsse die Entscheidung in Berufung zu gehen revidieren, | |
fordert er. „Als landeseigenes Wohnungsunternehmen ist die Gewobag | |
angehalten, den strukturell besonders benachteiligten Gruppen beizustehen.“ | |
## LADG hilft auch nicht | |
„Zwingen“ kann man ein landeseigenes Unternehmen dazu offenbar nicht – au… | |
nicht mit dem Landesantidiskriminierungsgesetz (LADG). Das neue Gesetz | |
verbietet der Berliner Verwaltung sowie öffentlich-rechtlichen | |
Körperschaften, Anstalten und Stiftungen des Landes, Menschen zu | |
diskriminieren, etwa aufgrund einer Behinderung. | |
Für „privatrechtlich geführte Beteiligungsunternehmen des Landes Berlin“ | |
wie die Gewobag gelte das Gesetz jedoch nur mittelbar, erklärt die Leiterin | |
der Ombudsstelle, Doris Liebscher. Sprich: Hier müsse Berlin zum Beispiel | |
über den Aufsichtsrat sicherstellen, dass die Landesunternehmen das Gesetz | |
anwenden. Einen individuellen Rechtsanspruch gegen die Gewobag hätten | |
Bürger dagegen nicht aus dem LADG, es verpflichte die Gewobag auch nicht | |
direkt, mit der LADG-Ombudsstelle zusammenzuarbeiten, wenn diese dennoch | |
eine Diskriminierung feststellt. | |
„Deshalb“, sagt Liebscher, „haben wir mit der Senatsverwaltung für Bauen | |
und Wohnen (SenSBW) und den Wohnungsbauunternehmen eine Vereinbarung | |
getroffen, dass Beschwerden der Ombudsstelle beantwortet werden“. Das | |
klappe grundsätzlich auch gut. | |
Im Fall Kuhlow/Arsic-Gewobag hatte die Ombudsstelle die zuständige | |
Senatsverwaltung um Stellungnahme gebeten. Die damalige Staatssekretärin | |
für Stadtentwicklung und Wohnen, Wenke Christoph (Linke), antwortete im | |
August 2021 jedoch mit einem Schreiben, dass Sichtweise und Argumente der | |
Gewobag 1:1 wiedergibt. „Wir sind nicht einmal befragt worden“, beschwert | |
sich Kuhlow. | |
Dass die Politik hier so wenig machen kann oder will, mag Kuhlow und Arsic | |
nicht in den Kopf. „Es kann doch nicht sein, dass keiner einen Hebel hat, | |
um die Gewobag zu einer anderen Haltung zu zwingen“, sagt der 46-jährige | |
Kuhlow, den der lange Kampf immer zorniger macht. Dass der Konzern | |
tatsächlich in Berufung gehen will, „offenbart eine klar | |
behindertenfeindliche Haltung“. | |
20 May 2022 | |
## AUTOREN | |
Susanne Memarnia | |
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